Fumarsäure bei Multipler Sklerose: Ein umfassender Überblick

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die weltweit etwa 2,8 Millionen Menschen betrifft. In Deutschland sind über 280.000 Menschen betroffen, wobei Frauen etwa doppelt so häufig erkranken wie Männer. Die Erkrankung beginnt meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr und wird aufgrund ihrer vielfältigen Erscheinungsformen und Verläufe oft als "Krankheit mit den 1000 Gesichtern" bezeichnet. Die MS zählt zu den Autoimmunerkrankungen, bei denen fehlprogrammierte T-Zellen die Blut-Hirn-Schranke überwinden und im Gehirn körpereigene Zellen, sogenannte Oligodendrozyten, angreifen. Diese Zellen sind für die Bildung der Myelinscheiden verantwortlich, die die Nervenfasern isolieren. Die Zerstörung der Myelinscheiden führt zu Störungen der Nervenimpulsweiterleitung und somit zu vielfältigen neurologischen Symptomen.

Fumarsäure und ihre Ester, insbesondere Dimethylfumarat, haben sich als wichtige Therapieoptionen bei der Behandlung der schubförmig remittierenden MS (RRMS) etabliert. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Wirkweise, Anwendung und Sicherheit von Fumarsäure bei MS.

Was ist Fumarsäure?

Fumarsäure ist eine Dicarbonsäure mit vier Kohlenstoffatomen. In der pharmazeutischen Industrie wird sie zur Herstellung von Arzneistoffsalzen verwendet, wie beispielsweise Clemastinfumarat. Ihre Ester, die sogenannten Fumarate, werden medizinisch zur Behandlung von Multipler Sklerose (MS) und Schuppenflechte (Psoriasis) eingesetzt.

Wie wirkt Fumarsäure bei Multipler Sklerose?

Die genaue Wirkweise der Fumarsäure bei MS ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Studien deuten jedoch darauf hin, dass die Substanz direkt auf die an der Krankheit beteiligten Zellen wirkt und dabei entzündungshemmende sowie immunmodulierende Eigenschaften zeigt. Ein wichtiger Mechanismus scheint die Aktivierung des Nrf2-Signalwegs (nuclear factor erythroid 2-related factor 2 antioxidant response pathway) zu sein. Dieser zelluläre Mechanismus schützt die Zelle vor oxidativem Stress und Entzündungen. Durch die Behandlung mit Fumarsäure werden zudem weniger Entzündungsbotenstoffe vom Immunsystem ausgeschüttet, wodurch das Fortschreiten der Erkrankung gehemmt wird.

Der Nrf2-Signalweg

Die Aktivierung des Nrf2-Signalwegs spielt eine zentrale Rolle bei der Wirkung von Fumarsäure. Nrf2 ist ein Transkriptionsfaktor, der die Expression von Genen reguliert, die für die zelluläre Abwehr von oxidativem Stress und Entzündungen verantwortlich sind. Durch die Aktivierung von Nrf2 werden antioxidative Enzyme undProteine vermehrt produziert, die die Zellen vor Schädigungen schützen können.

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Immunmodulatorische Effekte

Fumarsäure beeinflusst auch das Immunsystem. Sie reduziert die Ausschüttung von Entzündungsbotenstoffen und moduliert die Aktivität von Immunzellen. Dies führt zu einer Verringerung der Entzündungsaktivität im zentralen Nervensystem und kann somit die Schädigung der Myelinscheiden reduzieren.

Welche Fumarsäure-Präparate gibt es für die Behandlung von MS?

Es gibt verschiedene Fumarsäure-Präparate, die zur Behandlung der schubförmig remittierenden MS (RRMS) zugelassen sind:

  • Dimethylfumarat (DMF): Dimethylfumarat ist ein Ester der Fumarsäure, der entwickelt wurde, damit der Wirkstoff besser durch die Darmwand ins Blut aufgenommen werden kann. Im Körper wird Dimethylfumarat in die eigentlich wirksame Verbindung Monomethylfumarat umgewandelt. Dimethylfumarat ist unter den Handelsnamen Tecfidera®, Dimethylfumarat Mylan®, Dimethylfumarat Accord® und Dimethylfumarat Neuraxpharm® erhältlich.
  • Diroximelfumarat (DRF): Diroximelfumarat ist ein weiterer Ester der Fumarsäure, dessen aktives Stoffwechselprodukt ebenfalls Monomethylfumarat ist. Da bei der Aktivierung von Diroximelfumarat im Körper weniger Methanol gebildet wird, erhofft man sich dadurch eine bessere Verträglichkeit im Magen-Darm-Trakt. Diroximelfumarat ist unter dem Handelsnamen Vumerity® erhältlich.
  • Tegomilfumarat: Tegomilfumarat ist ein weiteres Fumarat, das zur Behandlung von RRMS zugelassen ist. Auch Tegomilfumarat wird im Körper zum aktiven Metaboliten Monomethylfumarat (MMF) umgewandelt. Laut Hersteller Neuraxpharm verfügt Tegomilfumarat jedoch über ein Prodrug-Design, das die Freisetzung von Methanol reduziert. Tegomilfumarat ist unter dem Handelsnamen Riulvy® erhältlich.

