Demenz stellt eine erhebliche Herausforderung für Betroffene, Angehörige, Freunde und professionelle Pflegekräfte in stationären und ambulanten Einrichtungen dar. Der Expertenstandard "Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz", entwickelt vom Deutschen Netzwerk für Qualitätssicherung in der Pflege (DNQP) in Kooperation mit dem Deutschen Pflegerat und gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit, bietet hierbei Orientierung. Im Fokus steht der Erhalt und die Stärkung der Person, weg von einer rein funktionalen Ausrichtung.
Die Person im Mittelpunkt: Personenzentrierte Pflege
Der Expertenstandard Demenz betont die Bedeutung einer personenzentrierten Haltung. Diese Haltung bedeutet, Menschen mit Demenz als gleichwertige Partner zu sehen, ihre subjektive Realität ernst zu nehmen und ihnen so weit wie möglich eigene Entscheidungen zu ermöglichen. Es geht darum, den Menschen mit Demenz in seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen.
Das Demenz-Balance-Modell
Barbara Klee-Reiter hat das Demenz-Balance-Modell erarbeitet, um Pflegekräften zu helfen, sich besser in die Situation von Menschen mit Demenz einzufühlen, die zunehmend Kompetenzen verlieren und deren Identitätsgefüge dadurch aus dem Gleichgewicht gerät.
Verstehenshypothesen: Der Schlüssel zum Handeln
Um von einer Haltung zum Handeln zu gelangen, bedarf es einer Verstehenshypothese. Diese begründete Annahme darüber, was ein bestimmtes Verhalten bedeuten könnte, stützt sich auf die Biografie, die aktuelle Situation und nonverbale Signale der Person mit Demenz. Im Team der Pflegeeinrichtung wird daraus ein gemeinsamer Deutungsansatz entwickelt, der im Alltag erprobt und bei Bedarf angepasst wird. So wird ein überraschender Moment im Verhalten eines Menschen mit Demenz für alle bearbeitbar.
Validation: Gefühle anerkennen, Sicherheit geben
Wenn die Worte einer Person mit Demenz verletzen oder Angst ausdrücken, kann Validation helfen: Aussagen gelten lassen, Gefühle anerkennen und Sicherheit geben, bevor man korrigiert. Dieser Ansatz öffnet Türen, die durch reine Aufklärung verschlossen bleiben würden. Aus Anerkennung wächst Vertrauen, und aus Vertrauen entsteht Gestaltungsspielraum als Basis für eine gute Demenzpflege.
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Beispiel: Wenn Frau Müller sagt: "Der Koch hat das Essen vergiftet", würde ein Widerspruch die Situation verschärfen. Eine ruhige Antwort wie "Das klingt beunruhigend. Erzählen Sie mir mehr" öffnet sie hingegen. Daraus kann im Team die Verstehenshypothese entstehen, dass "Essen" für Frau Müller "Sicherheit" bedeutet. Neue Angebote wie ein kurzes Gespräch mit dem Küchenpersonal, ein vertrautes Rezept oder ein ruhiger Sitzplatz können die Situation verbessern.
Struktur, Prozess, Ergebnis: Das Haus der Demenzpflege
Der Expertenstandard Demenz lässt sich wie ein Haus denken:
- Struktur: Das Fundament bilden Zeitfenster, Bezugspflege und Supervision.
- Prozess: Der Bau besteht aus Hypothese, Planung, Anleitung und Anpassung.
- Ergebnis: Das bewohnbare Zuhause steht für Geborgenheit, Teilhabe und Ruhe.
Bezugspflege als tragende Säule
Bezugspflege hält diesen Rahmen zusammen, da kontinuierliche Ansprechpersonen die feinen Signale kennen, biografische Anker schneller verstehen und Halt geben können, falls die Situation kippt. Für Menschen mit Demenz bedeutet dies vertraute Gesichter, die ihren Ton kennen und ihren Takt respektieren. Den Mitarbeitenden ermöglicht dieser Rahmen, zügig anschlussfähig zu sein, vom Frühdienst bis zur Nacht.
Vom Deuten ins Tun: Planen und Koordinieren
Aus der Verstehenshypothese wird Praxis, indem Zuständigkeiten geklärt, Informationen sichtbar gemacht und Wirkungen beobachtet werden. Der Maßnahmenplan wird entsprechend angepasst. Beziehungsgestaltung gelingt, wenn jede Berufsgruppe weiß, warum etwas passiert und wie sie dazu beiträgt.
- Pflegefachpersonen prüfen die Verstehenshypothese im Kontakt mit der Person, formulieren klare Maßnahmen und dokumentieren kurz, was sich verändert hat.
- Pflegehilfspersonen tragen das Konzept in die kleinen Momente, indem sie ruhig und klar sprechen, nonverbale Signale beachten und Rückmeldung geben.
- Leitungskräfte übersetzen das Vorgehen in Struktur, indem sie Zeitfenster schaffen, Bezugspflege sicherstellen und Reizschutz ermöglichen.
