Die Erbsche Lähmung, auch bekannt als Erb-Lähmung, Erb-Duchenne-Lähmung, obere Armplexuslähmung, Erbsche Parese oder Geburtslähmung, ist eine Lähmung, die durch eine Verletzung des Plexus brachialis entsteht. Der Plexus brachialis ist ein Nervengeflecht an der seitlichen Halsseite, das die Schulterregion und den gesamten Arm mit Gefühl (Sensibilität) und Bewegungsimpulsen für die Muskeln (Motorik) versorgt. Namensgeber der Erkrankung ist der deutsche Neurologe Wilhelm Heinrich Erb (1840 - 1921).
Ursachen und Entstehung
Ursächlich für diese Nervenverletzung ist eine Überdehnung bis hin zur Zerreißung des Nervengeflechtes am Hals durch unter der Geburt am Nerven auftretende unnatürlich hohe Zugkräfte. Die jeweiligen Nervenanteile im Plexus brachialis können gedehnt werden, bei größerer und lang anhaltender Traktion entstehen Einreißungen, Einrisse, Zerreißungen oder sogar Ausrisse am Rückenmark.
Bei Kindern handelt es sich meist um eine Verletzung der beiden oberen Nervenwurzeln (C5/C6 und ggf. C7). Die Verletzungshöhe liegt im Bereich des so genannten Truncus superior und medius (Konfluenz der Nervenwurzeln).
Die Schulterdystokie ist ein seltener, unvorhersehbarer geburtshilflicher Notfall. Die Schulterdystokie entsteht, wenn nach der Geburt des kindlichen Kopfes die vordere Schulter des Kindes an der Symphyse (Schambeinfuge) hängen bleibt. Die Schultern und damit der Körper des Kindes stecken fest. Dem Kind droht Sauerstoffmangel sowie Schäden durch die nicht selten forcierten und eventuell unsachgemäße Entwicklungsversuche. Mögliche Komplikationen für das Kind sind Asphyxie, Nervenläsionen, Skelettverletzungen und Weichteilverletzungen. Die Schulterdystokie kommt bei großen Kindern übergewichtiger oder diabetischer Mütter häufiger vor. Jedoch treten mehr als die Hälfte aller Schulterdystokien bei einem Geburtsgewicht von unter 4.000 g auf.
Diagnose
Sollte nicht bereits bei der Entbindung eine Plexusparese diagnostiziert worden sein, so muss der Kinderarzt dies umgehend tun. Erste Anzeichen sind ein schlaff herunterhängender Arm bei dem Neugeborenen. Das Kind kann dann diesen nicht abspreizen oder anwinkeln, der Arm ist nach innen gedreht. Ist diese auffällige Haltung direkt nach der Geburt zu beobachten, so muss durch weitere Tests geprüft werden, inwieweit die Reflexe beeinträchtigt sind und welche Muskelanteile verminderte Aktivität aufweisen. Hierzu kommt oft unter anderem der Einsatz einer Elektromyographie (EMG). Durch die Erregung von Nervenzellen und die Beurteilung der dadurch ausgelösten Antwortreaktionen lassen sich ebenso Erkenntnisse über die Muskelaktivität gewinnen.
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Verlauf und Prognose
Die meisten Verletzungen sind reine Dehnungen und erholen sich erfahrungsgemäß in den ersten 3 bis 4 Wochen, durch progressive Funktionsaufnahme der motorischen und sensiblen Nerven mit Wiedererlangung der Bewegung. In diesen Fällen bildet sich die Lähmung zurück und unter krankengymnastischen Maßnahmen beobachten Sie die fast vollständige bzw. vollständige Wiederherstellung.
Anschließend „versucht“ der Körper eine Regeneration, indem er vom Rückenmark her mit einer Geschwindigkeit von 1mm pro Tag neues Nervenmaterial über die Verletzungszone bringen will. Gelingt dies, kommt es zu einer schrittweisen Reinnervation, d. h. funktionellen Erholung. Gelingt dies durch das Ausmaß der Verletzung und der Zerreißung nicht, bleibt die Muskulatur ohne Nervenversorgung und baut sich ab.
Bei einer kindliche Plexusparese kann das Lähmungsausmaß meistens im Verlauf der ersten 3-9 Lebensmonate prognostisch eingeschätzt werden.
In rund 30 Prozent der Fälle bilden sich die Beeinträchtigungen innerhalb einiger Monate nach der Geburt wieder zurück. 70 Prozent der betroffenen Kinder sind dauerhaft mit den Folgen der Erb-Lähmung konfrontiert.
Therapie
Das Kind muss so schnell wie möglich bei einem Physiotherapeut mit Erfahrungen mit neuronalen Schäden bei Kindern vorgestellt werden. Um den verletzen Bereich zu entlasten und keine weiteren Schäden zu verursachen soll in den ersten 8-12 Tagen nach der Geburt der betroffene Arm ruhiggestellt und nicht therapiert werden.
