Funktionelle Neurologische Störungen (FNS): Definition, Diagnose und Therapie

Funktionelle neurologische Störungen (FNS) stellen ein komplexes und oft missverstandenes Gebiet der Neurologie dar. Patienten mit FNS erleben häufig, dass ihre Beschwerden nicht ernst genommen werden, obwohl groß angelegte Studien und neurowissenschaftliche Erkenntnisse die Relevanz dieser Störungen unterstreichen. Ein biopsychosoziales Modell ermöglicht eine effektivere, ganzheitliche Behandlung durch mehrschichtige Diagnostik und multidisziplinäre Therapie.

Was sind Funktionelle Neurologische Störungen?

Funktionelle neurologische Störungen umfassen Symptome wie Schwindel, Tremor, Anfälle, Vergesslichkeit oder Lähmungen, deren Entstehung und Aufrechterhaltung von neurophysiologischen und psychosozialen Faktoren bestimmt werden, aber nicht auf eine spezifische Läsion des Nervensystems zurückzuführen sind. Die Symptome treten zwar auf der Ebene der neuronalen Informationsverarbeitung auf, sind jedoch mit Veranlagungen und Fehlanpassungen auf vielen anderen Ebenen verzahnt. Sie können von den Betroffenen nicht bewusst kontrolliert werden, unterliegen jedoch den Einflüssen von Aufmerksamkeit, Erwartungen und Emotionen. Da keine spezifischen strukturellen Veränderungen nachweisbar sind, wurden derartige Störungen oft als „psychogen“, „psychosomatisch“ oder „somatoform“ bezeichnet. Diese Terminologie wird jedoch der Pathophysiologie funktioneller Störungen nicht gerecht.

Epidemiologie und Häufigkeit

FNS sind keineswegs selten. Studien zeigen, dass sie in verschiedenen neurologischen Kontexten häufig vorkommen:

  • In einer Studie zur Notfalltherapie von epileptischen Anfällen wurde bei einem Zehntel der Patienten die Diagnose nachträglich zu „dissoziativer Anfall“ korrigiert.
  • Bei Verdacht auf Schlaganfall liegt die Rate funktioneller Störungen bei etwa 8 %.
  • In allgemeinen neurologischen Sprechstunden ist etwa jeder sechste Patient betroffen.
  • Ein Drittel der neurologisch Kranken weisen funktionelle neurologische Symptome (FNS) auf.

Patienten mit FNS haben oft einen höheren Leidensdruck, erleben soziale Isolation und einen höheren Behinderungsgrad als Patienten mit organischen Symptomen. Zudem beanspruchen sie doppelt so viele medizinische Ressourcen, da FNS häufig übersehen oder falsch diagnostiziert werden.

Ursachen und Risikofaktoren

Es gibt eine Reihe von verschiedenen Faktoren, die - allein und in Wechselwirkung miteinander - zum Auftreten der FNS beitragen. Das Vorliegen einer neurologischen Erkrankung zählt zu einem der wichtigsten Risikofaktoren für die Entwicklung der FNS. Psychosozialer Stress in der Kindheit und im Erwachsenenalter stellt einen Risikofaktor sowohl für das Auftreten der FNS als auch für die erhöhte Schubaktivität bei MS dar. Solche Lebenserfahrungen bewirken eine veränderte Programmierung der biologischen Stressbewältigungssysteme, u.a. der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHN-Achse). Dies führt zu einer dauerhaft verstellten Stressantwort, was u.a. eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Psychopathologien nach sich zieht. Ein erheblicher Anteil der MS- und FNS-Patient:innen leidet an psychischen Störungen wie Depression und Angststörungen, die zusätzlich zu o.g. Faktoren durch einen inadäquaten Umgang mit Gefühlen gefördert werden. Traumatisierende Erfahrungen sind bei Patienten mit funktionellen neurologischen Störungen häufiger anzutreffen als in der Allgemeinbevölkerung, können aber auch fehlen und dürfen daher nicht automatisch unterstellt werden. Gleiches gilt für affektive Störungen, die zwar häufig, aber keineswegs obligat sind.

Lesen Sie auch: Umfassender Leitfaden: FNS Rehabilitation

Diagnose von FNS

Funktionelle neurologische Störungen werden nach neuerer Auffassung nicht über das Ausschlussprinzip diagnostiziert, sondern anhand charakteristischer Krankheitsmerkmale und klinischer Zeichen. Je nach Leitsymptom müssen spezifische Merkmale und Untersuchungszeichen berücksichtigt werden, um die Diagnose zu sichern.

