Die Kontroverse um die Auswirkungen digitaler Medien auf unsere kognitiven Fähigkeiten hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Insbesondere die These der "digitalen Demenz", populär gemacht durch den Psychiater Manfred Spitzer, hat eine breite öffentliche Debatte ausgelöst. Dieser Artikel beleuchtet die Definition von digitaler Demenz, die Argumente von Manfred Spitzer und die Kritik an seinen Thesen, um ein umfassendes Bild dieser Thematik zu vermitteln.
Was ist digitale Demenz?
Der Begriff "digitale Demenz" wurde erstmals 2007 in Südkorea geprägt, um ein Krankheitsbild zu beschreiben, das bei jungen Erwachsenen mit hoher Mediennutzung beobachtet wurde. Zu den Symptomen gehörten Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Manfred Spitzer griff diesen Begriff auf und popularisierte ihn im deutschsprachigen Raum. Er argumentiert, dass die Nutzung digitaler Medien zu einer Vernachlässigung des internen Datenspeichers, des Gedächtnisses, führt. Dies wiederum resultiert in Vergesslichkeit und Hilflosigkeit, wenn externe Datenspeicher nicht verfügbar sind.
Im weiteren Sinne beschreibt die digitale Demenz alle vermuteten negativen Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien, etwa im Hinblick auf gesellschaftliches Engagement, Einsamkeit, Wohlbefinden oder Aggressivität.
Manfred Spitzers Thesen zur digitalen Demenz
Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie und Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, ist einer der prominentesten Kritiker der digitalen Medien. In seinem Buch "Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen" aus dem Jahr 2012 warnt er vor den Gefahren des übermäßigen Medienkonsums, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen.
Zentrale Argumente von Spitzer:
- Digitale Medien machen süchtig: Spitzer argumentiert, dass die Nutzung digitaler Medien süchtig mache und dies gefährlich sei, weil sie auch "dumm" mache.
- Gedächtnisverlust und Hirnschädigung: Laut Spitzer führt die Nutzung digitaler Medien zu Gedächtnisverlust, Absterben von Nervenzellen und Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten.
- Oberflächliche Verarbeitung von Informationen: Spitzer behauptet, dass die kognitive Verarbeitung von Inhalten bei der Nutzung digitaler Medien nur noch auf einem oberflächlichen, nicht nachhaltigen Niveau funktioniere.
- Negative Auswirkungen auf Lernen und Bildung: Spitzer ist davon überzeugt, dass digitale Medien dem Lernen schaden und die Bildung insgesamt vermindern. Er kritisiert insbesondere den Einsatz von Computern und Bildschirmen in Schulen.
- Zunahme von Verhaltensstörungen: Spitzer sieht einen Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und dem Auftreten von Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängsten, Abstumpfung, Schlafstörungen, Depressionen, Übergewicht und Gewaltbereitschaft.
Spitzer plädiert für eine "Konsumbeschränkung" oder "Dosisbeschränkung" des Medienkonsums, insbesondere bei Kindern. Er fordert Eltern auf, den Zugang zu digitalen Medien einzuschränken, um die kognitive Entwicklung ihrer Kinder nicht zu gefährden.
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Kritik an Spitzers Thesen
Spitzers Thesen zur digitalen Demenz sind in der Fachwelt umstritten und werden von vielen Wissenschaftlern kritisiert.
Fehlende empirische Grundlage:
Ein zentraler Kritikpunkt ist die lückenhafte empirische Basis für Spitzers Behauptungen. Substanzielle Belege für hirnorganische Schädigungen durch die Nutzung digitaler Medien fehlen. Metaanalytische Befunde liefern keine Hinweise für eine Minderung des gesellschaftlich-politischen Engagements oder erhöhte Einsamkeit durch die Nutzung von digitalen Medien.
Simplifizierende Ursache-Wirkungs-Annahmen:
Kritiker werfen Spitzer vor, von einfachen Ursache-Wirkungs-Annahmen auszugehen und die komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Medien zu ignorieren. Die Medienwirkungsforschung geht längst nicht mehr von der Vorstellung aus, dass Medieninhalte bei allen Menschen die gleichen Auswirkungen haben. Jeder Mensch verarbeitet Medien bzw. Medieninhalte anders.
Ungeeigneter Demenzbegriff:
Der Begriff "Demenz" ist in diesem Zusammenhang irreführend, da er in der Medizin einen krankhaften Verlust kognitiver Fähigkeiten aufgrund organischer Hirnschäden bezeichnet. Es gibt keine Evidenz dafür, dass die Nutzung digitaler Medien zu solchen krankhaften Veränderungen im Gehirn führt.
Vernachlässigung positiver Aspekte digitaler Medien:
Spitzer blendet weitgehend die positiven Aspekte digitaler Medien aus. Digitale Medien können den Zugang zu Informationen erleichtern, die Kommunikation und Zusammenarbeit fördern, die Kreativität anregen und neue Lernmöglichkeiten eröffnen. Für ältere Menschen kann sich die Nutzung von Tablet, Smartphone oder Computer sogar positiv auf das Gehirn auswirken.
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Forderung nach Medienabstinenz ist realitätsfern:
Die Forderung nach einer totalen Medienabstinenz, insbesondere für Kinder, ist in der heutigen digitalen Welt weder umsetzbar noch erstrebenswert. Kinder müssen lernen, mit digitalen Medien umzugehen, da diese einen Großteil unseres Privat- und Arbeitslebens bestimmen.
Alternative Perspektiven: Medienkompetenz statt Abstinenz
Anstelle von Medienabstinenz plädieren viele Medienpädagogen für eine Förderung der Medienkompetenz. Medienkompetente Kinder verstehen die Wirkungsweisen von Medien besser, können sie einordnen und einschätzen, ob sie ihnen gut tun. Sie lernen, Medien verantwortungsvoll und kritisch zu nutzen.
Schlüsselkompetenzen der Medienkompetenz:
- Bedienungskompetenz: Fähigkeit, digitale Geräte und Anwendungen zu bedienen.
- Informationskompetenz: Fähigkeit, Informationen zu finden, zu bewerten und zu nutzen.
- Kommunikationskompetenz: Fähigkeit, über digitale Medien zu kommunizieren und zu interagieren.
- Inhaltskompetenz: Fähigkeit, Medieninhalte zu verstehen, zu analysieren und zu bewerten.
- Gestaltungskompetenz: Fähigkeit, eigene Medieninhalte zu erstellen und zu verbreiten.
Aktuelle Forschungsergebnisse
Eine Metaanalyse, die in der Fachzeitschrift „Nature Human Behavior“ veröffentlicht wurde, verglich mehr als 136 Studien, die Nutzung digitaler Technologien, kognitive Fähigkeiten und Demenz erfassten. Die Forscher fokussierten sich dabei auf über 50 Jahre alte Menschen, deren Generation als erste mit digitalen Technologien wie Computern in Kontakt kam. Laut einer Mitteilung der Universität widerlegt das Ergebnis der Studie die sogenannte „Digitale Demenz“-Hypothese, wonach ein Leben mit digitalen Technologien kognitive Fähigkeiten verschlechtert. Eher scheine der Umgang mit ihnen Verhaltensweisen zu fördern, die kognitive Leistung erhalten. So senke die Nutzung digitaler Technologien das Risiko geistiger Beeinträchtigungen um 58 Prozent.
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