Digitale Demenzforschung: Mythos oder Realität?

Die Frage, ob digitale Medien unsere Gehirne schädigen, ist in der heutigen Gesellschaft allgegenwärtig. Der Begriff "digitale Demenz" wurde geprägt, um die vermeintlichen negativen Auswirkungen des übermäßigen Konsums digitaler Medien auf kognitive Fähigkeiten zu beschreiben. Doch was steckt wirklich hinter dieser Theorie? Die Forschungsergebnisse sind komplex und widersprüchlich, und es ist wichtig, die verschiedenen Perspektiven zu berücksichtigen, um ein umfassendes Bild zu erhalten.

Die "Digitale Demenz"-Hypothese und ihre Kritiker

Der Begriff "digitale Demenz" wurde maßgeblich durch den Psychiater Professor Manfred Spitzer geprägt, der 2012 ein Buch unter diesem Titel veröffentlichte. Spitzer argumentiert, dass die ständige Nutzung digitaler Medien zu einer "Verblödung" führt, da sie uns geistige Arbeit abnehmen und unser Gedächtnis beeinträchtigen. Er beschreibt ein Syndrom, das er bei jungen Menschen beobachtet hat, die viel Zeit mit Computern und dem Internet verbringen: Störungen von Merkfähigkeit und Konzentration, Schwierigkeiten beim Lesen eines Textes, Abgeschlagenheit, Mattigkeit und Motivationslosigkeit.

Spitzers Thesen sind jedoch umstritten. Andere Hirnforscher wie Michael Madeja bezweifeln, dass die Nutzung digitaler Medien zu fassbaren krankhaften Veränderungen im Gehirn führt. Sie argumentieren, dass die Veränderungen, die durch intensive Internetnutzung verursacht werden könnten, so subtil und individuell sind, dass sie mit den aktuellen Methoden der Hirnforschung nicht erfassbar wären. Zudem wird der Begriff der Demenz als ungeeignet kritisiert, da er in der Medizin einen krankhaften Verlust kognitiver Fähigkeiten beschreibt, der durch verschiedene Ursachen ausgelöst werden kann.

Aktuelle Forschungsergebnisse: Widerlegung der "Digitalen Demenz"?

Eine aktuelle Metaanalyse, die in der Fachzeitschrift "Nature Human Behavior" veröffentlicht wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass die Nutzung digitaler Medien kein erhöhtes Risiko für Demenz darstellt. Im Gegenteil: Die Neurowissenschaftler der Baylor University und der University of Texas stellten fest, dass Menschen, die digitale Medien nutzen, sogar besser kognitiv altern könnten. Die Studie verglich mehr als 136 Studien, die die Nutzung digitaler Technologien, kognitive Fähigkeiten und Demenz erfassten, und konzentrierte sich dabei auf über 50 Jahre alte Menschen.

Die Ergebnisse widerlegen die sogenannte "Digitale Demenz"-Hypothese, wonach ein Leben mit digitalen Technologien kognitive Fähigkeiten verschlechtert. Eher scheint der Umgang mit ihnen Verhaltensweisen zu fördern, die kognitive Leistung erhalten. So senke die Nutzung digitaler Technologien das Risiko geistiger Beeinträchtigungen um 58 Prozent. Selbst als die Forscher sozioökonomischen Status, Bildung, Alter, Geschlecht, kognitive Grundfähigkeiten, soziale Unterstützung, allgemeine Gesundheit und die Teilnahme an geistigen Aktivitäten wie Lesen als Faktoren ausschlossen, kamen sie zum gleichen Ergebnis.

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Die Rolle des Alters und der Art der Nutzung

Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass ältere Menschen digitale Technologien oft anders nutzen als jüngere Generationen. Die meisten der untersuchten Altersgruppe kamen erst im Erwachsenenalter mit dem Computer, dem Internet oder dem Handy in Berührung. Sie mussten die Technologien unter hohen Anstrengungen "erlernen" und gleichzeitig mit dem Wandel Schritt halten. Software-Updates, einen Netzwerkfehler beheben oder die Funktionen eines neuen Handys lernen, halten das Gehirn beschäftigt.

Michael K. Scullin, Co-Autor der Studie, erklärt: "Eines der ersten Dinge, die Erwachsene mittleren und höheren Alters sagten, war: ‚Ich bin so frustriert von diesem Computer. Das ist schwer zu lernen.‘ Das spiegelt eigentlich die kognitive Herausforderung wider, die für das Gehirn von Vorteil sein kann, auch wenn es sich im Moment nicht so gut anfühlt." Zudem eröffnen die Technologien bisher nie gekannte Möglichkeiten, etwa sich mit Freunden und Familie zu vernetzen. Viele Studien bescheinigen Menschen mit guten sozialen Beziehungen ein deutlich niedrigeres Demenz-Risiko.

