Das menschliche Gehirn ist ein komplexes Organ, dessen elektrische Aktivität sich in verschiedenen Wellenbereichen manifestiert. Diese Gehirnwellen, messbar durch ein Elektroenzephalogramm (EEG), geben Aufschluss über unseren Bewusstseinszustand und unsere kognitiven Prozesse. Zu diesen Wellen gehören auch die Gammawellen, die in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der Forschung gerückt sind. Dieser Artikel beleuchtet die Vorteile und Nachteile von Gammawellen im Gehirn und untersucht ihr therapeutisches Potenzial, insbesondere im Hinblick auf neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer.
Die Grundlagen der Gehirnwellen
Die elektrische Aktivität des Gehirns entsteht durch elektrochemische Entladungen der Nervenzellen und erzeugt ein elektromagnetisches Feld mit einer Frequenz zwischen 1 und 40 Hz (Schwingungen pro Sekunde). Die Summe dieser elektrischen Aktivität ergibt die Gehirnwellen, die in fünf Hauptbereiche unterteilt werden:
- Delta-Wellen (unter 4 Hz): Dominieren im traumlosen Tiefschlaf und sind wichtig für die Regeneration.
- Theta-Wellen (4-7 Hz): Treten in tiefer Meditation, im Schlaf und bei kreativen Prozessen auf und sind eng mit unbewussten psychischen Prozessen verbunden.
- Alpha-Wellen (8-14 Hz): Kennzeichnen einen entspannten, gelösten Zustand bei voller Wahrnehmungsfähigkeit.
- Beta-Wellen (15-37 Hz): Prägen den normalen Wachzustand und sind mit rationalem und logischem Denken verbunden.
- Gamma-Wellen (38-100 Hz): Haben die höchste Frequenz und werden mit schnellem, effizientem Denken, Fokus, Flow und Kreativität in Verbindung gebracht.
Gammawellen: Superbrain-Aktivität für Fokus und Kreativität
Gamma-Wellen sind mit Abstand die Frequenzen mit der höchsten Gehirnaktivität. Sie schwingen zwischen 30 und 100 Hz und werden vor allem mit schnellem und effizientem Denken in Verbindung gebracht. Im Gamma State laufen Fokus, Flow und Kreativität zusammen, wodurch man sich regelrecht in seiner Arbeit verlieren kann. Komplexe Sachverhalte können schnell verstanden und verarbeitet werden. Gamma-Gehirnwellen erzeugen außerdem einen direkten Zusammenhang zwischen Selbstdisziplin, Glücksgefühl und verstärkter Sinneswahrnehmung.
Langjähriges Meditationstraining kann zu einem verstärkten Auftreten hochfrequenter, synchronisierter Gamma-Wellen in den Meditationsphasen führen. Diese Wellen treten unter anderem bei erhöhter Aufmerksamkeit oder bei Lernprozessen auf. Der Effekt des mentalen Trainings ist bereits im Ruhezustand vor der Meditation im EEG zu erkennen.
Die Kehrseite der Medaille: Wann Gammawellen problematisch werden können
Obwohl Gammawellen im Allgemeinen mit positiven kognitiven Funktionen assoziiert werden, gibt es auch Situationen, in denen ihre Aktivität problematisch sein kann. Eine übermäßige oder fehlregulierte Gammawellen-Aktivität kann mit Angstzuständen, Stress und sogar neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie in Verbindung stehen.
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Gammawellen und Alzheimer: Ein Hoffnungsschimmer?
Ein vielversprechender Forschungsbereich untersucht die Rolle von Gammawellen bei der Behandlung von Alzheimer. Studien deuten darauf hin, dass die Stimulierung mit akustischen und optischen Signalen im Gamma-Frequenzbereich eine Hirnreinigung anregen und typische Alzheimer-Proteine entfernen kann.
Der Reinigungsprozess im Gehirn
Im Gehirn zirkuliert zwischen den Nervenzellen Flüssigkeit. Manche Forschende behaupten, dass diese Flüssigkeit auch jene Ablagerungen aus dem Gehirn entfernen könne, die als Ursache der Alzheimer-Krankheit gelten: der Proteinfragment Beta-Amyloid (Aß), das sich im Gehirn zwischen Nervenzellen ansammelt.
Ein US-Forschungsteam berichtete im Fachblatt "Nature" nach Versuchen an Mäusen, dass Gamma-Wellen dafür sorgen, dass im Gehirn zwischen den Nervenzellen viel Flüssigkeit zirkuliert und Alzheimer-typische Proteinklumpen ausschwemmt. Grob gesagt regen die Gamma-Wellen demnach eine Art Gewebereinigung im Gehirn an, samt Entsorgung schädlicher Stoffwechselprodukte.
Wie funktioniert die Gamma-Stimulation?
Die Sinnesreize versetzen Nervenzellen vermutlich im Gammawellen-Bereich in Schwingung und starten so den Reinigungsprozess. Die opto-akustische Stimulierung bei 40 Hz steigert die neuronale Aktivität und senkt gleichzeitig die Konzentrationen von Beta-Amyloid im Gehirn. Verantwortlich dafür ist das sogenannte glymphatische System: Die Stimulierung sorgt dafür, dass im Gehirn der Mäuse besonders viel Flüssigkeit durch das Gewebe zirkuliert. Dieses Nervenwasser transportiert das Beta-Amyloid zwischen den Zellen aus dem Gehirn. "Die Zellverbände werden besser durchspült, und der Abfall zwischen den Zellen wird entfernt".
Klinische Studien am Menschen
Etliche klinische Studien prüfen derzeit, ob eine optische und akustische Stimulation im Frequenzbereich von Gammawellen eine Alzheimer-Demenz verzögern, bessern oder gar verhindern kann. Die meisten Untersuchungen sollen im Laufe des Jahres 2025 enden, dann folgt die Auswertung.
