Das weibliche Gehirn: Aufbau, Funktion und Unterschiede

Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte bei der Erforschung des menschlichen Gehirns gemacht. Ein besonders interessanter Forschungsbereich ist die Untersuchung von Geschlechtsunterschieden im Gehirn. Obwohl die Vorstellung von einem binären Geschlechtsmodell zunehmend in Frage gestellt wird, deuten Studien darauf hin, dass es subtile, aber dennoch signifikante Unterschiede in der Struktur und Funktion des Gehirns von Männern und Frauen gibt. Diese Unterschiede sind jedoch nicht absolut und sollten nicht dazu verwendet werden, Stereotypen zu verstärken oder Geschlechterungleichheit zu rechtfertigen.

Einführung

Das Gehirn ist ein komplexes Organ, das von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird, darunter Genetik, Hormone, Umwelt und Erfahrung. Geschlecht ist nur einer von vielen Faktoren, die die Entwicklung und Funktion des Gehirns beeinflussen können. Es ist wichtig zu betonen, dass die Unterschiede innerhalb einer Geschlechtergruppe oft größer sind als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Daher ist es irreführend, von einem "männlichen" oder "weiblichen" Gehirn zu sprechen.

Aufbau des Gehirns

Das Gehirn von Männern ist im Durchschnitt um etwa 8 bis 15 % größer als das Gehirn von Frauen. Dieser Größenunterschied bleibt auch nach Berücksichtigung der Körpergröße bestehen. Allerdings bedeutet eine größere Gehirngröße nicht unbedingt eine höhere Intelligenz oder bessere kognitive Fähigkeiten.

Graue und weiße Substanz

Studien haben gezeigt, dass es Unterschiede in der Verteilung von grauer und weißer Substanz im Gehirn von Männern und Frauen gibt. Frauen haben tendenziell mehr graue Substanz im präfrontalen Cortex, orbitofrontalen Cortex sowie in Teilen des Parietal- und Temporallappens. Männer haben dagegen mehr graue Substanz in einigen hinteren und seitlichen Arealen des Cortex, darunter auch dem primären Sehzentrum. Die Nervenzellen des weiblichen Gehirns zeigen indes eine größere Anzahl von Verbindungen.

Verbindungen zwischen den Hirnhälften

Die Verbindungen des weiblichen Gehirns verlaufen vermehrt zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte. Beim männlichen Gehirn fällt indes auf, dass die vorderen und hinteren Teile des Gehirns stärker miteinander verbunden sind. Ein klares Indiz dafür, dass Frauen besser darin sind, bei Entscheidungen sowohl analytisch (die linke Hirnhälfte) als auch intuitiv (die rechte Hirnhälfte) vorzugehen. Im Kleinhirn besitzt das männliche Gehirn mehr Verbindungen zwischen beiden Hälften. Dies spricht dafür, dass es Männern einfacher fällt, die Bewegungsabläufe komplexer Verhaltensweisen zu erlernen, beispielsweise Skifahren.

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Limbisches System und inferiorer parietaler Lobus

Das limbische System, das unter anderem für die emotionale Bewertung verantwortlich ist, ist im weiblichen Gehirn stärker ausgeprägt als im männlichen. Frauen gelten kompetenter in der emotionalen Bewertung, beispielsweise von Gesprächen. Der sogenannte inferiore parietale Lobus ist im männlichen Gehirn stärker ausgeprägt als im weiblichen. Aus früheren Studien ist wiederum bekannt, dass diese Hirnregion eine wichtige Rolle bei mathematischen Fähigkeiten spielt. Wiederum schneiden Männer in den mathematischen Teilen von IQ-Tests systematisch besser ab.

Funktionelle Unterschiede

Neben den strukturellen Unterschieden gibt es auch Hinweise auf funktionelle Unterschiede im Gehirn von Männern und Frauen.

Sprachliche und räumliche Fähigkeiten

Im Durchschnitt sind Männer besser im räumlichen Vorstellungsvermögen und Frauen sind sprachlich stärker. Dies ist jedoch meist auf mehr Übung zurückzuführen. Denn wäre die Größe des Gehirns verantwortlich für diese Unterschiede, dann müssten kleine Männer aufgrund ihres kleineren Gehirns besser sein, was sprachliche Fähigkeiten angeht.

