Demenz stellt eine erhebliche Herausforderung dar, nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für ihre Angehörigen, Freunde und professionell Pflegende in stationären und ambulanten Einrichtungen. Der Expertenstandard "Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz", entwickelt vom Deutschen Netzwerk für Qualitätssicherung in der Pflege (DNQP) in Kooperation mit dem Deutschen Pflegerat und gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit, bietet hierbei wichtige Orientierungshilfen. Dieser Artikel beleuchtet das Konzept der personenzentrierten Pflege, praktische Erfahrungen mit dem Expertenstandard und damit verbundene Herausforderungen.
Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung bei Demenz
Der Mensch ist ein Beziehungswesen und benötigt Kontakt zu anderen Menschen, um ein emotional erfülltes Leben zu führen. Zwischenmenschliche Beziehungen sind für pflegebedürftige oder kranke Menschen oft noch wichtiger als für gesunde Menschen. Dies gilt insbesondere für Menschen mit Demenz, deren kognitive Fähigkeiten beeinträchtigt sind, während ihre emotionale Wahrnehmung weitgehend erhalten bleibt. Eine Demenzerkrankung kann Angst, Paranoia und Wahnvorstellungen hervorrufen, die für Außenstehende oft schwer nachzuvollziehen sind. In solchen Momenten ist es umso wichtiger, dass der Patient Beziehungen zu anderen Menschen hat.
Eine gezielte Beziehungsgestaltung kann helfen, Patienten mehr emotionale Stabilität und Zufriedenheit zu verschaffen. Dabei steht nicht nur die Beziehung zwischen Pfleger und Patient im Fokus, sondern auch die Beziehung zu anderen Menschen. Zieht ein neuer Bewohner in eine Pflegeeinrichtung, kennt er dort häufig noch niemanden. Im Verlauf soll dann gefördert werden, dass die Beziehungen intensiviert werden und sich im besten Fall zu richtigen Freundschaften entwickeln.
Personenzentrierte Pflege als Grundlage
In der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz geht es um eine veränderte Perspektive, eine andere Haltung und bewusstes, empathisches Interagieren: weg von der funktionalen Ausrichtung hin zum Erhalt und zur Stärkung der Person. Menschen mit Demenz verlieren immer mehr Kompetenzen, wodurch ihr Identitätsgefüge aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Damit sich Pflegekräfte besser in diese Situation einfühlen können, hat Barbara Klee-Reiter das Demenz-Balance-Modell erarbeitet.
Ein wichtiger Punkt des Expertenstandards ist, dass eine personenzentrierte Pflege von Demenzpatienten gefordert wird. Der Expertenstandard fordert, dass die Beziehungsgestaltung von Akzeptanz, Vertrauen und Respekt geprägt sein sollte. Unterschiede zwischen Patient und Pflegekraft sollen außer Acht gelassen und hingenommen werden. Der Demenzpatient fühlt sich dadurch verstanden und angenommen. Diese Kompetenz sollen Pflegekräfte dann auch an andere Personen vermitteln.
Lesen Sie auch: Demenz und Beziehung: Der Expertenstandard
Inhalte und Struktur des Expertenstandards
Die Expertenstandards des DNQP sollen die Grundlage für eine kontinuierlich verbesserte Qualität der Pflege in Deutschland bilden. Der Expertenstandard richtet sich mit einer Anleitung an Pflegekräfte, die sie bei der Beziehungsgestaltung unterstützen soll.
Der Expertenstandard enthält ein 4-Phasenmodell, das die Vorgehensweise für seine Implementierung abbildet. Ganz zu Beginn des Prozesses sollten Sie sich Zeit für die Vorbereitung nehmen. Um den Expertenstandard umsetzen zu können, sollten Sie Ihre Mitarbeiter schulen und ihnen den Inhalt näherbringen. Nachdem das gesamte Pflegepersonal in die Implementierung miteinbezogen wurde, geht es an die Konkretisierung. Sie setzen sich mit dem Expertenstandard auseinander und arbeiten heraus, welche Prozesse in Ihrer Pflegeeinrichtung angepasst werden müssen. Mit Hilfe eines Audit-Instruments überprüfen Sie, ob die Kriterien umgesetzt wurden. Die Vorbereitungsphase und die Implementierung der vier Phasen sollen circa 6 Monate in Anspruch nehmen. Während der vier Phasen wird dann eine Projektverlaufsdokumentation erhoben. Sie notieren, welche Maßnahmen Sie einleiten, um die Kriterien des Expertenstandards umzusetzen.