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Der Physiotherapeut turnt je nach Bedarf regelmäßig mit dem Kind und weist dann die Eltern in die Übungen ein, die mehrmals täglich zu Hause durchgeführt werden müssen, da nur so der Muskelaufbau und die Erholung der Nervenfunktion erreicht werden kann. Die Übungen müssen immer wieder an die Entwicklung des Kindes angepasst werden. Der Physiotherapeut wird den Eltern auch Hinweise zur Lagerung und Umgang mit dem Kind (Handling) geben um nicht durch unsachgemäße Handhabung den Plexus noch zusätzlich zu schädigen.
In Deutschland werden die neurophysiologischen Therapiekonzepte nach Bobath und/oder Vojta empfohlen, die der Kinderarzt verschreibt. Bobath und vor allem Vojta sind sehr intensive Therapieformen, die beim Kind, sogar schon beim Säugling, große Wiederstände erzeugt. Hier müssen die Eltern großes Vertrauen zum Krankengymnasten entwickeln und unbedingt Kontakt zu anderen Betroffenen suchen. Sprechen Sie ggf. über die auftretenden Ängste.
Trotz guter, sensomotrischer Erholung kommt es häufig vor, dass der betroffene Arm nicht entsprechend seiner motorischen Möglichkeiten eingesetzt wird. Das Kind scheint ihn gar nicht wahrzunehmen. Hier handelt es sich um eine Störung des Körperschemas bei der Ergotherapie helfen kann.
Darüber hinaus existieren noch orthopädische Hilfen, Schienen bzw. Orthesen, die durch die Plexusparese auftretende Belastungs- Fehlstellungen lindern helfen sollen. Diese können begleitend zur Therapie eingesetzt werden, stellen aber üblicherweise keinen Ersatz für eine Krankengymnastik bzw. einem chirurgischen Eingriff dar. Eine Orthese beinhaltet statische und dynamische Lagerungselemente, fördert die Gelenkkorrektur und wirkt u.a. Für die Ruhezeiten - insbesondere die nächtliche Bettruhe - empfiehlt sich eine Orthesenbehandlung (Schiene). Die Concept 4D-Orthese wird individuell an das Kind angepasst und sorgt für eine dynamische Korrekturlagerung der oberen Extremität in vier Dimensionen bzw. Ebenfalls eine Alternative zur Schiene bzw. zur Orthese stellt das sogenannte “Tapen” dar. Diese können wie im Sport besondere Belastungen des Muskeln und Gelenke vorzubeugen.
Botulinum Toxin ist ein von Bakterien gewonnenes Muskelgift, das für einen begrenzten Zeitraum die Reizstromübertragung aussetzt. Botox wird in der Behandlung von kindlichen Plexusparesen genutzt, um Muskelungleichgewichte zwischen so genannten Antagonisten (Muskeln mit gegenläufiger Funktion wie z. B. Beuger und Strecker) zu behandeln. Botox muss direkt und gezielt in den Muskel appliziert werden; dies gelingt bei kleinen Kindern nur im Rahmen einer Kurznarkose. Die Wirkung hält sechs Monate an; ein Wirkungsmaximum ist nach drei Monaten erreicht.
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Sofern eine komplette Durchtrennung der Nerven vorliegt, ist eine schnelle operative Behandlung nach der Geburt notwendig. Hierbei wird unter anderem versucht, durch Nerventransplantationen die beschädigte Nervenbahn wiederherzustellen. Die Indikation zu den verschiedenen operativen Möglichkeiten bei schweren kindlichen Plexuslähmungen sollte früh festgelegt werden, deshalb ist es nützlich, dass Neugeborene mit einer spontan nicht erholenden kindlichen Plexusparese bereits mit drei Lebensmonaten vorzustellen. Die obere Erb’ sche Läsion wird anhand ihrer progressiven Erholung in Schulter-.
Neben diesen klassischen Nerven wiederherstellenden Eingriffen gibt es für kleine und große Kinder ein großes Spektrum an so genannten Sekundäroperationen, die im wesentlichen aus Gelenklösungen, Muskel- bzw. Sehnenverlagerungen bestehen. Größtes Problem ist eine progressive Innenrotationsfehlstellung der Schulter, die meist auf einem Ungleichgewicht zwischen den beginnend reinnervierenden Innenrotatoren und gelähmten Außenrotatoren der Schulter entsteht. Die anderen Sekundäreingriffe werden bei Kindern zwischen vier und dreizehn Jahren durchgeführt, im wesentlichen als Sehnen- bzw. als Muskelverlagerungen, um wesentliche Funktionen durch gut funktionierende Muskeln neu zu besetzen, z. B. die Fallhandstellung mit herabhängendem Handgelenk zu korrigieren, die Supinationsfehlstellung des Unterarmes, eine Beuge- oder Streckschwächung im Ellenbogen und insbesondere Bewegungsschwächen der Schulterregion mit mangelnder Abspreiz- bzw. Hebefunktion. Die meisten Sekundärkorrekturen bedürfen einer sechs wöchiger Ruhigstellung in einer Gips- bzw. Kunststoffmanschette.
