Die diabetische Neuropathie stellt eine der häufigsten und bedeutendsten Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus dar. Sie betrifft etwa jeden dritten Menschen mit Diabetes und kann die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Die Erkrankung manifestiert sich in verschiedenen Formen, wobei die distal-symmetrische sensomotorische Polyneuropathie (DSPN) die häufigste ist. Diese äußert sich durch neuropathische Schmerzen, Missempfindungen oder Taubheitsgefühle, vor allem in den unteren Extremitäten.
Bedeutung der Früherkennung und Diagnostik
Die klinische Bedeutung der diabetischen Neuropathie wird oft unterschätzt, und das Neuropathie-Screening wird in der allgemeinmedizinischen Praxis nicht ausreichend genutzt. Neuropathische Defizite, wie die Reduktion oder der Verlust der Berührungs-, Druck- oder Vibrationsempfindung, sind eindeutige Prädiktoren für die Entstehung von Fußulzera und erhöhter Sterblichkeit. Fußulzera wiederum erhöhen bei Diabetespatienten die Morbidität und Mortalität erheblich. Daher ist es entscheidend, Diabetespatienten regelmäßig einem Screening auf das Vorliegen einer diabetischen Neuropathie zuzuführen und frühzeitig zu behandeln.
Eine nationale Aufklärungsinitiative namens „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?” wurde 2013 ins Leben gerufen, um das Bewusstsein für diese Problematik zu schärfen. Im Rahmen dieser Initiative wurde die PROTECT-Studie durchgeführt, an der 1850 Personen mit und ohne Diabetes teilgenommen haben. Die Ergebnisse zeigten eine hohe Dunkelziffer von nicht diagnostizierter DSPN bei Patienten mit Typ-2-Diabetes.
Formen der diabetischen Neuropathie
Die diabetische Neuropathie umfasst eine Vielzahl von klinischen Manifestationen am peripheren oder autonomen Nervensystem, die im Rahmen des Diabetes mellitus auftreten und auf keine anderen Ursachen einer peripheren Neuropathie zurückzuführen sind. Die häufigste Form ist die distal-symmetrische sensible oder sensomotorische Polyneuropathie (DSP).
Die Symptome der DSPN können vielfältig sein und umfassen:
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- Schmerzen: Diese werden oft als stechend, brennend oder einschießend beschrieben.
- Missempfindungen: Kribbeln oder Taubheitsgefühl in den Füßen sind häufige Beschwerden.
- Taubheitsgefühl: Bis zu 50 % der Betroffenen mit DSPN können asymptomatisch sein.
- Fußulzera: Unbemerkte Verletzungen können zu Fußulzera oder Charcot-Füßen führen.
Risikofaktoren und Prädisposition
Bestimmte Faktoren prädisponieren für die Entstehung der schmerzhaften Form der DSPN. Diese tritt häufiger bei Frauen, bei bevorzugtem Befall der kleinen Fasern und in Verbindung mit höherem Schweregrad der DSPN auf. Zu den wichtigen Risikofaktoren gehören:
- Alter
- Diabetesdauer
- Unzureichende Diabeteseinstellung
- Übergewicht/Adipositas
- Mangelnde Bewegung
- Hypertonie
- Nervengifte (Nikotin und Alkohol)
- Dyslipidämie
- Komorbiditäten (pAVK, mikro- und makrovaskuläre Folgeschäden)
Therapieansätze bei diabetischer Neuropathie
Die Therapie der diabetischen Neuropathie basiert auf drei Säulen:
- Kausale Therapie: Hier steht die Ausschaltung des ätiologischen Faktors Hyperglykämie durch eine möglichst normnahe Diabeteseinstellung und, falls erforderlich, Lebensstiländerung im Vordergrund.
- Pathogenetisch orientierte Therapie: Diese leitet sich von der Pathogenese der Neuropathie ab und soll krankheitsmodifizierend in die verschiedenen Pathomechanismen eingreifen, um neuropathische Defizite und Symptome langfristig zu beheben.
- Symptomatische Schmerztherapie: Bei der schmerzhaften Form der DSPN kommt häufig eine symptomatische Schmerztherapie zum Einsatz, die die Schmerzen reduzieren und so die Lebensqualität des Patienten erhalten soll.
Kausale Therapie: Optimierung der Diabeteseinstellung
Die Grundlage jeder Therapie der diabetischen Neuropathie ist die Optimierung der Blutzuckereinstellung. Mehrere Studien haben gezeigt, dass eine langfristige Nahe-Normoglykämie bei Typ-1-Diabetikern das Risiko der Ausbildung einer peripheren Neuropathie bzw. kardialen autonomen Neuropathie reduziert. Allerdings kommt es unter intensivierter Insulintherapie nicht zu einer gänzlichen Prävention der DSP. Auch bei Typ-2-Diabetikern besteht ein Konsens, dass Risikofaktoren für die DSP (Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum) und assoziierte Begleiterkrankungen (Nephropathie, Retinopathie, pAVK, Hypertonie, Hyperlipidämie) erfasst und ggf. therapiert werden müssen.