Die fünf Handlungsebenen des Expertenstandards
Der Expertenstandard gliedert sich in fünf Handlungsebenen, die jeweils Struktur-, Prozess- und Ergebniskriterien umfassen:
- Haltung und Kompetenz: Die Pflegefachkraft hat eine person-zentrierte Haltung in der Pflege von Menschen mit Demenz entwickelt und verfügt über das Wissen und die Kompetenz, Menschen mit Demenz zu identifizieren und damit einhergehende Unterstützungsbedarfe in der Beziehungsgestaltung fachlich einzuschätzen. Die Einrichtung fördert und unterstützt eine personzentrierte Haltung für eine die Beziehung fördernde und - gestaltende Pflege von Menschen mit Demenz sowie ihren Angehörigen und sorgt für eine person-zentrierte Pflegeorganisation.
- Planung und Durchführung: Die Pflegefachkraft verfügt über Kompetenzen zur Planung und Koordination von beziehungsfördernden und - gestaltenden Maßnahmen der Pflege von Menschen mit Demenz. Die Einrichtung stellt sicher, dass die Pflege von Menschen mit Demenz auf Basis eines personzentrierten Konzepts gestaltet wird und verfügt über eine interdisziplinäre Verfahrensregelung, in der die Zuständigkeiten für beziehungsfördernde und - gestaltende Angebote definiert sind.
- Anleitung, Schulung und Beratung: Die Pflegefachkraft verfügt über Wissen und Kompetenzen zur Information, Anleitung, Schulung und Beratung über beziehungsfördernde und -gestaltende Angebote sowie deren Einbindung in Alltagssituationen. Die Einrichtung schafft Rahmenbedingungen für individuelle Anleitungen und Schulungen von Angehörigen und stellt zielgruppenspezifische Materialien für Information, Anleitung, Schulung und Beratung über beziehungsgestaltende Maßnahmen zur Verfügung.
- Maßnahmen und Angebote: Die Pflegefachkraft kennt beziehungsfördernde und - gestaltende Angebote und ist in der Lage, die Pflege von Menschen mit Demenz darauf auszurichten. Die Einrichtung schafft Rahmenbedingungen für personzentrierte, beziehungsfördernde und -gestaltende Angebote und sorgt für einen qualifikationsgemäßen Kenntnisstand aller an der Pflege Beteiligten.
- Evaluation: Die Pflegefachkraft verfügt über das Wissen und die Kompetenz zur Evaluation beziehungsfördernder und - gestaltender Pflege und überprüft laufend die Wirksamkeit der beziehungsfördernden und - gestaltenden Maßnahmen.
Konkrete Handlungsempfehlungen für die Pflege
Demenzkranke verlieren nach und nach die Fähigkeit, sich zu orientieren, Informationen zu verstehen und einzuschätzen. Mit anderen Worten: Sie verstehen sich selbst und ihre Umwelt nicht mehr. Nach den Vorgaben des Expertenstandards sollen Sie ihm in dieser Situation Sicherheit und Halt bieten. Dies gelingt Ihnen am besten, wenn Sie erkennen, welche Unterstützung Ihr demenzerkrankter Patient benötigt.
- Zu Beginn der Erkrankung: Das Erinnerungsvermögen ist nur punktuell beeinträchtigt. Der oberste Grundsatz lautet: Achten Sie die Selbstbestimmung. Nehmen Sie die Person unbedingt ernst und respektieren Sie die Selbstbestimmung. Fördern Sie eigenständige Aktivität und bleiben Sie tolerant. Sie sind rechtlich dazu verpflichtet, die Selbstbestimmung Ihrer Patienten zu wahren. Äußert ein Patient, dass er etwas nicht tuen möchte, müssen Sie dies akzeptieren.