  • Kneift zum Beispiel ein Patient während eines Anfalls die Augen zu und schlägt den Kopf abwechselnd nach links und rechts, spricht das eindeutig für einen dissoziativen Anfall.
  • Bei einem funktionellen Tremor kann bei vorgegebenen Bewegungen der Gegenseite eine Phasenkopplung beobachtet werden (Entrainment-Zeichen).
  • Wird eine funktionelle Parese des Beines vermutet, so kann durch bestimmte Untersuchungstechniken unter Ausnutzung kompensatorischer Bewegungsabläufe eine passagere Wiederherstellung der Kraft nachgewiesen werden (z. B. Hoover-Test).

Anamnese und Untersuchungsbefund erlauben in den meisten Fällen eine frühere und verlässlichere Diagnosestellung als der bloße Ausschluss alternativer Ursachen. Obwohl psychosoziale Faktoren in den Diagnosekriterien der ICD-11 und DSM-V nicht mehr gefordert werden, sind sie zum Verständnis der Krankheit und zur ganzheitlichen Behandlung weiterhin unverzichtbar. Dysfunktionale Verhaltensweisen und emotionale Belastungen sollten von Anfang an als mögliche Teilaspekte des Störungsbildes aufgefasst werden, ohne voreilig über Kausalzusammenhänge zu spekulieren. Eine „biperspektivische“ Diagnostik, die psychosoziale und biologische Aspekte gleichzeitig und gleichermaßen berücksichtigt, ist notwendig, um sinnvolle Ansatzpunkte für eine multimodale Therapie zu finden. Natürlich kann hierbei eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Vorteil sein. Allerdings sollte die Erörterung psychosozialer Aspekte nicht ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Behandlern überlassen werden.

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse

Erste Studien haben mittels funktioneller Magnetresonanztomografie eindrücklich zeigen können, dass funktionelle Paresen spezifische neuronale Aktivierungsmuster aufweisen, die sich von denen der bewussten Simulation klar unterscheiden. Später wurde gezeigt, dass der Unterschied zwischen einem funktionellen Tremor und einem bewusst nachgemachten Tremor in einer schwächeren Aktivierung des rechten temporoparietalen Übergangs liegt - eine Hirnregion, die am Abgleich zwischen beabsichtigten und tatsächlichen Bewegungen beteiligt ist. Stimmen Absicht und Bewegung nicht überein, entsteht kein „Handlungsbewusstsein“. Diese Beobachtungen erklären, warum funktionelle Bewegungsstörungen, die eigentlich der Willkürmotorik entspringen, als unwillkürlich empfunden werden. Fehlerhafte motorische oder sensorische „Erwartungen“ (engl. priors), die auf verschiedenen Ebenen der Informationsverarbeitung im Nervensystem verankert sein können, führen zu einer automatischen Fehlanpassung des Systems, die sich als erlebtes oder unbewusst produziertes Symptom äußert. Weitere experimentelle Studien konnten den Zusammenhang derartiger Vorgänge mit Emotionalität und vorausgegangenen Traumaerfahrungen beleuchten. Obwohl noch vieles ungeklärt bleibt, können seit der Jahrtausendwende die Konturen der zugrunde liegenden Biologie erstmals erahnt werden. Dieser Brückenschlag zwischen Neurobiologie und Psychologie bietet die Chance, funktionelle neurologische Störungen vom Stigma und Mythos der „Hysterie“ zu lösen und wieder in die akademische und klinische Neuromedizin aufzunehmen.

Therapieansätze

Funktionelle neurologische Störungen (FNS) erfordern einen multimodalen Behandlungsansatz, er umfasst also unterschiedliche Behandlungsbausteine. Die Therapie umfasst sowohl physiotherapeutische als auch psychotherapeutische Methoden. Die Behandlung soll die Symptome lindern, die Funktionalität des Körpers verbessern und die Lebensqualität der Betroffenen erhöhen. Funktionelle neurologische Störungen haben unter den Bedingungen des aktuellen klinischen Managements insgesamt eine schlechte Prognose. Derartige Langzeitverläufe legen nahe, dass eine frühzeitige und niederschwellige Therapie zwingend erforderlich ist.

Psychotherapie

Psychotherapeutische Verfahren haben sich bei der Behandlung diverser funktioneller Störungen als hilfreich erwiesen. Das methodische Vorgehen leitet sich jeweils von einem Fokus auf Schwierigkeiten in der Emotionsregulation, wiederholten interaktionellen Störungen oder Traumafolgestörungen ab. Bei den meisten Ausprägungsformen scheint auch die Förderung von körperlicher Wahrnehmung und Bewegung hilfreich für die Behandlung. Dies kann unter anderem durch gezielte körperpsychotherapeutische Methoden erfolgen, wie in einem neuen Therapiemanual für dissoziative Anfälle beschrieben.

