Eingeschränkte Alltagskompetenz: Ursachen, Feststellung und Unterstützung

Kranke, alte und behinderte Menschen sind oft nicht mehr in der Lage, ihren Alltag ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Der Grad der Pflegebedürftigkeit steigt mit dem Umfang der benötigten Unterstützung. In Deutschland ist die Pflegebedürftigkeit gesetzlich geregelt, wobei die Pflegeversicherung seit 2017 anstelle von Pflegestufen fünf Pflegegrade vorsieht. Die Neuausrichtung der Pflegeversicherung berücksichtigt insbesondere den Anstieg altersbedingter geistiger Erkrankungen, die zuvor nicht ausreichend erfasst wurden. Ein zentraler Aspekt bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit ist die sogenannte eingeschränkte Alltagskompetenz.

Definition und Bedeutung der eingeschränkten Alltagskompetenz

Was lebenslang selbstverständlich schien, gelingt jetzt nicht mehr: Eingeschränkte Alltagskompetenz bedeutet den Verlust der Fähigkeit, alltägliche Aufgaben eigenverantwortlich und selbstständig zu bewältigen. Nicht nur Hilfe bei täglicher Pflege und Versorgung, auch umfangreiche Betreuung und Begleitung werden erforderlich. Der Begriff „eingeschränkte Alltagskompetenz“ wird dazu genutzt, einen erhöhten Bedarf an Betreuung festzustellen. Es handelt sich um den Verlust der Fähigkeit, alltägliche Verrichtungen selbst zu verstehen und sinnvoll auszuführen. Auch wenn ein Patient nicht körperlich eingeschränkt oder behindert ist, können seine Fähigkeiten, die regelmäßigen Verrichtungen des Alltags zu bewältigen, Defizite aufweisen.

Die Feststellung der eingeschränkten Alltagskompetenz ist die Voraussetzung für zusätzliche Leistungen der Pflegekasse. Bei eingeschränkter Alltagskompetenz ist ein erhöhter Betreuungsaufwand erforderlich, der mit ergänzenden Zahlungen zu den Pflegesachleistungen oder dem Pflegegeld honoriert wird. Selbst wenn gar keine Einstufung in eine der klassischen Pflegestufen 1-3 gegeben ist, werden ein Grundbetrag von 104 Euro oder ein erhöhter Betrag von 208 Euro für zusätzliche Betreuungsleistungen gewährt (Pflegestufe 0).

Ursachen eingeschränkter Alltagskompetenz

Die eingeschränkte Alltagskompetenz kann unterschiedliche Ursachen haben, wie eine demenzielle oder psychische Erkrankung oder geistige Behinderung, und in unterschiedlicher Weise in Erscheinung treten. Häufig ist eine Demenz die Ursache. Es gibt aber sehr viele andere Erkrankungen, die am Ende zu eingeschränkter Alltagskompetenz führen können. Vor allem Menschen mit Demenz oder Alzheimer sind - zumindest zu Beginn ihrer Erkrankung - häufig von der Situation betroffen, dass sie zwar körperlich noch fit sind, ihre geistigen Fähigkeiten aber mehr und mehr nachlassen. Ältere Menschen leider natürlicherweise an Einschränkungen im Alter, bei Demenz oder Depressionen im Alter brauchen Betroffene oft mehr Betreuung als gleichaltrige Senioren.

Erscheinungsformen der eingeschränkten Alltagskompetenz

Der Verlust von Fähigkeiten, die ein selbstständiges bzw. gefahrloses Leben im Alter ermöglichen, kann sich in vielen verschiedenen Facetten äußern. Einige Beispiele für Verhaltensweisen, die auf eine eingeschränkte Alltagskompetenz hindeuten können, sind:

