Das soziale Gehirn: Definition, Entwicklung und Bedeutung für das menschliche Zusammenleben

Der Mensch ist unbestreitbar ein soziales Wesen. Schon Aristoteles bezeichnete ihn vor rund 2000 Jahren als „zoon politikon“, ein auf Gemeinschaft ausgerichtetes Lebewesen. Dieses Bedürfnis nach Gemeinschaft ist tief in unserer Biologie verwurzelt und wird maßgeblich von unserem Gehirn gesteuert. Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte im Verständnis der neuronalen Grundlagen unseres Sozialverhaltens gemacht und den Begriff des "sozialen Gehirns" geprägt.

Was ist das soziale Gehirn?

Das soziale Gehirn ist kein einzelnes Organ oder eine spezifische Hirnregion, sondern ein Netzwerk von miteinander verbundenen Hirnarealen, die für die Verarbeitung sozialer Informationen und die Steuerung unseres Sozialverhaltens verantwortlich sind. Diese Areale ermöglichen es uns, uns in andere hineinzuversetzen, Emotionen zu erkennen, Beziehungen aufzubauen und in sozialen Gruppen zu interagieren. Neurowissenschaftler sprechen vom sozialen Gehirn und meinen damit spezifische Gruppen von Arealen, die für die Einbettung des Menschen in die Gesellschaft, für Mitgefühl, Schuld und Scham verantwortlich sind.

Zu den wichtigsten Arealen des sozialen Gehirns gehören:

  • Präfrontaler Cortex: Dieser Bereich des Stirnhirns ist entscheidend für höhere kognitive Funktionen wie Entscheidungsfindung, Planung und soziale Kognition. Er ermöglicht es uns, Kompromisse zu finden, Verhandlungen zu führen und andere komplexe Handlungen zur Aufrechterhaltung unserer Beziehungen auszuführen. Das Volumen des präfrontalen Cortex korreliert mit dem Ausmaß und der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen.
  • Amygdala: Die Amygdala ist ein Teil des limbischen Systems und spielt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen, insbesondere Angst und Furcht. Sie ist wichtig für die Bewertung sozialer Situationen und die Erkennung von Bedrohungen. Vor allem die Amygdala ist zuständig für den Wunsch nach Nähe. Sie hat eine enge Verbindung mit dem Hypothalamus, welcher zuständig ist für die Hormone Oxytocin und Vasopressin.
  • Gyrus fusiformis: Dieser Bereich des Temporallappens ist spezialisiert auf die Verarbeitung von Gesichtern und ermöglicht es uns, Gesichter zu erkennen und zu identifizieren. Aufgrund einer Atrophie des Gyrus fusiformis konnte eine Person für lange Zeit keine Gesichter mehr erkennen, aber mittlerweile langsam seine Fähigkeit zurückgewinnt, Gesichter zu erkennen.
  • Superiorer temporaler Sulcus (STS): Der STS ist an der Verarbeitung von sozialen Signalen wie Blickrichtung, Bewegung und Sprache beteiligt. Er hilft uns, die Absichten und Emotionen anderer zu verstehen. Die auditive Domäne hilft ebenfalls beim Verstehen Anderer und ihrer Emotionen, indem sie verbale und nonverbale Kommunikation aufnimmt und verarbeitet. Hierbei wird besonders der auditorische superiore temporale Kortex sowie die Amygdala aktiviert.
  • Spiegelneuronen: Diese speziellen Nervenzellen wurden zufällig von Forschern um Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma entdeckt. Sie feuern sowohl, wenn wir eine Handlung selbst ausführen, als auch wenn wir beobachten, wie jemand anderes diese Handlung ausführt. Die Spiegelneuronen ermöglichen es, zu imitieren, zu lernen, uns in andere hineinzuversetzen und miteinander zu kommunizieren. Sie sind aber auch die kognitive Grundlage für Mitgefühl und damit für das soziale Miteinander. Spiegelneuronen finden sich unter anderem im prämotorischen Kortex, einem Teil der Großhirnrinde, der bei der Bewegungssteuerung eine Rolle spielt, und in dem für Sprache zuständigen Broca-Areal.

Die Entwicklung des sozialen Gehirns

Die Entwicklung des sozialen Gehirns beginnt bereits im Mutterleib und setzt sich während der gesamten Kindheit und Jugend fort. Die vorgeburtliche Phase und die frühen Lebensjahre sind besonders prägend für die Ausbildung sozialer Kompetenzen.

Genetische Grundlagen und Umwelteinflüsse

Die Entwicklung des sozialen Gehirns folgt zunächst einem genetischen Plan, der uns gewisse Neigungen mitgibt. Zum Beispiel ist es in uns angelegt, dass wir motiviert sind, uns auf andere Menschen einzulassen und in sie hineinzuversetzen, Empathie zu empfinden und überhaupt Bindung zu suchen. Unsere Gene steuern die Hirnentwicklung so, dass unser Gehirn darauf vorbereitet ist, diese Fähigkeiten zu erwerben.

