Funktionelle neurologische Störung nach ICD-11: Ein umfassender Überblick

Die funktionelle neurologische Störung (FNS), auch bekannt als "bodily distress disorder" oder somatische Belastungsstörung, ist ein komplexes Krankheitsbild, das in der ICD-11 neu definiert wurde. Dieser Artikel bietet einen detaillierten Einblick in die FNS gemäß ICD-11, einschließlich ihrer Symptomatik, Diagnostik, Ätiologie und Behandlung.

Einführung

Die Psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie haben sich in der ambulanten und stationären Versorgung etabliert. Die psychosomatische Grundversorgung ist ein fester Bestandteil der allgemeinmedizinischen und anderer fachärztlicher Versorgungen. Funktionelle, medizinisch unerklärte Symptome machen etwa zwei Drittel aller Beschwerden in der allgemeinmedizinischen Praxis aus.

Symptomatik der funktionellen neurologischen Störung

Funktionelle neurologische Störungen umfassen Symptome wie Schwindel, Tremor, Anfälle, Vergesslichkeit oder Lähmungen. Diese Symptome sind durch eine unwillkürliche Unterbrechung der normalen Integration motorischer, sensorischer oder kognitiver Funktionen gekennzeichnet. Die Symptome können von den Betroffenen nicht bewusst kontrolliert werden, unterliegen jedoch den Einflüssen von Aufmerksamkeit, Erwartungen und Emotionen.

Ein Fallbeispiel: Eine 45-jährige Patientin leidet seit zwei Jahren unter Ganzkörperschmerzen, Kopfschmerzen, Übelkeit mit Brechreiz und Gewichtsverlust. Eine ausführliche internistische Abklärung ergab kein organisches Korrelat. Die Patientin macht sich viele Gedanken über ihre Körperbeschwerden und hat Ängste bezüglich ihrer Gesundheit. Diese Symptomatik beschreibt eine Somatisierungsstörung nach ICD-10 bzw. eine somatische Belastungsstörung nach ICD-11.

Diagnostik der funktionellen neurologischen Störung

Die Diagnose von FNS erfolgt nicht über das Ausschlussprinzip, sondern anhand charakteristischer Krankheitsmerkmale und klinischer Zeichen. Je nach Leitsymptom müssen spezifische Merkmale und Untersuchungszeichen berücksichtigt werden, um die Diagnose zu sichern.

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  • Dissoziative Anfälle: Kneift der Patient während eines Anfalls die Augen zu und schlägt den Kopf abwechselnd nach links und rechts, spricht das eindeutig für einen dissoziativen Anfall.
  • Funktioneller Tremor: Bei vorgegebenen Bewegungen der Gegenseite kann eine Phasenkopplung beobachtet werden (Entrainment-Zeichen).
  • Funktionelle Parese: Durch bestimmte Untersuchungstechniken unter Ausnutzung kompensatorischer Bewegungsabläufe kann eine passagere Wiederherstellung der Kraft nachgewiesen werden (z. B. Hoover-Test).

In der Anamnese sind das Inanspruchnahmeverhalten, der generelle Umgang mit Beschwerden sowie das subjektive Störungsmodell wichtige Hinweise auf die Diagnose. Angstsymptome, depressive Beschwerden sowie traumatische Erfahrungen müssen dezidiert erfragt werden, da diese selten spontan berichtet werden. Ebenso aktiv müssen suizidale Gedanken eruiert werden, da vor allem bei schweren funktionellen Körperbeschwerden ein erhöhtes Suizidrisiko besteht.

ICD-11 Kriterien

In der ICD-11 ist die Klassifikation verändert, die beklagten Körperbeschwerden können dann auch ein organisches Korrelat haben. Zwingend notwendig ist, dass daneben ebenfalls mindestens eine von drei psychischen Auffälligkeiten vorhanden sein muss. Diese sind „unangemessene und andauernde Gedanken bezüglich der Ernsthaftigkeit der Symptome und/oder anhaltende stark ausgeprägte Ängste in Bezug auf die Gesundheit oder die Symptome und/oder ein exzessiver Aufwand an Zeit und Energie, die für die Symptome oder die Gesundheitssorgen aufgebracht werden“. Mit diesem neuen Klassifikationssystem wird sich auch der Name zu „bodily distress disorder“ bzw. „somatische Belastungsstörung“ ändern.