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  1. Unkontrolliertes Verlassen des Wohnbereiches (Weglauftendenz): Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller seinen beaufsichtigten und geschützten Bereich ungezielt und ohne Absprache verlässt und so seine oder die Sicherheit anderer gefährdet. Ein Indiz für eine Weglauftendenz kann sein, wenn der Betroffene z. B.: aus der Wohnung heraus drängt, immer wieder seine Kinder, Eltern außerhalb der Wohnung sucht bzw. zur Arbeit gehen möchte, planlos in der Wohnung umherläuft oder sie verlässt. Betroffene verlassen die Wohnung, unkontrolliert, nicht nachvollziehbar und ohne vorherige Absprache - z. B. um (bereits verstorbene) Eltern oder den früheren Arbeitsplatz aufzusuchen.
  2. Verkennen oder Verursachen gefährdender Situationen: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: durch Eingriffe in den Straßenverkehr, wie unkontrolliertes Laufen auf der Straße, Anhalten von Autos oder Radfahrern sich selbst oder andere gefährdet, die Wohnung in unangemessener Kleidung verlässt und sich dadurch selbst gefährdet (Unterkühlung). Orientierungslosigkeit lässt Betroffene auch auf die Straße laufen, in den Straßenverkehr eingreifen und/oder sich ohne Rücksicht auf herrschende Außentemperaturen kleiden.
  3. Unsachgemäßer Umgang mit gefährlichen Gegenständen oder potenziell gefährdenden Substanzen: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: Wäsche im Backofen trocknet, Herdplatten unkontrolliert anstellt ohne diese benutzen zu können/wollen, Heißwasserboiler ohne Wasser benutzt, Gasanschlüsse unkontrolliert aufdreht, mit kochendem Wasser Zähne putzt, unangemessen mit offenem Feuer in der Wohnung umgeht, Zigaretten ißt, unangemessen mit Medikamenten und Chemikalien umgeht (z. B. Zäpfchen oral einnimmt), verdorbene Lebensmittel ißt. Bei unsachgemäßem Umgang können von Haushaltsgeräten, Chemikalien, Medikamenten, aber auch von Feuer und Gasanschlüssen Gefahren ausgehen.
  4. Tätlich oder verbal aggressives Verhalten in Verkennen der Situation: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: andere schlägt, tritt, beißt, kratzt, kneift, bespuckt, stößt, mit Gegenständen bewirft, eigenes oder fremdes Eigentum zerstört, in fremde Räume eindringt, sich selbst verletzt, andere ohne Grund beschimpft, beschuldigt. Beschimpfungen, Kratzen, Beißen, Treten, Werfen von Gegenständen: Situationen eskalieren ohne nachvollziehbaren Anlass.
  5. Im Zusammenhang mit speziellen Situationen unangebrachtes Verhalten: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: in die Wohnräume uriniert oder einkotet (ohne kausalen Zusammenhang mit Harn- oder Stuhlinkontinenz), einen starken Betätigungs- und Bewegungsdrang hat (z. B. Zerpflücken von Inkontinenzeinlagen, ständiges An- und Auskleiden, Nesteln, Zupfen, waschende Bewegungen), Essen verschmiert, Kot ißt oder diesen verschmiert, andere Personen sexuell belästigt, z. B. durch exhibitionistische Tendenzen, Gegenstände auch aus fremdem Eigentum (z. B. benutzte Unterwäsche, Essensreste, Geld) versteckt/verlegt oder sammelt, permanent ohne ersichtlichen Grund schreit oder ruft.