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Allerdings spielen auch Umwelteinflüsse eine entscheidende Rolle. Insbesondere die Erfahrungen, die wir in unseren frühen Beziehungen machen, prägen die Entwicklung unseres sozialen Gehirns nachhaltig. Die Art und Weise, wie Eltern und andere Bezugspersonen auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, beeinflusst die Ausbildung von Empathie, Vertrauen und anderen sozialen Kompetenzen. Die elterliche Feinfühligkeit hat dabei eine entscheidende Wirkung. Je feinfühliger die Bezugspersonen die Bedürfnisse eines Kindes erkennen und darauf eingehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Kind ebenfalls mitfühlend wird.

Neuroplastizität und soziale Erfahrungen

Das Gehirn ist in der Lage, sich selbst zu reorganisieren und sich flexibel an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen. Diese Fähigkeit, die als Neuroplastizität bezeichnet wird, ist die Grundlage für Lern- und Gedächtnisprozesse und spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des sozialen Gehirns.

Soziale Erfahrungen können die Struktur und Funktion des Gehirns verändern. Ein Umfeld, in dem es zu Missbrauch oder Vernachlässigung kommt, kann die kognitive Entwicklung, die Selbstwahrnehmung und die exekutiven Gehirnfunktionen beeinträchtigen. Neurophysiologische Veränderungen beeinflussen die Emotionsregulation, führen zu erhöhten Angstreaktionen und stören den Aufbau emotionaler Bindungen zu Bezugspersonen. Neuroplastische Veränderungen wirken auf neurobiologische und biochemische Prozesse und führen dazu, dass misshandelte Personen die Welt emotional anders erleben, weil es zu Fehlbewertungen sozialer Signale kommen kann.

Transgenerationale Weitergabe von Traumata

Traumatische Erfahrungen können nicht nur die betroffene Person, sondern auch nachfolgende Generationen beeinflussen. Dieses Phänomen, das als „transgenerationales Trauma“ bezeichnet wird, wurde für Kinder und Enkelkinder von Holocaust-Überlebenden, von Überlebenden des Genozids an indigenen Ureinwohnern oder auch von Nachkommen ehemaliger Sklaven beschrieben. Neurophysiologische Veränderungen beschränken sich nicht auf die traumatisierte Person, sondern werden durch soziale Nischenbildung an nachfolgende Generationen weitergegeben.

Die Rolle von Kitas und Gleichaltrigen

Kitas und andere Betreuungseinrichtungen spielen eine wichtige Rolle bei der Förderung sozialer Kompetenzen. Kinder lernen im Spiel mit Gleichaltrigen, ihre Gefühle zu regulieren, zu kooperieren und Kompromisse zu schließen. Gerade die Emotionsregulation spielt dabei eine große Rolle. Gefühle wie zum Beispiel Wut oder große Angst auszuhalten, ist nicht leicht, das gelingt nicht auf Anhieb. Im Spiel erleben Kinder diese Gefühle in einem Kontext, der ihnen Spaß macht. Sie raufen, sie klettern, sie spielen Verstecken und gehen dabei ganz natürlich mit solchen Gefühlen um.

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Allerdings können große Gruppen und ein ungünstiger Betreuungsschlüssel ein Problem sein. Wenn ein Kind in der Kita keine Bindungsperson hat, die in der Lage ist, zuverlässig und feinfühlig auf das Kind einzugehen und es zu regulieren, dann erlebt das Kind Stress im Alltag.

Die Bedeutung des sozialen Gehirns für das menschliche Zusammenleben

Das soziale Gehirn ist essenziell für unser Zusammenleben in der Gesellschaft. Es ermöglicht uns, Beziehungen aufzubauen, zu kooperieren, Konflikte zu lösen und eine Kultur zu entwickeln. Ohne ein funktionierendes soziales Gehirn wäre menschliche Gesellschaft nicht möglich.

Empathie und Mitgefühl

Empathie, die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu erkennen und zu verstehen, ist eine zentrale Funktion des sozialen Gehirns. Durch Empathie können wir uns in andere hineinversetzen, ihre Perspektive einnehmen und ihre Bedürfnisse erkennen. Dies ist die Grundlage für Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und prosoziales Verhalten.