Emotionale Verarbeitung

Frauen haben tendenziell eine stärkere Aktivierung in Hirnregionen, die mit emotionaler Verarbeitung in Verbindung stehen, wie z. B. der Amygdala. Dies könnte erklären, warum Frauen im Durchschnitt empathischer sind und Emotionen besser erkennen können.

Funktionelle Netzwerke

Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass geringfügige Abweichungen in den funktionellen Netzwerken und deren Verbindungen eine Rolle bei geschlechtsspezifischen Unterschieden spielen könnten. Unterschiede in der Gehirngröße, der Mikrostruktur und dem Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche führen nicht maßgeblich zu unterschiedlicher Funktionalität bei Männern und Frauen. Stattdessen entscheidend sein könnten kleine Geschlechtsunterschiede in der Hirnfunktion bei Verbindungen innerhalb und zwischen funktionellen Netzwerken.

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Rolle der Sexualhormone

Sexualhormone spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Funktion des Gehirns. An den Gliazellen, quasi dem Stützgerüst der Nervenzellen, sowie an den Nervenzellen selbst, befinden sich spezielle Rezeptoren. An diese können die Sexualhormone nach dem „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ andocken - allerdings nur dann, wenn Hormon und Rezeptor zueinander passen wie der Schlüssel zum Schloss. Die Hormone können somit über verschiedene molekulare Mechanismen mit den wichtigsten Zellgruppen des Gehirns interagieren. Männliche und weibliche Hormone unterscheiden sich voneinander und auch die Menge der Hormone verändert sich - bei Frauen zum Beispiel mit dem monatlichen Zyklus. Das wirkt sich offenbar auch auf die Mikrostruktur des Gehirns aus.

Einfluss auf die Mikrostruktur

Studien haben gezeigt, dass Sexualhormone die Mikrostruktur der Gehirnrinde und des Hippocampus beeinflussen können. Wie diese Unterschiede im Einzelnen aussehen, hängt jedoch davon ab, ob die Frauen hormonell verhüten, und in welcher Phase des Zyklus sie sich befinden. Der Grund ist, dass sich das Hormonprofil von Frauen im Laufe des Zyklus ändert, während das von Männern recht konstant bleibt.

Östrogen und Testosteron

Sowohl Männer als auch Frauen haben die Sexualhormone Östrogen, Progesteron und Testosteron im Gehirn. Nur die Level sind bei den Geschlechtern unterschiedlich. Östradiol, ein Östrogen, soll zum Beispiel neuroprotektiv sein, also das Gehirn schützen. In einer Studie zeigte sich zum Beispiel, dass sich höhere Östradiol-Level von Frauen in der Menopause positiv auf die Gedächtnisleistung auswirken. Tierstudien haben außerdem gefunden, dass eine höhere Östrogenkonzentration vor neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer schützt. Entgegen der weit verbreiteten Annahme führen höhere Level an Testosteron auch nicht dazu, dass sich die kognitiven Fähigkeiten verbessern. Nur eine Evidenz zeigt sich konsistent: dass Testosteron den Sexualtrieb verstärkt.

Geschlechtersensible Forschung in den Neurowissenschaften

In den Neurowissenschaften gewinnen geschlechtersensible Forschungsansätze zunehmend an Bedeutung - nicht zuletzt, weil zahlreiche neurologische und psychiatrische Erkrankungen bei Frauen und Männern unterschiedlich häufig auftreten, sich im Verlauf unterscheiden oder unterschiedlich auf Therapien ansprechen. Geschlechtsunterschiede in der Biomedizin wurden über Jahrzehnte hinweg sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich stark unterschätzt. Frauen sind bis heute in der (prä)klinischen Forschung, in Arzneimittelstudien und der Wirkstoffentwicklung deutlich unterrepräsentiert. Dabei sprechen zahlreiche Erkrankungen - insbesondere des zentralen Nervensystems - für die Notwendigkeit eines geschlechtersensiblen Forschungsansatzes: Viele zeigen eine asymmetrische Prävalenz, unterscheiden sich im Erkrankungsbeginn oder im Verlauf. So treten etwa Autismus-Spektrum-Störungen und Parkinson häufiger bei Männern auf, während Major Depression, Alzheimer oder Multiple Sklerose Frauen deutlich häufiger betreffen. Die unzureichende Datenlage zu Frauen in (prä)klinischen Studien - der sogenannte „Gender Data Gap“ - macht es dringend notwendig, geschlechtsspezifische Fragestellungen im biomedizinischen Kontext interdisziplinär in den Fokus zu rücken.