Alle drei genannten Substanzen sind Prodrugs, die im Körper zum aktiven Metaboliten Monomethylfumarat (MMF) umgewandelt werden.

Anwendung und Dosierung

Die Fumarsäure-Präparate werden in der Regel oral in Form von Kapseln oder Tabletten eingenommen. Die Dosierung variiert je nach Präparat:

  • Dimethylfumarat (Tecfidera®): Die Behandlung wird mit 120 mg zweimal täglich für sieben Tage begonnen, gefolgt von einer Erhaltungsdosis von 240 mg zweimal täglich.
  • Diroximelfumarat (Vumerity®): Die Dosis beträgt in den ersten sieben Tagen zweimal täglich 231 mg (eine Kapsel) und wird anschließend auf zweimal täglich 462 mg (zwei Kapseln) erhöht. Die Dosis kann bei Patienten, bei denen Nebenwirkungen wie Hautrötungen oder Magen-Darm-Probleme auftreten, vorübergehend verringert werden.
  • Tegomilfumarat (Riulvy®): Die Startdosis beträgt zweimal täglich 174 mg für die ersten sieben Tage; ab Tag 8 wird die Erhaltungsdosis von zweimal täglich 348 mg empfohlen. Die Dosis kann bei Patienten, bei denen Nebenwirkungen wie Hitzegefühl oder Magen-Darm-Probleme auftreten, vorübergehend auf zweimal täglich 174 mg reduziert werden.

Um Nebenwirkungen wie Hitzegefühl oder gastrointestinale Beschwerden zu minimieren, soll die Einnahme mit einer Mahlzeit erfolgen, wobei die Kapseln nicht geöffnet oder zerkaut werden dürfen.

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Studien zur Wirksamkeit von Dimethylfumarat

Dimethylfumarat wurde in den randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Phase-III-Studien DEFINE und CONFIRM über zwei Jahre bei Patienten mit RRMS untersucht. In beiden Studien zeigte sich im Vergleich zu Placebo eine statistisch signifikante und klinisch bedeutsame Verminderung hinsichtlich der primären Endpunkte.

  • In DEFINE lag der Anteil an Patienten mit Schüben nach zwei Jahren bei 27,0% unter Dimethylfumarat vs. 46,1% unter Placebo.
  • In CONFIRM war die annualisierte Schubrate unter Dimethylfumarat bei 0,224 vs. 0,401 unter Placebo.

Die Langzeitsicherheit wurde in der offenen, nicht-kontrollierten Verlängerungsstudie ENDORSE bei 1.736 RRMS-Patienten aus den Zulassungsstudien DEFINE und CONFIRM bestätigt. In bis zu 12 Jahren Behandlung mit Dimethylfumarat blieb über die Hälfte aller Patienten rückfallfrei bei insgesamt niedriger jährlicher Rückfallrate (ARR).

Nebenwirkungen und Risiken

Wie alle Medikamente können auch Fumarsäure-Präparate Nebenwirkungen verursachen. Die häufigsten Nebenwirkungen sind:

  • Gastrointestinale Beschwerden: Durchfall, Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen
  • Hautrötungen (Flush): Vorübergehendes Erröten der Haut oder Hitzegefühl
  • Juckreiz
  • Lymphopenie: Eine Verringerung der Anzahl der Lymphozyten im Blut

Gastrointestinale Beschwerden

Beschwerden des Magen-Darm-Systems, wie Durchfall (14%), Übelkeit (12 %), Oberbauchschmerzen (10 %), Abdominalschmerzen (9%) und Erbrechen (8%), sind häufig. Diese waren zu Beginn häufiger und klangen meist nach einigen Wochen ab. Nach vier Wochen berichteten noch 6 % der Patienten, die Dimethylfumarat einnahmen, über Magen-Darm-Beschwerden, aber auch 4 % derjenigen, die ein Placebo bekamen. Nach einem Jahr waren es nur noch 2 %.

Hautrötungen (Flush)

Vorübergehendes Erröten der Haut oder Hitzegfühl („Flush“) tritt am häufigsten (bei 34 % der Patienten) innerhalb der ersten vier Wochen auf. Nach einem Monat war die Gesichtsrötung noch bei 5 % der Patienten nachweisbar, nach einem Jahr bei 3 %. Die Einnahme von Aspirin® (200 - 400 mg) 30 Minuten vor der Einnahme von Dimethylfumarat (Tecfidera®) kann das Flushing mindern.

