Früher wurden Epilepsien vereinfacht nach ihrem Schweregrad in Grand-mal-Anfälle („große“ Anfälle) und Petit-mal-Anfälle („kleine“ Anfälle) eingeteilt. Diese Einteilung wurde jedoch immer weiter verfeinert, sodass heute sehr viele Epilepsieformen unterschieden werden. Die Einteilung basiert unter anderem auf dem Ursprungsort der Epilepsie und der Ausprägung der Anfälle.
Ursachen und Klassifikation von Epilepsie im Kindesalter
Epilepsie ist eine neurologische Erkrankung, die durch das wiederholte Auftreten unprovozierter Anfälle gekennzeichnet ist, die auf einer plötzlichen, abnormalen elektrischen Aktivität im Gehirn beruhen. Die Internationale Liga gegen Epilepsie (ILAE) hat die Klassifikation und Terminologie im Jahr 2017 überarbeitet. Die aktualisierte ILAE-Klassifikation besitzt eine dreistufige Grundstruktur:
- Bestimmung des Anfallstyps bzw. der Anfallsform (generalisierter, fokaler oder unklarer Beginn).
- Bestimmung der Art der Epilepsie anhand der Ätiologie (strukturell, genetisch, infektiös, metabolisch, immunologisch oder unbekannt).
- Zuordnung zu einem spezifischen Epilepsie-Syndrom, falls möglich.
Strukturelle Ursachen
Eine strukturelle Epilepsie ist mit umschriebenen pathologischen Hirnveränderungen assoziiert, die erworben oder genetisch bedingt sein können. Beispiele hierfür sind Hirntumore, Hirninfarkte, Kontusionsdefekte, vaskuläre Malformationen, Enzephalozelen, fokale kortikale Dysplasien, Polymikrogyrie der kortikalen Neurone, hypothalamische Hamartome oder eine Hippocampussklerose. Auch perinatale Hirnschädigungen, oft infolge von Sauerstoffmangel während der Geburt, können eine Epilepsie verursachen.
Genetische Ursachen
In den letzten Jahren wurden mehrere hundert Gene und Genveränderungen identifiziert, die vermutlich oder sicher eine Epilepsie (mit)verursachen. Die Mehrzahl der Fälle von idiopathischen generalisierten Epilepsien (IGE) sind polygenetische Erkrankungen. Das Erkrankungsrisiko hängt von verschiedenen genetischen Suszeptibilitätsfaktoren und Umwelteinflüssen ab. Seltener ist nur ein Gen betroffen, wobei die Mutation vererbt werden oder de novo auftreten kann.
Infektiöse Ursachen
Infektionen sind weltweit eine häufige Ursache von Epilepsie. Beispiele hierfür sind Neurozystizerkose, Tuberkulose, HIV, zerebrale Malaria, subakute sklerosierende Panenzephalitis, zerebrale Toxoplasmose und kongenitale Infektionen. Auch post-infektiöse Entwicklungen einer Epilepsie sind möglich, beispielsweise nach einer viralen Enzephalitis.
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Metabolische Ursachen
Eine metabolisch verursachte Epilepsie ist die direkte Folge einer Stoffwechselstörung, die epileptische Anfälle als Kernsymptomatik aufweist. Es wird angenommen, dass die meisten metabolisch bedingten Epilepsien einen genetischen Hintergrund haben und nur selten erworben sind.
Immunologische Ursachen
Eine immunologische Epilepsie ist auf eine autoimmun vermittelte Entzündung des ZNS zurückzuführen, wie beispielsweise die Kalium-Kanal-Antikörper (LGI1)-bedingte limbische Enzephalitis und die NMDA-Rezeptor-Antikörper assoziierte Enzephalitis.
Unbekannte Ursachen
Neben den zuverlässig differenzierbaren Epilepsien gibt es Formen, deren Ursache (noch) nicht bekannt ist. Die neurobiologischen Zusammenhänge der Epileptogenese sind bislang nicht bis ins letzte Detail verstanden.
Symptome und Anfallsformen
Die Symptome der unterschiedlichen Epilepsieformen variieren stark. Das klinische Bild richtet sich nach der Lokalisation und dem Ausmaß der neuronalen Fehlerregung sowie nach der Art des Anfallgeschehens. Die ILAE unterscheidet grundsätzlich zwischen Anfällen mit fokaler, generalisierter oder unbekannter Ausbreitung. Darüber hinaus werden diese in Formen mit motorischen und nicht-motorischen Bewegungsstörungen eingeteilt. Bei fokal beginnenden Anfällen wird zusätzlich unterschieden, ob der Patient bei Bewusstsein ist oder nicht.