  6. Unfähigkeit, die eigenen körperlichen und seelischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: Hunger und Durst nicht wahrnehmen oder äußern kann oder aufgrund mangelndem Hunger- und Durstgefühl bereit stehende Nahrung von sich aus nicht ißt oder trinkt oder übermäßig alles zu sich nimmt, was er erreichen kann, aufgrund mangelndem Schmerzempfinden Verletzungen nicht wahrnimmt, Harn- und Stuhlgang nicht wahrnehmen und äußern kann und deshalb zu jedem Toilettengang aufgefordert werden muss, Schmerzen nicht äußern oder nicht lokalisieren kann. Darüber hinaus prüft der MDK, ob der Betroffene eigene Bedürfnisse korrekt einordnet.
  7. Unfähigkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schützenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststörung: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: den ganzen Tag apathisch im Bett verbringt, den Platz, an den er z. B. morgens durch die Pflegeperson hingesetzt wird, nicht aus eigenem Antrieb wieder verlässt, sich nicht aktivieren lässt, die Nahrung verweigert.
  8. Störungen der höheren Hirnfunktionen (Beeinträchtigung des Gedächtnisses, herabgesetztes Urteilsvermögen), die zu Problemen bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen geführt haben: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: vertraute Personen (z. B. Kinder, Ehemann/-frau, Pflegeperson) nicht wiedererkennt, mit (Wechsel-)Geld nicht oder nicht mehr umgehen kann, sich nicht mehr artikulieren kann und dadurch in seinen Alltagsleistungen eingeschränkt ist, sein Zimmer in der Wohnung oder den Weg zurück zu seiner Wohnung nicht mehr findet, Absprachen nicht mehr einhalten kann, da er schon nach kurzer Zeit nicht mehr in der Lage ist sich daran zu erinnern. Und schätzt ein: Liegen Beeinträchtigungen der Hirnfunktion vor?
  9. Störung des Tag- und Nacht-Rhythmus: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: nachts stark unruhig und verwirrt ist, verbunden mit Zunahme inadäquater Verhaltensweisen, nachts Angehörige weckt und Hilfeleistungen (z. B. Frühstück) verlang (Umkehr bzw. Aufhebung des Tag-/Nacht-Rhythmus). Ist der Tag-Nacht-Rhythmus gestört?
  10. Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B. aufgrund zeitlicher, örtlicher oder situativer Desorientierung eine regelmäßige und der Biografie angemessene Körperpflege, Ernährung oder Mobilität nicht mehr planen und durchführen kann, keine anderen Aktivitäten mehr planen und durchführen kann.
  11. Verkennen von Alltagssituationen und unangemessenes Reagieren in Alltagssituationen: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: Angst vor seinem eigenen Spiegelbild hat, sich von Personen aus dem Fernsehen verfolgt oder bestohlen fühlt, Personenfotos für fremde Personen in seiner Wohnung hält, aufgrund von Vergiftungswahn Essen verweigert oder Gift im Essen riecht/schmeckt, glaubt, dass fremde Personen auf der Straße ein Komplott gegen ihn schmieden, mit Nichtanwesenden schimpft oder redet, optische oder akustische Halluzinationen wahrnimmt.
  12. Ausgeprägtes labiles oder unkontrolliert emotionales Verhalten: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: häufig situationsunangemessen, unmotiviert und plötzlich weint, Distanzlosigkeit, Euphorie, Reizbarkeit oder unangemessenes Misstrauen in einem Ausmaß aufzeigt, das den Umgang mit ihm erheblich erschwert.
  13. Zeitlich überwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit auf Grund einer therapieresistenten Depression: Ein "Ja" ist zu dokumentieren, wenn der Antragsteller z. B.: ständig "jammert" und klagt, ständig die Sinnlosigkeit seines Lebens oder Tuns beklagt.