Pathogenetisch orientierte Therapie
Die pathogenetisch begründete Therapie zielt darauf ab, in die komplexen Pathomechanismen der diabetischen Neuropathie einzugreifen. Neben der Hyperglykämie spielen weitere Faktoren eine ursächliche Rolle, darunter Dyslipidämie, Insulinresistenz, inflammatorische Prozesse und Carbonyl-Stress. Ein zentraler Pathomechanismus ist die Überproduktion von Superoxid durch die mitochondriale Elektronentransportkette, die zu oxidativem Stress führt und die Nerven schädigt.
In diesen Pathomechanismus können mehrere Wirkstoffe eingreifen:
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- Alpha-Liponsäure: Ein Antioxidans, das den oxidativen Stress reduziert.
- Benfotiamin: Eine fettlösliche Vorstufe von Thiamin (Vitamin B1), die pathogene Stoffwechselwege einschließlich der Bildung von AGE hemmt.
Für Alpha-Liponsäure liegt die höchste Evidenz in Form von zahlreichen Metaanalysen vor. Sowohl die intravenöse als auch die orale Gabe der Substanz führt nach einigen Wochen zu einem signifikanten und klinisch relevanten Rückgang der Symptome und Defizite.
Symptomatische Schmerztherapie
Die Therapie der schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie ist symptomatisch. Bei neuropathischen Schmerzen stehen vor allem Antidepressiva, Antiepileptika, schwache und - als Ultima Ratio - starke Opioide sowie physikalische Maßnahmen im Vordergrund. Das Therapiearsenal wurde zuletzt durch das Antidepressivum Duloxetin und durch das Antiepileptikum Pregabalin, einen spezifischen Blocker der Kalziumkanäle, bereichert.
Wirkstoffe zur Erstlinientherapie:
- Antiepileptika (Gabapentin und Pregabalin)
- Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Duloxetin und Venlafaxin)
- Trizyklische Antidepressiva
Weitere Optionen:
- Capsaicin 8 % Pflaster
- Tramadol (schwaches Opioid)
- Starke Opioide (als Ultima Ratio)
- Nicht-pharmakologische Therapieoptionen (TENS, Muskelstimulation, FREMS)
Es ist wichtig zu beachten, dass das wirksame Medikament bei jedem einzelnen Patienten durch Erprobung gefunden werden muss. Dabei müssen das individuelle Beschwerdebild sowie die Nebenwirkungen und Kontraindikationen berücksichtigt werden.
Duloxetin
Duloxetin ist ein selektiver SSNRI, der zur Therapie der schmerzhaften diabetischen Neuropathie zugelassen ist. Die Substanz wirkt, indem sie bestimmte hemmende absteigende Nervenbahnen aktiviert. In Studien ließ sich der über 24 Stunden gemittelte Schmerz signifikant mit Duloxetin im Vergleich zu Placebo reduzieren. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Übelkeit, Schläfrigkeit, Schwindel, Verstopfung, Mundtrockenheit und reduzierter Appetit.
Pregabalin
Für Pregabalin wurde die therapeutische Wirksamkeit und Sicherheit in einer gepoolten Analyse von Studien bei Diabetikern mit schmerzhafter Neuropathie untersucht. Die Responder-Raten mit Schmerzreduktion > 50% lagen bei 46 % (600 mg), 39 % (300 mg), 27 % (150 mg) und 22 % (Placebo). Die häufigsten Nebenwirkungen sind Schwindel, Schläfrigkeit, periphere Wassereinlagerung, Kopfschmerzen und Gewichtszunahme.
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Trizyklische Antidepressiva
Die bislang eingesetzten trizyklischen Antidepressiva (TCA) sind aufgrund hoher Nebenwirkungsraten problematisch. Amitriptylin zeigt möglicherweise die stärkste Wirkung, die mediane Dosis liegt bei 75 mg und es besteht eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung.
Alpha-Liponsäure
Für die Alpha-Liponsäure wurde eine Meta-Analyse von Studien publiziert, die zeigt, dass die Infusionstherapie über 3 Wochen mit 600 mg/Tag zu einem signifikanten Rückgang der neuropathischen Symptome führt. Die Responder-Raten lagen bei 52,7 % für Alpha-Liponsäure und 36,9 % für Placebo.
Nicht-pharmakologische Therapieoptionen
Nicht-pharmakologische Therapieoptionen wie die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) sollten stets mitberücksichtigt werden, da sie praktisch frei von Nebenwirkungen sind und von Patienten vielfach bevorzugt werden. Auch Muskelstimulation und FREMS können zur Schmerzlinderung beitragen.
Leitlinien und Empfehlungen
Im Rahmen des Programms für Nationale VersorgungsLeitlinien (NVL) steht die NVL Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter seit August 2011 im Internet bereit. Die Leitlinie gibt evidenz- und konsensbasierte Empfehlungen für die Langzeitversorgung von Menschen mit Diabetes und Neuropathie. Sie beschreibt ausführlich Prävention, Diagnostik und Therapie sowie Rehabilitation bei Menschen mit Neuropathie und Typ-1- oder Typ-2-Diabetes.
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