Demenz und Hinlauftendenz: Ursachen, Umgang und Maßnahmen

Menschen mit Demenz zeigen oft Verhaltensänderungen, die von Reizbarkeit und Rückzug bis hin zu Aggressivität und Wut reichen können. Ein besonders herausforderndes Verhalten ist die Hinlauftendenz, bei der Betroffene den Drang verspüren, bestimmte Orte oder Personen aufzusuchen, die in ihrem Langzeitgedächtnis verankert sind. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen der Hinlauftendenz bei Demenz, gibt Hinweise zum Umgang mit herausforderndem Verhalten und stellt verschiedene Maßnahmen vor, um die Sicherheit und Lebensqualität der Betroffenen zu gewährleisten.

Verändertes Verhalten bei Demenz: Aggressivität und ihre Ursachen

Aggressives Verhalten bei Demenz ist ein komplexes Phänomen, das bei etwa der Hälfte der Betroffenen auftreten kann. Es ist wichtig zu verstehen, dass dieses Verhalten oft nicht absichtlich oder bösartig ist, sondern vielmehr Ausdruck von Frustration, Verwirrung und Angst.

Die Rolle von Frustration und kognitivem Abbau

Besonders die Frustration über den eigenen kognitiven Abbau spielt eine große Rolle bei aggressivem Verhalten. Menschen mit Demenz können sich nicht mehr richtig ausdrücken, fühlen sich unverstanden, sind gestresst, verängstigt oder überfordert. Diese negativen Gefühle können sich in Wutausbrüchen, Beschimpfungen oder sogar Handgreiflichkeiten äußern.

Äußere Faktoren und Überforderung

Auch äußere Faktoren können aggressives Verhalten begünstigen. Zu viele Reize, Lärm, eine hektische Umgebung oder eine Flut von Anweisungen können Menschen mit Demenz überfordern. Das demenzerkrankte Gehirn kann oft nur noch einen Input verarbeiten, sodass zusätzliche Informationen zu Unruhe und heftigen Reaktionen führen können.

Schmerzen und körperliches Unwohlsein

Körperliche Schmerzen oder Unwohlsein sind eine weitere häufige Ursache für aggressives Verhalten. Menschen mit Demenz können oft nicht mehr klar kommunizieren, dass sie Schmerzen haben, sodass sich ihr Unbehagen in aggressivem Verhalten äußert.

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Der Begriff "Aggression" im Kontext von Demenz

Es ist wichtig zu beachten, dass der Begriff "Aggression" im Zusammenhang mit Demenz kritisch betrachtet werden muss. Die Definition von Aggression beinhaltet eine absichtliche Schädigung oder Verletzung anderer. Da das Gehirn von Menschen mit Demenz oft die Fähigkeit zu geplantem, zielgerichtetem Handeln verliert, sollten herausfordernde Verhaltensweisen eher als Affekt, also als eine heftige Gefühlsregung, eingeordnet werden.

Ursachen der Hinlauftendenz

Die Hinlauftendenz ist ein spezifisches Wandering-Verhalten, das sich von ziellosem Umherirren unterscheidet. Betroffene haben ein konkretes Ziel vor Augen, zu dem sie hinlaufen möchten. Dieses Verhalten ist oft tief in der biografischen Vergangenheit verwurzelt und spiegelt wichtige Lebensereignisse oder -aufgaben wider.

Verlust des Kurzzeitgedächtnisses und Erinnerungen an die Vergangenheit

Der fortschreitende Abbau der Gehirnzellen führt zu einem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, während Erinnerungen aus der fernen Vergangenheit länger erhalten bleiben. Diese Gedächtnisstörung bewirkt, dass Menschen mit Demenz in längst vergangenen Lebensphasen "gefangen" sind und glauben, Aufgaben aus dieser Zeit noch erledigen zu müssen.

Emotionale Bedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit

Emotionale Bedürfnisse spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung der Hinlauftendenz. Das Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit und Vertrautheit treibt Betroffene dazu, Orte aufzusuchen, die in ihrer Erinnerung mit positiven Gefühlen verbunden sind. Besonders stark ausgeprägt ist oft die Sehnsucht nach dem Elternhaus oder dem Ort, an dem sie ihre eigenen Kinder großgezogen haben.

Körperliche Ursachen und Medikamentennebenwirkungen

Körperliche Ursachen wie Schmerzen, Unwohlsein, Hunger oder Durst können das Wandering-Verhalten verstärken oder auslösen. Auch Medikamentennebenwirkungen, insbesondere von Psychopharmaka, können zu verstärkter Unruhe und Hinlauftendenz führen.