- Im weiteren Verlauf der Erkrankung: Der Patient kann sich Neues immer schlechter merken, lässt sich leicht ablenken und kann sich nur noch über kurze Phasen hinweg konzentrieren. Alltagsaktivitäten kann er nicht mehr ohne Hilfe ausführen. Die Einsichtsfähigkeit lässt nach. Er verkennt häufig optische und akustische Umgebungsreize. Unterstreichen Sie Ihre Worte immer durch Gestik und Mimik. Dies kann leichter und länger verstanden werden als Sprache. Akzeptieren Sie Verhaltensauffälligkeiten. Behalten Sie einen möglichst gleichförmigen Tagesablauf bei. Bleiben Sie gelassen.
- In fortgeschrittenen Stadien: Der Patient hat kaum Erinnerungen, auch nicht an ganz frühe Lebensphasen. Das Sprachvermögen erlischt bis auf das Wiederholen einzelner Worte und Phrasen. Er versteht zunächst noch Körpersprache, später reduziert sich dieses Verständnis auf die Mimik. Die demenzerkrankte Person kann durch ihre verminderte Mobilität nicht mehr gezielt nach Reizen suchen oder Unangenehmes ausblenden. Daher ist es notwendig, dass Sie Reizüberflutung vermeiden und gezielt Sinnesanregungen anbieten. Vermeiden Sie Reizüberflutung, da der Patient die verschiedenen Reize nicht zuordnen oder ausblenden kann.
Herausforderungen und Kritik
Die Umsetzung des Expertenstandards kann in der Praxis auf verschiedene Herausforderungen stoßen. Dazu gehört, dass es vielen Menschen schwerfällt, mit den Auswirkungen der Demenz umzugehen. Das kann sich zum einen in Pflegeeinrichtungen zeigen, in denen Menschen mit Demenz und ohne Demenz zusammenleben. Zum anderen können solche Schwierigkeiten auch im sozialen Umfeld des Demenzpatienten auftreten. Etwa wenn langjährige Freunde sich abwenden, weil sie mit den Auswirkungen der Demenz nicht zurechtkommen. Sie fühlen sich nicht mehr als vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft. Dabei stehen dann aber die Erwartungen unserer heutigen Gesellschaft im Vordergrund und nicht die Bedürfnisse und Wünsche des Patienten.
Lesen Sie auch: Demenzpflege in Niedersachsen
Aktualisierung des Expertenstandards
Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) bereitet die erste Aktualisierung des Expertenstandards "Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz" vor. Dazu werde die aktuelle Evidenz zum Thema gesichtet und analysiert sowie eine neue Expertenarbeitsgruppe bestehend aus 15 Personen aus Pflegewissenschaft und Pflegepraxis einberufen, teilte das DNQP mit. Als wissenschaftliche Leitung der Expertenarbeitsgruppe werde weiterhin Martina Roes vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen zur Verfügung stehen.
Die Veröffentlichung der Aktualisierung und eine Kommentierung sind für Herbst 2026 geplant. Im Projektverlauf soll die Arbeitsgruppe zu mindestens einer Präsenzsitzung zusammenkommen. Der weitere Austausch soll digital erfolgen.
Mitarbeit in der Expertenarbeitsgruppe
Interessierte Pflegefachkräfte konnten sich bis Mitte Dezember für eine ehrenamtliche Mitarbeit in der Expertenarbeitsgruppe beim DNQP bewerben. Voraussetzung für die Teilnahme in der Arbeitsgruppe sei eine ausgewiesene Fachexpertise. Diese könnte bestehen aus: formaler fachlicher Qualifikation zum Thema (zum Beispiel Fachweiterbildung, wissenschaftliche Qualifikation), qualifizierter Praxis in diesem Bereich, Mitwirkung an pflegewissenschaftlichen Projekten zum Thema, Mitwirkung an der Einführung innovativer Praxiskonzepte, Fachveröffentlichungen und -vorträge. Ebenso müssen die Interessenten eigene Verbindungen zu Industrie oder Interessenverbänden offenlegen, um die wissenschaftliche und institutionelle Unabhängigkeit des Expertenstandards garantieren zu können.
Lesen Sie auch: Expertenstandard Demenz Schmerz
tags: #expertenstandard #beziehungsgestaltung #demenz #dnqp