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Einschränkungen und Herausforderungen
Obwohl die Ergebnisse vielversprechend sind, gibt es auch Herausforderungen und Einschränkungen. So ist beispielsweise der Frankfurter Experte Wolf Singer "verhalten skeptisch", ob die Gammawellen tatsächlich die gewünschten Effekte erzielen können. Letztlich hänge ein Erfolg der Therapie davon ab, dass die Gammawellen nicht nur die sensorischen Areale im Gehirn erreichen, sondern auch tiefer gelegene Areale wie den Hippocampus, der maßgeblich für das Gedächtnis zuständig ist.
Ein weiteres Problem ist, dass den ersten Symptomen der Alzheimer-Krankheit ein jahre- bis jahrzehntelanger schleichender Prozess vorausgeht, bei dem Nervenzellen in einer Kettenreaktion absterben. "Man müsste das schon frühzeitig machen, um diese Kaskade aufzuhalten", sagt Thomas Gasser vom Uniklinikum Tübingen.
Sicherheit der Gammawellen-Behandlung
Immerhin gilt die Gammawellen-Behandlung Studien zufolge als sicher. "Wir gehen davon aus, dass diese Stimulierung das gesunde Gehirn nicht schädigt", sagt Lars Timmermann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
Weitere Anwendungsbereiche der Gammawellen-Stimulation
Neben Alzheimer wird auch der Nutzen der Gammawellen-Stimulation bei anderen neurologischen Erkrankungen wie Parkinson und Multipler Sklerose geprüft. Eine Studie an Mäusen im Fachjournal "Science Translational Medicine" deutet darauf hin, dass die 40-Hz-Stimulierung die Nebenwirkungen einer Chemotherapie aufs Gehirn bessern kann.
Binaurale Beats: Eine Möglichkeit zur Stimulation von Gehirnwellen?
Eine weitere Methode, die in den letzten Jahren an Popularität gewonnen hat, ist die Verwendung von binauralen Beats. Binaurale Beats sind eine akustische Illusion, die entsteht, wenn man über Kopfhörer zwei Töne mit leicht unterschiedlichen Frequenzen auf jedes Ohr spielt. Das Gehirn erzeugt dann einen dritten Ton, der der Differenz zwischen den beiden Frequenzen entspricht.
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Es wird angenommen, dass binaurale Beats die Gehirnwellen beeinflussen und so verschiedene Bewusstseinszustände hervorrufen können. So sollen beispielsweise binaurale Beats im Bereich der Gamma-Wellen die Konzentration und Kreativität fördern, während binaurale Beats im Bereich der Alpha- oder Theta-Wellen Entspannung und Meditation unterstützen sollen.
Wie entstehen binaurale Beats?
Binaurale Frequenzen sind für Außenstehende nicht wahrnehmbar. Sie entstehen lokal in der Hörbahn. Werden unterschiedliche Schallfrequenzen auf beiden Ohren abgespielt, aktiviert das unter anderem den Hirnstamm. Das Gehirn versucht, die tonale Diskrepanz auszugleichen, indem es das Mittel aus den beiden abweichenden Schallfrequenzen bildet. Besonders involviert ist dabei der sogenannte „Nucleus Olivaris superior“, welcher direkt zum Hirnstamm gehört. Hat sich das Gehirn dann an die neue Frequenz gewöhnt, produziert es schließlich ebenfalls Gehirnwellen mit der gleichen Frequenz. Diesen Effekt nennt man Frequency Following Response (FFR). Wichtig ist, dass die Frequenzen der abgespielten Töne keinesfalls weiter auseinander liegen als 30 Hz, da die Töne sonst schlicht als unterschiedlich wahrgenommen werden.
Die Wirkung von binauralen Beats
Binaurale Sounds können mit ihren Schallfrequenzen in unterschiedliche Bewusstseinszustände führen. Je nach Zielsetzung können Theta- und Delta-Frequenzen für tiefe Meditation oder erholsamen Schlaf genutzt werden, während Gamma- und Beta-Wellen sowie höhere Alpha-Wellen die Top-Performance fördern können.
Kritik an binauralen Beats
Die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit von binauralen Beats ist jedoch begrenzt. Viele Studien konnten keine signifikanten Effekte feststellen, und die Ergebnisse sind oft widersprüchlich. Christoph Reuter, Professor für systematische Musikwissenschaft an der Universität Wien, schätzt den Forschungsstand so ein, dass die versprochenen Effekte bislang so gut wie nicht nachgewiesen werden konnten.
Rhythmen im Körper: Mehr als nur Gehirnwellen
Rhythmen bestimmen nicht nur die Aktivität unseres Gehirns, sondern unseren gesamten Körper. Sie folgen dem Wechsel von Tag und Nacht und können durch viele Faktoren beeinflusst werden. Oberste Instanz der inneren Uhr ist der Nucleus suprachiasmaticus (SCN), ein paariger Hirnkern mit zusammen etwa 50.000 Nervenzellen. In den meisten Zellen des Körpers läuft ein 24-Stunden-Rhythmus, der auch unabhängig vom SCN von einem Uhren-Gen und dem zugehörigen Genprodukt „per“ angetrieben wird und auf dem Prinzip der negativen Rückkoppelung beruht.
Die innere Uhr und Medikamenteneinnahme
Die Erkenntnisse über die inneren Rhythmen des Körpers könnten auch Auswirkungen auf die Medikamenteneinnahme haben. So wurde beispielsweise in den 1990er Jahren bereits bekannt, dass das Chemotherapeutikum Adriamycin am frühen Morgen am besten vertragen wird, Cisplatin dagegen am späten Nachmittag.
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