Feststellung der eingeschränkten Alltagskompetenz durch den MDK

Um Leistungen der Pflegeversicherung zu erhalten, ist eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) erforderlich. Die Leistungen der Pflegeversicherung werden auf Antrag gewährt. Ist dieser gestellt, besucht ein Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) den Betroffenen zu Hause, um zu erfahren, welcher Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf besteht.

Das Begutachtungsverfahren der Pflegekasse zur Feststellung der erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz beinhaltet einen Fragenkatalog anhand dessen der MDK prüft. Der MDK prüft anhand eines Fragenkatalogs, ob die Alltagskompetenz des Patienten entsprechend eingeschränkt ist. Die Fragen sind eindeutig mit "Ja" oder mit "Nein" zu beantworten. Damit die Pflegeversicherung anerkennt, dass eingeschränkte Alltagskompetenz vorliegt, müssen mindestens zwei dieser 13 Kriterien für mindestens sechs Monate regelmäßig erfüllt sein.

Beurteilungsschlüssel für den erhöhten Betrag

Für den erhöhten Betrag von 208 Euro pro Monat gilt folgender Beurteilungsschlüssel: Eine in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz liegt vor, wenn zusätzlich mindestens einmal eine Einschränkung aus den Punkten 1, 2, 3, 4, 5, 9 oder 11 festgestellt werden kann.

Unterstützung und Leistungen bei eingeschränkter Alltagskompetenz

Senioren mit Demenz, psychischen Erkrankungen und/oder geistiger Behinderung benötigen intensive Betreuung. Aufmerksame Begleitung, die durch den Alltag führt, dem Tag Struktur gibt und bei Bedarf auf unkontrolliertes Verhalten reagiert - bevor der Betroffene sich selbst und andere gefährdet. Nicht immer sind Angehörige in der Lage, dies in Eigenregie zu leisten.

Die Pflegekasse unterstützt Betroffene mit verschiedenen Leistungen. Bei festgestellter eingeschränkter Alltagskompetenz können diese nun in Pflegegrad 2 oder höher eingestuft werden. Außerdem können Pflegebedürftige - unabhängig von Pflegegrad oder festgestellter eingeschränkter Alltagskompetenz - zusätzlich Mittel von 125 Euro pro Monat für Betreuungsleistungen nutzen. Auch stehen auf Antrag weitere Leistungen wie ein Wohngruppenzuschlag, Verhinderungspflegeleistungen, Pflegehilfsmittel und Hilfen für die Wohnumfeldverbesserung bereit.

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Die zusätzlichen Betreuungsleistungen können eingesetzt werden für:

  • Anleitung und Betreuung durch zugelassene Pflegedienste.
  • Angebote für eine Tagespflege oder stundenweiser Betreuung. Hier können die vereinbarten Pflegesätze mit den jeweiligen Beträgen finanziert oder verrechnet werden.
  • Ersatzpflege (Verhinderungspflege) oder besondere Beratungsangebote.

Pflegebedürftige in der Pflegestufe 1 und 2, sowie Berechtigte der Pflegestufe 0 für zusätzliche Betreuungsleistungen können einen Beratungseinsatz pro Halbjahr abrufen. In der Pflegestufe 3 sind zwei Beratungseinsätze pro Vierteljahr möglich.

Zweckgebundene Verwendung der Betreuungsleistungen

Die zusätzlichen Betreuungsleistungen sind zweckgebunden einzusetzen, dazu zählen Tages- oder Nachtpflege, Kurzzeitpflege, zusätzliche Betreuung durch einen Pflegedienst und niedrigschwellige Betreuungsangebote (wie Betreuungsgruppen für Demenzbetroffene). Somit kann das Geld nicht für Grund-, Behandlungspflege oder hauswirtschaftliche Versorgung ausgegeben werden. Rechtsgrundlage hierfür ist § 45b SGB XI. Um die entsprechende Verwendung sicher zustellen wird der Betrag nicht monatlich im Voraus gezahlt, sondern erst nach Vorlage der entsprechenden Belege. Wird der Betrag innerhalb eines Monats nicht voll ausgeschöpft kann die Differenz dem nächsten Monat gutgeschrieben werden.

Beispielhafte Situation und Unterstützungsmöglichkeiten

Herr K. ist durch seine Demenz in der Gestaltung seines Alltages eingeschränkt, er kann sich kaum selbst beschäftigen. Wenn er den ganzen Tag vor sich her döst, findet er in der Nacht keine Ruhe. Herr K. lebt mit seiner Frau in einem kleinen Haus. Frau K. kümmert sich um alles, auch unterstützende Pflege für ihren Mann übernimmt sie. Frau K. traut sich kaum außer Haus zu gehen, da sie Angst hat, dass Herr K. unkontrolliert weg läuft. Hier bietet sich die nahegelegene Betreuungsgruppe für Demenzbetroffene an, wofür Herr K. einen Zuschuss von seiner Pflegekasse bekommt. So kann Frau K. regelmäßig in Ruhe einkaufen gehen oder einen Kaffe mit ihren Freundinnen trinken und Herr K. kann sich in der Betreuungsgruppe beschäftigen.

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