Die neuronale Grundlage dieses Systems ist die Aktivierung der Spiegelneurone. Diese haben die Eigenschaft, sowohl beim Beobachten einer Handlung als auch beim gleichen Handeln aktiv zu werden. Dadurch sind sie die Grundlage der Imitation. Deshalb werden sie als soziales Detektionssystem wahrgenommen. Für Empathie braucht es allerdings nicht nur eine soziale Detektion, sondern auch eine soziale Bewertung. Und als Grundlage dieser gelten der Gyrus frontalis inferior, der inferiore parietale Kortex, der posteriore STS und natürlich die Amygdala.

Soziale Beziehungen und Glück

Soziale Beziehungen sind für unser Wohlbefinden und unsere psychische Gesundheit von entscheidender Bedeutung. Studien haben gezeigt, dass Menschen mit starken sozialen Bindungen tendenziell glücklicher, gesünder und länger leben. Einsamkeit hingegen kann negative Auswirkungen auf unsere körperliche und seelische Gesundheit haben.

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Sind wir in Gesellschaft unserer Beziehungspartner, dann wird Oxytocin ausgeschüttet und wir sind glücklich. Wenn wir dann allein sind, wird Vasopressin ausgeschüttet und wir verhalten uns neidisch und aggressiv.

Soziale Kompetenzen und Erfolg

Soziale Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit und Konfliktlösungsfähigkeit sind nicht nur für unser persönliches Wohlbefinden wichtig, sondern auch für unseren beruflichen Erfolg. In vielen Berufen ist es entscheidend, gut mit anderen Menschen zusammenarbeiten und interagieren zu können.

Störungen des sozialen Gehirns

Störungen des sozialen Gehirns können zu erheblichen Beeinträchtigungen im Sozialverhalten führen. Zu den bekanntesten Störungen gehören:

  • Autismus-Spektrum-Störungen: Menschen mit Autismus haben oft Schwierigkeiten, soziale Signale zu erkennen und zu interpretieren. Ihnen fällt es schwer, sich in andere hineinzuversetzen und soziale Beziehungen aufzubauen.
  • Soziale Angststörung: Menschen mit sozialer Angststörung haben Angst vor sozialen Situationen und befürchten, sich vor anderen zu blamieren. Dies kann dazu führen, dass sie soziale Kontakte vermeiden und sich isolieren.
  • Psychopathie: Menschen mit psychopathischen Zügen zeigen oft ein geringes Einfühlungsvermögen und haben Schwierigkeiten, Schuld oder Reue zu empfinden. Sie können manipulativ und rücksichtslos sein.

Das soziale Gehirn im digitalen Zeitalter

Die zunehmende Nutzung digitaler Medien verändert die Art und Weise, wie wir miteinander interagieren und wie unser soziales Gehirn funktioniert. Soziale Netzwerke bieten uns die Möglichkeit, mit vielen Menschen in Kontakt zu treten und uns über soziale Ereignisse zu informieren. Allerdings gibt es auch Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen der digitalen Medien auf unsere sozialen Kompetenzen und unser Wohlbefinden.

Mögliche negative Auswirkungen

  • Oberflächliche Beziehungen: Die Beziehungen, die wir in sozialen Netzwerken pflegen, sind oft oberflächlicher als persönliche Beziehungen. Es fehlt die nonverbale Kommunikation und die Möglichkeit, tiefe emotionale Bindungen aufzubauen.
  • Sozialer Vergleich und Neid: Soziale Netzwerke können zu sozialem Vergleich und Neid führen. Wir sehen oft nur die positiven Seiten des Lebens anderer Menschen und fühlen uns dadurch minderwertig oder unzufrieden.
  • Suchtverhalten: Die Nutzung sozialer Netzwerke kann süchtig machen. Wir verbringen immer mehr Zeit online und vernachlässigen andere wichtige Bereiche unseres Lebens.
  • Cybermobbing: Soziale Netzwerke können auch für Cybermobbing missbraucht werden. Menschen werden online beleidigt, bedroht oder belästigt.

Mögliche positive Auswirkungen

  • Verbesserung der Kommunikation: Digitale Medien können die Kommunikation erleichtern und es uns ermöglichen, mit Menschen in Kontakt zu treten, die weit entfernt wohnen.
  • Förderung sozialer Bewegungen: Soziale Netzwerke können genutzt werden, um soziale Bewegungen zu organisieren und zu unterstützen.
  • Zugang zu Informationen: Digitale Medien bieten uns einen einfachen Zugang zu Informationen über soziale Themen und ermöglichen es uns, uns zu informieren und zu engagieren.

Medienkompetenz als Schlüssel

Um die positiven Aspekte der digitalen Medien nutzen und die negativen Auswirkungen vermeiden zu können, ist Medienkompetenz von entscheidender Bedeutung. Wir müssen lernen, kritisch mit den Inhalten umzugehen, die wir online finden, und uns bewusst machen, wie soziale Netzwerke unser Verhalten beeinflussen können.

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