Fokus auf Gliazellen

Ein wichtiger Forschungsbereich ist die Untersuchung von geschlechtsspezifischen Unterschieden in Gliazellen - den bislang oft unterschätzten Mitspielern im zentralen Nervensystem. Es gibt aber mehrere Gründe, den Fokus gezielt auf Gliazellen zu richten, die in enger, bidirektionaler Kommunikation mit Neuronen stehen. Das Überleben, die Reifung und Funktion von Neuronen und Blut-Hirn-Schranke sind stark von der glialen Umgebung abhängig. Ihre Rolle geht weit über eine reine Unterstützungsfunktion hinaus - sie sind entscheidend für die Entwicklung, Funktion und Anpassungsfähigkeit neuronaler Netzwerke. Außerdem zeigt die aktuelle Forschung: Es bestehen signifikante Unterschiede in der Gliazellfunktion zwischen weiblichen und männlichen Individuen. Diese Unterschiede haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Neuroplastizität, die Gehirnfunktion und die Entstehung neuropsychiatrischer sowie neurodegenerativer Erkrankungen.

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Ziele der Forschung

Die Forschung erhofft sich Erkenntnisse darüber, wie genetische, epigenetische und hormonelle Faktoren den Aufbau und die Funktion von Gehirnstrukturen beeinflussen - insbesondere im Hinblick auf Gliazellen und deren Interaktionen mit Neuronen - die eine wesentliche Rolle bei der Etablierung einer gesunden und effizienten Konnektivität zwischen verschiedenen Arealen und einer optimalen synaptischen Kommunikation innerhalb der Regionen spielen. Diese Grundlagenforschung soll Impulse für die klinische Forschung liefern, insbesondere für eine geschlechtersensible Diagnostik und Therapie. Die Forschung kann entscheidend dazu beitragen, klinische Studien geschlechtersensibel zu gestalten - sowohl in der Auswahl der Patientinnen und Patienten als auch in der differenzierten Auswertung der Daten. Langfristig eröffnet dies die Möglichkeit individualisierter, geschlechterspezifischer Therapieansätze - etwa in der Wahl und Dosierung von Medikamenten.

Kritik an der Vorstellung von "männlichen" und "weiblichen" Gehirnen

Die Neurowissenschaftlerin Lise Eliot argumentiert, dass das menschliche Gehirn nicht "sexuell dimorph" ist. Sie betont, dass es bei allen untersuchten neuronalen Strukturen große Überschneidungen zwischen Frauen und Männern gibt. Joel spricht da von relativer Maskulinität oder relativer Feminität, und zwar auf vielen verschiedenen Dimensionen. Wir als Gesellschaft gehen zum Beispiel davon aus, dass enge und emotionale Beziehungen eher weiblich sind. Ein stereotypisch weiblicher Charakter wäre eher sozial und empathisch. Rationales, analytisches Denken stufen wir eher als männlich ein. Dabei kann eine Person sehr »feminin« sein in der Art, sich zu kleiden, und sehr »maskulin« in der Art, wie sie denkt. Ihre Beziehungen können eher weiblich sein, aber ihre Interessen eher männlich.

Neurosexismus

Der Begriff "Neurosexismus" wird verwendet, wenn Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Gehirnen als Erklärung für die Unterlegenheit von Frauen angeführt werden. Hier wird die Wissenschaft benutzt, um schon bestehende Statusunterschiede zwischen Männern und Frauen zu untermauern. Das ist Sexismus.

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