Lesen Sie auch: Überblick über die funktionelle neurologische Störung gemäß ICD-11

Bewegungstherapie

Bewährt haben sich zudem bewegungstherapeutische Behandlungen, die speziell auf die Pathophysiologie funktioneller Störungen ausgerichtet sind. In aktuellen Studien konnte ein anhaltender Therapieerfolg für funktionelle Bewegungsstörungen gezeigt werden. Auch bei der Behandlung funktioneller Schwindelsyndrome zeigen spezialisierte physiotherapeutische Verfahren gute Wirksamkeit, insbesondere wenn sie mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen kombiniert werden.

Weitere Therapiebausteine

  • Physiotherapie: Sie hilft Patient:innen, die Kontrolle über ihre Körperbewegungen wiederzuerlangen und die motorischen Funktionen zu verbessern. Durch gezielte Übungen werden Bewegungsabläufe trainiert, die Koordination wird geschult und die Muskelkraft gestärkt. Unsere Physiotherapeut:innen stimmen die Therapie individuell auf die Bedürfnisse ihrer Patient:innen ab. Auch Techniken zur Entspannung und Schmerzlinderung gehören zum Programm.
  • Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Sie zielt darauf ab, dysfunktionale, also schädliche, Denkmuster und Verhaltensweisen zu identifizieren und zu verändern. In der KVT lernen ihre Patient:innen, ihre Symptome besser zu verstehen. Sie entwickeln Strategien, um mit Stress und emotionalen Belastungen anders als bisher umzugehen. Die individuellen Therapieziele werden gemeinsam gesetzt.
  • Ergotherapie: Sie unterstützt Patient:innen mit FNS dabei, ihre normalen Aktivitäten und beruflichen Aufgaben wieder aufzunehmen. Die Therapie konzentriert sich auf die Verbesserung der Handlungsfähigkeit. Ergotherapeut:innen helfen den Betroffenen, Hilfsmittel richtig einzusetzen und sie beraten zu Anpassungen im häuslichen oder beruflichen Umfeld.
  • Entspannungstechniken: Techniken wie progressive Muskelentspannung, autogenes Training oder Achtsamkeitsübungen können dazu beitragen, die Symptome von FNS zu reduzieren. Diese Techniken helfen den Patient:innen, Stress und Anspannung abzubauen, und fördern dadurch das allgemeine Wohlbefinden.
  • Edukation: Patient:innen erhalten Informationen über ihre Erkrankung und lernen, wie sie ihren Alltag besser bewältigen können. Es werden Selbstmanagement-Strategien vermittelt. Diese sollen den Patient:innen den Umgang mit ihren Symptomen erleichtern und die Selbstständigkeit fördern.

Aktuelle Entwicklungen und Forschung

Seit der Jahrtausendwende ist eine allmähliche Wiederentdeckung funktioneller Störungen in der Neurologie zu beobachten. Angetrieben durch Studien, die die Zuverlässigkeit der klinischen Diagnostik belegen, und experimentelle Untersuchungen, die erstmals die zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen beleuchten, mündet das klinische Interesse nun auch in groß angelegte Therapiestudien. Für die CODES-Studie etwa konnten multizentrisch 698 Patienten mit dissoziativen Anfällen rekrutiert werden, von denen 186 eine anfallsspezifische kognitiven Verhaltenstherapie erhielten. Eine multizentrische Studie zur Physiotherapie bei funktionellen Bewegungsstörungen strebt den Einschluss von 264 Patienten an. Patientenvereinigungen werden gegründet und gewinnen im englischsprachigen Raum an Bedeutung. In 2019 wurde die internationale Functional Neurological Disorder Society gegründet und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat 2019 die Kommission für „Psychosomatische Neurologie“ berufen.

Bedeutung der Diagnosevermittlung

Da sich funktionelle Störungen dem vereinfachten Krankheitsverständnis einer Gewebeschädigung mit daraus resultierendem Symptom entziehen und als „psychosomatische“ Phänomene mit diversen Vorurteilen behaftet sind, ist die Diagnosevermittlung ein Schlüsselmoment in der Behandlung. Zeitgemäße Krankheitsbezeichnungen und Erklärungsmodelle begünstigen die Annahme der Diagnose und fördern das Kohärenzgefühl. Anstatt über potenzielle Stressoren zu spekulieren, die einer „Konversionsneurose“ zugrunde liegen könnten, können funktionelle Ausfälle zunächst deskriptiv bezeichnet und (neuro)physiologisch erklärt werden (z. B. den dissoziativen Anfall als komplexe Reflexhandlung oder die funktionelle Parese als dauerhafte Fehlanpassung). Psychosoziale Faktoren sollen keinesfalls vernachlässigt, aber in nachvollziehbarer Weise mit dem neurologischen Symptom in Zusammenhang gestellt werden, wofür mitunter eine langfristige therapeutische Beziehung notwendig ist. Eine Erläuterung grundlegender Krankheitsmechanismen kann Behandlungsansätze aufzeigen und zur Therapie motivieren.

Lesen Sie auch: Die Rolle der Nervenzellen

tags: #fns #funktionelle #neurologische #störung #definition