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Lymphopenie

Dimethylfumarat senkt die Anzahl von Leukozyten im peripheren Blut. In 6% der Fälle wurde in den Zulassungsstudien für Tecfidera® eine höhergradige Lymphopenie (< 500/μl) beobachtet. Bei langdauernden Leuko- bzw. Lymphopenien ist von einem erhöhten Risiko für opportunistische Infektionen auszugehen.

Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML)

In sehr seltenen Fällen sind Virus-Infektionen im Gehirn aufgetreten, die sog. progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML). Bei Patienten mit anhaltender mäßiger Reduktion der absoluten Lymphozytenzahlen (≥ 500/μl, aber < 900/μl) sollte eine engmaschige Überwachung erfolgen.

Nierenschäden

Im Zusammenhang mit der Anwendung von Fumarsäure gibt es Hinweise auf die Auslösung eines akuten Nierenversagens als mögliche Nebenwirkung. Sowohl bei der Psoriasisbehandlung mit Fumaderm® als auch beim Einsatz von Dimethylfumarat zur Behandlung der Multiplen Sklerose (Tecfidera®) muss die Nierenfunktion entsprechend den Angaben aus den Fachinformationen überwacht werden.

Kontraindikationen

Fumarsäure-Präparate dürfen nicht eingenommen werden bei:

  • Schwangerschaft und Stillzeit
  • Überempfindlichkeit/Allergie gegen den Wirkstoff
  • Schweren Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes
  • Schweren Leberfunktions- und Nierenerkrankungen
  • Chronischen Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis B und C)
  • Vermuteter oder bestätigter progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML)

Wichtige Hinweise und Vorsichtsmaßnahmen

Vor Beginn der Behandlung mit Fumarsäure-Präparaten sollten folgende Punkte beachtet werden:

  • Ausschluss von Kontraindikationen: Durch eine sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung sollte vor Beginn der Behandlung gezielt nach möglichen Kontraindikationen gesucht werden.
  • Laboruntersuchungen: Vor Beginn der Therapie sollten ein Differenzialblutbild und die Leber- bzw. Nierenfunktionswerte bestimmt werden (GGT, GOT, GPT, Kreatinin und Proteinurie). Aufgrund möglicher (schwerer) Diarrhoen besonders zu Anfang der Therapie sollten die Elektrolyte (K, Na, Cl) bestimmt werden. Vor Beginn der Therapie mit Dimethylfumarat sollten bei allen Patienten eine akute Entzündung (CRP, Urinstatus) und chronische Infektionskrankheiten, wie Hepatitis B und C bzw. HIV, nach Aufklärung ausgeschlossen werden.
  • Aufklärung und Einwilligung: Eine standardisierte Aufklärung mit schriftlicher Einwilligungserklärung zur Therapie muss vorliegen. Über mögliche spezifische Nebenwirkungen und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen muss aufgeklärt werden.

Während der Behandlung mit Fumarsäure-Präparaten sollten folgende Punkte beachtet werden:

  • Regelmäßige Blutbildkontrollen: Nach Therapiebeginn muss alle sechs bis acht Wochen eine Blutbilduntersuchung durchgeführt werden, da mit einer Reduktion der Lymphozytenzahl (um ca. 15 - 30%) zu rechnen ist, die nach zwölf Monaten stabil bleibt. Bei Leukopenien unter 3.000/μl oder absoluten Lymphozytenwerten unter 500/μl ist ein Aussetzen der Medikation spätestens nach 3 Monaten angezeigt und spätestens nach 6 Monaten verpflichtend.
  • Überwachung der Nierenfunktion: Die Nierenfunktion sollte regelmäßig überwacht werden.
  • MRT-Kontrollen: Zur paraklinischen Beurteilung des Behandlungserfolgs sowie zur möglichen Einschätzung differentialdiagnostisch relevanter Komplikationen der Therapie, insbesondere PML, sollte unter Dimethylfumarat-Therapie alle zwölf Monate eine MRT des Schädels durchgeführt werden.
  • Impfungen: Die Anwendung von attenuierten Lebendimpfstoffen ist unter der Therapie mit Dimethylfumarat streng zu stellen.

Umstellung von anderen MS-Therapien auf Dimethylfumarat

Bei Umstellung von anderen MS-Therapien auf Dimethylfumarat müssen bestimmte Sicherheitsabstände eingehalten werden, die sich nach der Eliminationshalbwertszeit der einzelnen Substanzen (bzw. ihrer bioaktiven Metaboliten) bemessen.

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