Fokale Anfälle
Fokale Anfälle, auch partielle oder lokalisationsbezogene epileptische Anfälle genannt, gehen immer von einem bestimmten Bereich des Gehirns aus und betreffen in der Regel nur eine Gehirnhälfte. Man unterscheidet fokale Anfälle mit Bewusstseinseinschränkung und fokale Anfälle ohne Bewusstseinseinschränkung. Die Symptome richten sich nach dem Ursprungsort im Gehirn.
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Symptome fokaler Anfälle
- Vegetative fokale Anfälle: Plötzliche Angst, Wut oder Halluzinationen.
- Störungen der Sinneswahrnehmung: Blitze sehen, Geräusche oder Stimmen hören, komischer Geschmack im Mund, merkwürdige Gerüche, Temperatur-Missempfindungen, Kribbeln oder Lähmungserscheinungen.
- Automatismen: Wiederholung bestimmter Handlungsmuster.
Generalisierte Anfälle
Bei generalisierten Anfällen lässt sich keine bestimmte Hirnregion zuordnen, in der der epileptische Anfall entsteht. Während eines Anfalls kann die Ausbreitung unterschiedlich verlaufen und das gesamte Hirnareal betreffen.
Arten generalisierter Anfälle
- Absencen: Plötzliche Bewusstseinsstörung, bei der der Patient seine momentane Tätigkeit unterbricht und ins Leere starrt.
- Myoklonischer Anfall: Muskelzuckungen ohne Bewusstseinsstörungen.
- Tonisch-klonischer Anfall (Grand-mal-Anfall): Initialer Schrei, gefolgt von Anspannung der Körpermuskulatur, die in Zuckungen übergeht. Bewusstseinsverlust und Blaufärbung der Lippen sind typisch.
- Atonischer Anfall: Verlust der Muskelkraft.
Grand-Mal Epilepsie (Tonisch-klonischer Anfall) im Detail
Die Grand-Mal Epilepsie, heute als tonisch-klonischer Anfall bezeichnet, ist eine Anfallsform, bei der das ganze Gehirn betroffen ist. Sie zeigt sich durch typische Symptome:
- Plötzlicher Bewusstseinsverlust: Das Kind verliert abrupt das Bewusstsein und reagiert nicht mehr auf Ansprache.
- Atemprobleme: Während des Anfalls kann die Atmung kurz aussetzen, was zu einer Blaufärbung der Lippen führen kann.
- Verletzungsgefahr: Durch das plötzliche Hinfallen und die heftigen Zuckungen besteht ein hohes Risiko für Verletzungen.
- Unkontrollierte Körperfunktionen: Es kann zu Urin- oder Stuhlabgang kommen.
- Erschöpfung und Orientierungslosigkeit: Nach dem Anfall ist das Kind meist sehr müde, verwirrt und braucht Zeit, um sich zu orientieren.
Phasen eines Grand-Mal-Anfalls
- Tonische Phase (Verkrampfung): Der gesamte Körper wird steif und verkrampft sich.
- Klonische Phase (Zuckungen): Rhythmische, unkontrollierte Zuckungen aller Gliedmaßen.
- Postiktale Phase (Nachschlaf, Verwirrung): Erschöpfung, tiefer Schlaf, Benommenheit, Desorientierung und Verwirrung.
Epilepsie-Syndrome im Kindesalter
Bestimmte Symptome, Abläufe und aktivierte Gehirnregionen können zu fest definierten Epilepsie-Syndromen zusammengefasst werden. Diese unterscheiden sich anhand der Epidemiologie (Verbreitung), der Klinik (Ablauf/Symptome des Anfalls) und weiterer Befunde in der Diagnose.
Häufige Epilepsie-Syndrome bei Kindern
- Absence-Epilepsie des Schulkindalters (Pyknolepsie): Genetisch bedingte Form mit bis zu 100 Absencen am Tag.
- Juvenile Absence-Epilepsie: Weniger Absencen am Tag, oft in Verbindung mit tonisch-klonischen Krämpfen.
- Rolando-Epilepsie: Häufige Form mit oft nächtlichen Anfällen, die meist nur sporadisch auftreten.
- Primäre Lese-Epilepsie: Epileptische Anfälle werden durch lautes oder leises Lesen ausgelöst.
- West-Syndrom (BNS-Epilepsie): Seltene, ernst zu nehmende Epilepsie bei Babys mit Blitz-, Nick- und Salaam-Anfällen.
- Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS): Seltene Form mit verschiedenen Anfallsformen, oft in Verbindung mit Fehlbildungen oder Schädigungen des Gehirns.
- Juvenile myoklonische Epilepsie: Tritt typischerweise im Alter von zwölf bis 18 Jahren auf, charakterisiert durch Muskelzuckungen (Myoklonien).
- Dravet-Syndrom: Sehr seltene und schwere Form, die meist im Alter von drei bis zwölf Monaten beginnt.
Diagnose
Die Diagnose von Epilepsie basiert auf dem Anfallgeschehen und wird durch Zusatzbefunde erhoben, die auf eine Prädisposition für weitere epileptische Anfälle hindeuten. Dazu gehören epilepsietypische Potenziale im Elektroenzephalogramm (EEG) und/oder zum Anfallsereignis passende strukturelle Läsionen in der Bildgebung.
Behandlung
Die Behandlung von Epilepsie basiert nahezu immer auf einer medikamentösen Therapie, ggf. begleitet von nicht pharmakologischen Maßnahmen wie ketogener Diät und Psychotherapie.
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Medizinische Behandlung
- Medikamente (Antiepileptika): Reduzieren die Häufigkeit und Schwere der Anfälle. Die Einstellung auf das richtige Medikament ist individuell und erfordert eine enge Zusammenarbeit mit Fachärzten.
- Regelmäßige Kontrollen: Wichtig, um die Therapie zu überwachen, Nebenwirkungen zu erkennen und die Behandlung gegebenenfalls anzupassen.
- Individuelle Therapiepläne: Manche Kinder profitieren zusätzlich von speziellen Diäten (z. B. ketogene Diät) oder ergänzenden Therapien.
Ketogene Diät
Bei schwer behandelbaren Epilepsien kann eine ketogene Diät empfohlen werden. Dabei werden nur wenig Kohlenhydrate und stattdessen vor allem Fette aufgenommen. Diese Diät hat zur Folge, dass sich der Stoffwechsel umstellt: Um Energie zu gewinnen, wird Fett statt Zucker abgebaut. Der erhöhte Gehalt an Fettsäuren im Blut soll wiederum die Signalübertragung der Nervenzellen im Gehirn beeinflussen und zu weniger Anfällen führen.
Operation
Eine Operation kommt infrage, wenn sich eine belastende Epilepsie nicht gut mit Medikamenten behandeln lässt. Sie ist nur möglich, wenn die Anfälle von einer ganz bestimmten Stelle im Gehirn ausgehen (fokale Epilepsie). Es sind verschiedene Operationsverfahren möglich, bei denen das Hirngewebe in dem Bereich entfernt oder stillgelegt wird, in dem der epileptische Anfall entsteht.
Vagusnerv-Stimulation
Dabei wird eine Elektrode links am Hals eingepflanzt und mit einem kleinen Gerät verbunden, das im Brustbereich unter der Haut eingesetzt wird. Das Gerät sendet über die Elektrode elektrische Impulse an den Vagusnerv und weiter ans Gehirn. Diese Impulse sollen bestimmte Gehirnaktivitäten hemmen und dadurch Anfällen vorbeugen.
Erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall
Beim Auftreten eines epileptischen Anfalls geht es vor allem darum, anfallsbedingte Verletzungen zu vermeiden.
- Ruhe bewahren!
- Unerfahrene Ersthelfer sollten den Rettungsdienst rufen.
- Die Dauer des Anfalls registrieren.
- Die betroffene Person liegend aus einer Gefährdungssituation bringen und vor Verletzungen schützen.
- Beengende Kleidungsstücke (Schal, Halstücher etc.) sollten gelockert bzw. geöffnet werden.
Prognose und Lebenserwartung
Die Prognose bezüglich Anfallsfreiheit variiert stark. Im Kindesalter ist die Prognose außerdem sehr gut, sodass nicht jeder einmalige Anfall sofort zu einer dauerhaften Therapie führen muss. Bis zu zwei Drittel der Patientinnen und Patienten werden durch die medikamentöse Therapie mit Antikonvulsiva anfallsfrei. Da Epilepsie jedoch nicht heilbar ist, gilt die Anfallskontrolle als wichtigstes Ziel.
Das Sterblichkeitsrisiko im jüngeren Lebensalter ist bei Epilepsiepatienten grundsätzlich gegenüber der gesunden Normalbevölkerung erhöht. Mögliche Ursachen sind: plötzlicher, unerwarteter Tod bei Epilepsie (SUDEP), Unfälle durch Anfall, insbesondere Ertrinken, Status epilepticus und Selbsttötung.
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