Die Studienautoren weisen auch auf einen anderen Vorteil digitaler Technologien hin: Wer bereits an Demenz leidet, könne sein Leben dank digitaler Helferlein weit besser bestreiten. Karten-Apps, digitale Erinnerungen oder Online-Banking könnten Menschen mit Demenz, beziehungsweise Alzheimer erheblich den Alltag erleichtern.

Die "drei C's": Komplexität, Beziehung und Kompensation

Dr. Jared F. Benge (University of Texas at Austin) und Dr. Michael K. Scullin testeten die gegensätzlichen Hypothesen, dass sich die kognitiven Fähigkeiten im Laufe des Lebens durch den Einsatz digitaler Technologien verschlechtern beziehungsweise dass Technologien Verhaltensweisen fördern, die die Kognition gerade erhalten. Dabei habe sich herausgestellt, dass die Befürchtung einer digitalen Demenz wohl unbegründet ist.

Laut The Guardian sei allerdings unklar, ob die Nutzung digitaler Endgeräte den geistigen Verfall aufhalte oder ob Menschen mit besseren kognitiven Fähigkeiten einfach mehr dazu neigten. Benge gegenüber The Guardian: "Wir glauben, dass die drei C's wichtig sein könnten: Komplexität, Beziehung und kompensatorische Verhaltensweisen (englisch: complexity, connection, compensatory behaviours)". Digitale Hilfsmittel könnten bei komplexen Aktivitäten und der Pflege sozialer Beziehungen unterstützen sowie den kognitiven Abbau kompensieren - all dies sei gut für das alternde Gehirn.

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Digitale Medien in der Therapie und Prävention von Demenz

Digitale Medien können nicht nur den Alltag von Menschen mit Demenz erleichtern, sondern auch in der Therapie und Prävention eingesetzt werden. Zahlreiche Studien belegen, dass Demenz-Patienten vom Training in virtuellen Umgebungen profitieren, die auf den Grad der Erkrankung abgestimmt werden können. Sie erlauben beispielsweise das virtuelle Trainieren von Anforderungen im Alltag, wie das Zurechtfinden in einem Supermarkt.

Ein weiteres Beispiel ist ein Projekt des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), das untersucht, ob spezielle Gedächtnistests auf dem Smartphone helfen können, leichte kognitive Beeinträchtigungen frühzeitig zu erkennen. Als digitales Hilfsmittel kommt dabei eine App des Magdeburger Start-Ups neotiv zum Einsatz. Die damit erfassten Testergebnisse dienen der Diagnose in der Arztpraxis.

digiDEM Bayern: Ein digitales Demenzregister für Bayern

Ein bedeutendes Projekt im Bereich der Demenzforschung ist digiDEM Bayern, das größte digitale Demenzregister in Deutschland. Mit mehr als 2.000 Teilnehmenden aus allen sieben Regierungsbezirken Bayerns ist es eines der größten Projekte zur Erfassung von Langzeitdaten in der Europäischen Union (EU).

Für die digiDEM Bayern-Studie werden Menschen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen, Menschen mit Demenz und ihre pflegenden An- und Zugehörigen befragt. Die gewonnenen Daten tragen dazu bei, den Langzeitverlauf von Demenzerkrankungen besser zu verstehen und Versorgungslücken aufzudecken, insbesondere in ländlichen Regionen Bayerns. Darüber hinaus entwickelt digiDEM Bayern digitale Angebote für Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Demenz sowie für pflegende An- und Zugehörige und ehrenamtliche Helfer*innen.

Die Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI)

In der Registerforschung mit digitalen Daten spielt der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) eine immer wichtigere Rolle. KI hat große Potentiale, traditionelle statistische Methoden der wissenschaftlichen Datenanalyse zu ergänzen. Auf der Basis von zusammengeführten Datensätzen unterschiedlicher Register können - unter Einsatz von KI - gemeinsame, länderübergreifende Analysen zur Lösung komplexer Herausforderungen im Gesundheitswesen beitragen.

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Empfehlungen für den Umgang mit digitalen Medien

Trotz der positiven Aspekte ist es wichtig, einen ausgewogenen Umgang mit digitalen Medien zu pflegen. Für Kinder und Jugendliche empfehlen Pädiater, die Zeit vor Bildschirmen zu limitieren, da zahlreiche Untersuchungen ein erhöhtes Risiko für schlechtere Schulleistungen, Schlafstörungen und Aufmerksamkeitsprobleme zeigen. Ein totales Verbot ist aber nicht angezeigt, denn Kinder müssen natürlich lernen, mit digitalen Medien umzugehen, die ja zunehmend unser Privat- und Arbeitsleben bestimmen.

Für ältere Menschen empfiehlt Michael K. Scullin, Großeltern oder Eltern, die keine digitalen Medien nutzen, zum Lernen neuer Technologien zu ermutigen. "Könnten sie lernen, Foto-, Messaging- oder Kalender-Apps auf einem Smartphone oder Tablet zu verwenden? Fangen Sie einfach an und seien Sie sehr geduldig, während sie lernen", sagte er.

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