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Gestörter Tag-Nacht-Rhythmus und "Sundowning"

Der gestörte Tag-Nacht-Rhythmus, der bei vielen Demenzkranken auftritt, kann nächtliche Wanderungen zur Folge haben, wenn Betroffene glauben, es sei Tag und sie müssten zur Arbeit oder andere Aufgaben erledigen. Dieses Phänomen wird auch als "Sundowning" bezeichnet.

Umgang mit herausforderndem Verhalten und Hinlauftendenz

Der Umgang mit aggressivem Verhalten und Hinlauftendenz erfordert viel Geduld, Verständnis und Einfühlungsvermögen. Es ist wichtig, die Ursachen des Verhaltens zu erkennen und entsprechend zu reagieren.

Validation und Biografiearbeit

Validation nach Naomi Feil und die integrative Validation nach Nicole Richard bilden das Fundament für den empathischen Umgang mit Hinlauftendenz. Statt das Wandering-Verhalten zu korrigieren, werden die Gefühle und Bedürfnisse der Betroffenen verstanden und gewürdigt. Biografiearbeit ergänzt die Validation perfekt, indem sie die Lebensgeschichte systematisch erforscht.

Die Grundsätze der Validation

Die zehn Grundsätze der Validation bilden das Fundament für den empathischen Umgang mit Hinlauftendenz:

  1. Alle Menschen sind einzigartig und wertvoll, unabhängig von ihrem Grad der Verwirrung.
  2. Es gibt immer einen Grund für das Verhalten von Menschen mit Demenz, auch wenn dieser für Außenstehende nicht sofort erkennbar ist.
  3. Menschen können nicht zu einem früheren Verhalten zurückkehren, wenn sie sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Demenz befinden.

Praktische Validation-Techniken

Praktische Validation-Techniken für den Umgang mit Hinlauftendenz umfassen die wertschätzende Kommunikation, bei der die Gefühle und Aussagen der Person ernst genommen werden, ohne sie zu korrigieren. Wenn ein demenzkranker Mensch sagt, er müsse zur Arbeit, könnte eine validierende Antwort lauten: „Sie haben immer gerne gearbeitet. Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit.“ Auf diese Weise wird das Bedürfnis anerkannt, ohne die Person in die aktuelle Realität „zurückzuholen“. Die Spiegeltechnik ist ein weiteres wichtiges Element der Validation. Dabei werden die Emotionen und Körpersprache der Person gespiegelt, um Verständnis zu signalisieren.

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Kommunikation und Beziehungsgestaltung

Eine wertschätzende und validierende Kommunikation ist entscheidend im Umgang mit Menschen mit Demenz. Es ist wichtig, in einem ruhigen Tonfall zu sprechen, kurze Sätze zu verwenden und sich auf die Gefühle und Bedürfnisse des Betroffenen zu konzentrieren. Eine gute Beziehung und ein Gefühl von Sicherheit können dazu beitragen, Unruhe und Aggressionen zu reduzieren.

Anpassung der Umgebung

Eine demenzgerechte Gestaltung der Wohn- oder Pflegeumgebung kann wesentlich zur Beruhigung beitragen. Reizarme Räume, eine gute Beleuchtung und vertraute Gegenstände können Sicherheit vermitteln. Stolperfallen sollten beseitigt und Haltegriffe angebracht werden, um Stürze zu vermeiden.

Beschäftigung und Aktivierung

Regelmäßige Aktivitäten und Beschäftigungen können dazu beitragen, den Bewegungsdrang zu kanalisieren und Langeweile zu vermeiden. Spaziergänge, Gartenarbeit, Musik hören oder gemeinsames Singen sind nur einige Beispiele für Aktivitäten, die Menschen mit Demenz Freude bereiten können. Biografieorientierte Angebote, die an frühere Interessen und Tätigkeiten anknüpfen, sind besonders wirkungsvoll.

Medikamentöse Behandlung

Medikamente zur Beruhigung sollten nur unter strenger fachärztlicher Aufsicht eingesetzt werden, da sie Nebenwirkungen haben können. Auch die Wechselwirkung mit anderen Medikamenten bedarf der genauen ärztlichen Überprüfung. Psychopharmaka sollten nur dann eingesetzt werden, wenn andere Hilfen versagt haben oder wenn ernsthafte Probleme wie Wahnvorstellungen oder Gefährdung bestehen.

Maßnahmen zur Sicherheit und Bewegungsfreiheit

Um die Sicherheit von Menschen mit Hinlauftendenz zu gewährleisten, ohne ihre Bewegungsfreiheit unnötig einzuschränken, gibt es verschiedene Maßnahmen, die ergriffen werden können.