Ätiologie der funktionellen neurologischen Störung

Die Ätiologie funktioneller Körperbeschwerden leitet sich je nach therapeutischer Schule ab. Ein integratives ätiologisches Modell versucht, die verschiedenen Hypothesen miteinander integriert darzustellen. Traumatisierende Erfahrungen sind bei Patienten mit funktionellen neurologischen Störungen häufiger anzutreffen als in der Allgemeinbevölkerung, können aber auch fehlen und dürfen daher nicht automatisch unterstellt werden. Gleiches gilt für affektive Störungen, die zwar häufig, aber keineswegs obligat sind.

Behandlung der funktionellen neurologischen Störung

Wie bei allen psychosomatischen Krankheitsbildern stellt die enge Zusammenarbeit der Allgemein- und Fachärzte mit den niedergelassenen Fachärzten für Psychosomatische Medizin, den ambulanten Psychotherapeuten sowie den stationärpsychosomatischen Einrichtungen im Sinne einer interdisziplinären, sektorenübergreifenden Versorgung den Goldstandard der Behandlung dar.

Die Therapie war eine integrative multimodale Psychotherapie, das heißt Psychotherapie mit verhaltenstherapeutischen und psychodynamischen Anteilen ergänzt durch körpertherapeutische Elemente wie zum Beispiel Feldenkrais oder Qigong sowie Kunsttherapie.

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Eine generelle Wirksamkeit für eine psychopharmakologische Therapie bei somatoformen Störungen ist nicht belegt. Die oftmals vorhandene Erwartung an eine kausale Behandlung der Symptomatik über einen medikamentösen Ansatz sollte aktiv und frühzeitig relativiert werden.

Psychotherapeutische Verfahren haben sich bei der Behandlung diverser funktioneller Störungen als hilfreich erwiesen. Das methodische Vorgehen leitet sich jeweils von einem Fokus auf Schwierigkeiten in der Emotionsregulation, wiederholten interaktionellen Störungen oder Traumafolgestörungen ab. Bei den meisten Ausprägungsformen scheint auch die Förderung von körperlicher Wahrnehmung und Bewegung hilfreich für die Behandlung.

Differenzialdiagnostik

Es ist wichtig, FNS von anderen Erkrankungen abzugrenzen. Im Bereich der kognitiven Störungen wird derzeit untersucht, wie eine funktionelle Konzentrations- und Gedächtnisstörung jenseits der depressiven „Pseudodemenz“ definiert, diagnostiziert und von einer (frühen) demenziellen Erkrankung unterschieden werden kann.

Die Rolle von Dissoziation

Die neue Klassifikation der ICD-11 kennzeichnet Dissoziation als unwillkürliche, vollständige oder partielle Unterbrechung von Empfindungen und Wahrnehmungen, Affekten, Gedanken und Erinnerungen, Kontrolle über Körperbewegungen und Verhalten sowie Identitätserleben. Diese Unterbrechung kann von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde variieren.

Traumafolgestörungen

Traumafolgestörungen, zu denen die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie auch die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) zählen, haben in der medizinischen Versorgung zweifach Relevanz. Ein ätiopathogenetisch relevanter und allen Traumafolgestörungen gemeinsamer Nenner ist die Diskrepanz zwischen Bedrohungserleben und unzureichenden Bewältigungsmöglichkeiten, woraus ein Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe resultiert.

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Psychokardiologische Aspekte

Ein 55-jähriger, in Schichtarbeit tätiger, geschiedener Familienvater erlebt über Monate Angina-pectoris-Beschwerden. In der Klinik erhält er bei ausgeprägter Zweigefäßerkrankung mehrere Stents. Obwohl er als arbeitsfähig entlassen wird, lässt er sich von seinem Hausarzt krankschreiben. Erst beim Wunsch nach einer weiteren Krankschreibung spricht der Patient offen über seine Schlafstörungen, depressive Stimmungslage, Energielosigkeit sowie eine negative Zukunftsperspektive. Zusätzlich habe er Angst, sich aus der Wohnung zu bewegen, aus Sorge, einen erneuten Herzinfarkt zu erleiden und dann ohne Hilfe zu sein. Der berichtete Fall stellt eine typische psychokardiologische Gesamtkonstellation dar.

Spezialambulanz für funktionelle Stimm- und Schluckstörungen

Die Spezialambulanz ist eine Kooperation der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Teil einer der klinischen und Forschungsschwerpunkte der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie zu Stress, Traumafolgeerkrankungen und dissoziativen Störungen. Der Fokus liegt auf funktionellen Stimm-, Sprech- und Schluckstörungen, die als funktionelle neurologische Störungen (FNS) auftreten.

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