Leben mit Erbscher Lähmung
Das Leben des Kinder ist ähnlich aber ein bisschen anders als das Leben ohne diese Verletzung. Einige Berufe und Tätigkeiten und einige Handgriffe des Alltags sind je nach Art der Verletzung schwierig bis unmöglich.
In der Entwicklung des Kindes können sich durch die veränderte Mechanik von Arm und Schulter Folgeschäden entwickeln, die wenn früh erkannt auch behoben oder zumindest gemildert werden können. Auch das Gleichgewicht kann betroffen sein. Es ist sehr wichtig, dass die Fortschritte des Kindes mit einem Tagebuch, Fotos und wenn möglich Videos dokumentiert werden.
Grundsätzlich sind alle Sportarten möglich. In einer Studie die von der amerikanischen Selbsthilfegruppe UBPN veröffentlicht wurde, wurde das Verletzungsrisiko für verschiedene Sportarten untersucht. Ein Babyschwimmkurs macht fast jedem Kind viel Freude und bietet ideale Bedingungen um Kraft zu trainieren und durch die einfachere Bewegung im Wasser ein breites Bewegungsspektrum auszuprobieren und neue Reize anzubieten. Viele Schwimmbäder, Familienorganisationen, Vereine und Hebammenpraxen bieten solche Kurse an.
Wie ein Puzzle das aus vielen Teilen besteht tragen viele Faktoren dazu bei das Bestmögliche aus der Situation zu machen und dem Kind eine hohe Lebensqualität zu ermöglichen. Als Eltern müssen Sie die Interessen Ihres Kindes vertreten und sich für das Kind einsetzen, auch wenn dies nicht immer leicht ist. In der laufenden Entwicklung werden sich immer wieder neue Fragen stellen, wie z.B. Schäden an der Wirbelsäule, Händigkeit, Körperschema, Sport usw. die geklärt werden müssen. Es ist fast unmöglich eine Prognose über die Mögliche Erholung des Kindes zu machen.
Schwerbehindertenausweis
Eine Schwerbehinderung liegt vor, wenn ein Kind durch die Folgen der Erb-Lähmung dauerhaft im Alltag beeinträchtigt ist. Dies ist bei jenen 70 Prozent der Fall, bei denen sich die Beeinträchtigung in den ersten Monaten nach der Geburt nicht deutlich bessern. Sie sind langfristig auf Physiotherapie angewiesen, ihre Erkrankung wird demzufolge als chronisch eingestuft. In diesem Fall besteht die Möglichkeit, einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen. Hierzu empfiehlt es sich, mit behandelnden Ärzten Rücksprache zu halten.
Benennung des betroffenen Arms
Der betroffene Arm sollte möglichst nicht mit einer negativ besetzen Bezeichnung in Verbindung gebracht werden. Der Arm ist nicht krank, schwach oder kaputt. Er ist auch kein Bagger- oder Schaufelarm. Am einfachsten ist es sehr früh schon vom rechten / linken Arm zu sprechen und zu erklären dass dieser etwas anders funktioniert.
Erb'sche Lähmung bei Kaiser Wilhelm II.
Ein bekanntes Beispiel für eine Erbsche Lähmung ist Kaiser Wilhelm II. Die Geburt des späteren Kaisers war kompliziert und langwierig. Am 27. Januar 1859 kam es zu einem medizinischen Notfall bei der Geburt von Kronprinz Wilhelm, dem späteren Kaiser Wilhelm II. Die Ärzte zogen ihn in Steißlage auf die Welt. Durch die Zangengeburt wurde sein linker Arm verletzt, was zu einer bleibenden Lähmung führte.
Der britisch-deutsche Historiker John C.G. Röhl schreibt später in seiner Biographie über Wilhelm II., dass „die meisten der zweifellos gut gemeinten Versuche der Ärzte, Wilhelms Geburtsverletzungen wieder in Ordnung zu bringen, objektiv gesehen einer massiven Misshandlung des zarten kleinen Jungen gleichkamen.“ Diese jahrelangen Missbehandlungen könnten zu einer schweren Persönlichkeitsstörung geführt haben. Nicht nur die Behandlungsmethoden, sondern auch die emotionale Kälte seiner Mutter, die sich nur schwer mit der Behinderung ihres Sohnes abfinden kann, lassen Wilhelm in seiner Kindheit leiden.