Sicherheitsvorkehrungen im Haus und Garten

  • Entfernen von Stolperfallen: Lose Teppiche, herumliegende Kabel und andere Hindernisse sollten beseitigt werden, um Stürze zu vermeiden.
  • Anbringen von Handläufen: Handläufe an Treppen und in Badezimmern geben zusätzlichen Halt und Sicherheit.
  • Sicherung der Haustür: Die Haustür kann mit einem Alarm gesichert werden, der unauffällig und wohltönend ist oder nur von den Pflegeverantwortlichen gehört werden kann.
  • Gestaltung des Gartens: Ein durch einen Zaun geschützter Garten ermöglicht es Menschen mit Demenz, sich ungehindert und auch mal unbegleitet zu bewegen.

Technische Hilfsmittel

  • GPS-Tracker: Kleine, unauffällige GPS-Tracker können in Kleidung eingenäht oder als Schmuck getragen werden und ermöglichen eine schnelle Ortung im Notfall.
  • Alarmmatten: Alarmmatten vor dem Bett oder der Haustür geben ein Signal, wenn die Person aufsteht oder das Haus verlässt.
  • Weglaufschutzsysteme: In Pflegeeinrichtungen gibt es komplexe DESO-Systeme (Desorientiertensystem), die eine individuelle Personenortung ermöglichen.

Informationen für Nachbarn und lokale Geschäfte

Nachbarn, Bekannte, Verwandte, Geschäftsinhaber und Busfahrer sollten über die Erkrankung informiert werden. Sie können dann besser Acht geben und den Patienten auch wieder nach Hause bringen.

Notfallausweis und Personenbeschreibung

Der Erkrankte sollte einen Notfallausweis oder ein Schild mit seinem Namen, der Telefonnummer der Angehörigen und medizinischen Besonderheiten bei sich haben. Es ist auch hilfreich, ein aktuelles Foto und eine Beschreibung der Person bereitzuhalten, falls eine Vermisstenmeldung aufgegeben werden muss.

Die Rolle der 24-Stunden-Betreuung

Die 24-Stunden-Betreuung stellt eine besonders geeignete Betreuungsform für Menschen mit Hinlauftendenz dar, da sie kontinuierliche Begleitung ohne freiheitsentziehende Maßnahmen ermöglicht. Eine spezialisierte Betreuungskraft kann früh erkennen, wenn Unruhe aufkommt, die zu Wandering-Verhalten führen könnte, und entsprechend präventiv eingreifen.

Vorteile der häuslichen 24-Stunden-Betreuung

  • Kontinuierliche Begleitung: Die Betreuungskraft ist rund um die Uhr anwesend und kann die Person bei ihrer Hinlauftendenz begleiten oder alternative Beschäftigungen anbieten.
  • Vertrauensbeziehung: Durch die ständige Anwesenheit entsteht eine Vertrauensbeziehung, die es ermöglicht, die Person besser zu verstehen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen.
  • Individuelle Betreuung: Die Betreuung kann auf die spezifischen Auslöser und Bedürfnisse der Person zugeschnitten werden.
  • Verbleib in der vertrauten Umgebung: Die Person kann in ihrer vertrauten Umgebung bleiben, was die Hinlauftendenz oft reduziert.

Qualifikation der Betreuungskraft

Spezialisierte Betreuungskräfte für Demenz und Wandering-Verhalten verfügen über spezielle Qualifikationen im Umgang mit herausforderndem Verhalten. Sie sind geschult in Validation, kennen die Prinzipien der Biografiearbeit und wissen, wie sie durch gezielte Aktivitäten und Beschäftigung die Unruhe reduzieren können.

Im Notfall richtig handeln

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kann es passieren, dass eine Person mit Demenz unbemerkt aus dem Haus geht und nicht mehr zurückfindet. Dann zählt jede Minute.

Sofortige Maßnahmen

  • Suche nach vertrauten Orten: Suchen Sie zunächst vertraute Wege oder Orte auf - zum Beispiel frühere Wohnorte, Bushaltestellen oder Kirchen.
  • Information der Nachbarn und Geschäfte: Informieren Sie außerdem Nachbarinnen und Nachbarn sowie lokale Geschäfte.
  • Benachrichtigung der Polizei: Informieren Sie sofort die Polizei - nicht erst, wenn Sie selbst schon lange gesucht haben.
  • Bereithalten von Informationen: Halten Sie ein aktuelles Foto und eine Beschreibung der Person bereit. Wenn Sie einen GPS-Tracker oder einen Notfallausweis einsetzen, halten Sie die zugehörigen Daten griffbereit.

Verhalten bei Auffinden der Person

Wenn Sie die Person finden, zeigen Sie keinen Ärger, sondern Freude. Bieten Sie Unterstützung an und bringen Sie die Person sicher nach Hause.

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