- Betreuung, Hauswirtschaft und Küche lassen die Verstehenshypothese im Alltag Gestalt annehmen, indem sie beispielsweise gemeinsam probieren, wenn "Essen" Sicherheit bedeutet, oder die Spülmaschine während des Singkreises ausschalten, wenn Geräusche Stress auslösen.
- Angehörige sind Mitgestaltende, indem sie durch kurze Telefonate, Familienrezepte oder Biografie-Details die Verstehenshypothese schärfen.
Kontakt-Routine für den Alltag
Für den Alltag bewährt sich eine kurze Kontakt-Routine:
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- Vor dem Kontakt ein Blick in die Biografie und letzte Notiz.
- Im Kontakt klare Sätze, freundlicher Ton, angepasstes Tempo.
- Danach eine Dokumentation zu Stimmung, Interaktion, Eingebundensein und Sicherheit.
Diese knappe Notiz hält das Team beim Schichtwechsel anschlussfähig.
Beziehung im Alltag gestalten
Beziehung entsteht im Alltag: beim Waschen, Essen, Gehen, Warten. Der Expertenstandard Demenz ruft hier zur Zuwendung und Präsenz auf. Die Versorgung mit individuellen Hilfsmitteln wie Brille oder Hörgerät gehört selbstverständlich dazu. Zwischen Realitätsorientierung und dem Einlassen auf subjektive Realitäten braucht es Fingerspitzengefühl; heute hilft ein Anker in der Gegenwart, morgen das vertraute Lied von früher.
Vielfältige Angebote für Menschen mit Demenz
Die Angebotspalette für Menschen mit Demenz ist vielfältig und umfasst:
- Erinnerungspflege mit Fotoalben oder Gesprächen über frühere Berufe
- Musik und Tanz aus der Jugend
- Geschichten und kleine Rollenspiele
- Puppen oder Stofftiere als Gesprächsanlass
- Gartenarbeit mit Kräuterdüften und Gießkanne
- Technik für einen virtuellen Museumsbesuch
Entscheidend ist die Passung: Reize werden person- und phasengerecht dosiert. Hilfreiche Reize dürfen bleiben, überfordernde Reize werden reduziert.
Rahmenbedingungen für Beziehungsgestaltung
Beziehungsgestaltung benötigt entsprechende Rahmenbedingungen, wie geschützte Bereiche, Reizschutz mit Lautstärke-Regulierung und Orientierungshilfen, zeitliche Ressourcen für Rituale und Tagesrhythmen sowie eine Bezugspflege mit Team-Supervisionen für Reflexion.
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Drei weiche Schritte in schwierigen Momenten
In schwierigen Momenten können drei weiche Schritte helfen:
- Reize reduzieren: Fernseher aus, einen ruhigen Ort schaffen.
- Tempo senken: Atmen, pausieren, neu beginnen.
- Nähe ohne Druck: Da sein, warten, wieder anbieten.
Eine kurze Dokumentation reicht, damit das Team anschließen kann.
Goldene Momente festhalten
Auch die schönen Momente gehören dokumentiert: Ein Lächeln, das bleibt; ein Blick, der Kontakt sucht; ein Mitsingen, das den Raum füllt; ein Kopf, der sich anlehnt; ein ruhiger Schlaf nach einem vertrauten Ritual. Diese Momente sind das Ergebnis gelingender Beziehungsgestaltung im Rahmen des Expertenstandards Demenz.
Evaluation: Vier Kriterien, die tragen
Die Bewertung der Beziehungsgestaltung im Rahmen des Expertenstandards Demenz erfolgt kriteriengeleitet und bezieht Team, Angehörige und, wo möglich, die Stimme der Person mit Demenz ein.
Vier Felder dienen als Orientierung:
- Stimmung/Affekt: Anspannung oder Entspannung
- Beziehung/Interaktion: Kontaktaufnahme, Reaktion
- Betätigung/Eingebundensein: Beteiligung oder Rückzug
- Sicherheit/Geborgenheit: Ruhiger Schlaf, Orientierung, Interesse
Die Wirkungsschleife
Auf dieser Basis wird der Maßnahmenplan zeitnah und transparent angepasst. So entsteht eine Wirkungsschleife aus beobachten, deuten, erproben, notieren und nachsteuern.
Weiterbildung und Schulung
Um den Anforderungen des Expertenstandard Demenz gerecht zu werden, ist eine regelmäßige Weiterbildung der Pflegekräfte unerlässlich. Relias bietet beispielsweise einen E-Learning-Kurs zum Thema "Expertenstandard - Beziehungsgestaltung bei Demenz" an, der praxisnah durch alle Handlungsebenen führt und die Teilnehmenden in die Lage versetzt, individuelle Unterstützungsbedarfe zu erkennen, eine personenzentrierte Haltung zu entwickeln und die strukturellen Anforderungen an Pflegeeinrichtungen und Pflegende zu verstehen.
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