Die Mechanismen der Entscheidungsfindung im Gehirn

Das menschliche Gehirn ist ein bemerkenswertes Organ, das ständig mit einer Flut von Informationen bombardiert wird und in der Lage sein muss, schnell und effizient Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungen reichen von einfachen Alltagsentscheidungen bis hin zu komplexen und lebensverändernden Entscheidungen. Die Forschung auf dem Gebiet der Neurowissenschaften hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte bei der Aufklärung der Mechanismen erzielt, die diesen Entscheidungsprozessen zugrunde liegen.

Entscheidungsinduzierte Verzerrungen und die Selbstbestätigungstendenz

Entscheidungen führen nicht nur zu entsprechenden Handlungen, sondern verändern in der Folge auch das Denken des Entscheidungsträgers. Entscheidungen führen zu einer Verzerrung der internen Verarbeitung neuer oder alter Information, so dass spätere Urteile in der Tendenz die früheren Entscheidungen bestätigen. Solche entscheidungsinduzierten Verzerrungen charakterisieren sowohl einfache als auch komplexe Entscheidungen, im Versuchslabor wie auch im Alltag - letzteres auch in Situationen, in denen Fehler kritisch sind (z. B. klinische Diagnosen oder unternehmerische Entscheidungen). Diese Verzerrungen werden als "Selbstbestätigungs-Tendenz" (Englisch: "confirmation bias") bezeichnet.

Das Projekt DECINDBIAS zielt darauf ab, die Mechanismen im menschlichen Gehirn zu identifizieren, die der Selbstbestätigungstendenz zugrunde liegen. Ziel ist es, eine allgemeine neurobiologische Theorie der Entscheidungsfindung zu entwickeln, welche die Selbstbestätigungstendenz erklärt. Dazu werden zwei Forscher-Teams einen hochgradig interdisziplinären und vernetzten Ansatz verfolgen: Umfangreiche psychophysische Messungen des Entscheidungsverhaltens werden mit der nichtinvasiven Aufzeichnung der zugrundeliegenden Hirnaktivität mittels Magnetoenzephalographie (MEG) kombiniert; diese Messungen werden iterativ mit mathematischer Theoriebildung und rechnergestützter Modellierung verzahnt. Auf diese Weise soll die Hypothese getestet werden, dass die Selbstbestätigungs-Tendenz durch Rückkopplungseffekte zwischen Regionen der Großhirnrinde erzeugt wird, was allgemein (aber nicht immer) hilft, die Entscheidungsfindung zu optimieren. Die in DECINDBIAS gewonnenen Einsichten werden das Verständnis der Grenzen menschlicher Rationalität entscheidend vertiefen und könnten der Optimierung von Entscheidungsprozessen in gesellschaftlich relevanten Bereichen (z.B. Medizin, Politik, Wirtschaft) dienen.

Die Rolle von Erfahrung und Wissenskarten

Neueste Untersuchungen des Max-Planck-Instituts haben ergeben, dass Entscheidungen auf Basis der gemachten Erfahrungen getätigt werden. Das heißt: Das Gehirn lernt und greift auf bisher Erlebtes aus ähnlichen Momenten zurück. Verläuft der Arbeitsweg mit dem Bus jeden Tag reibungslos, so wird der Entschluss, ihn mit dem Fahrrad zurückzulegen, weniger schnell gefasst. Das Gehirn baut sich mit der Zeit also bestimmte Wissenskarten auf, um sie in den passenden Augenblicken abzurufen. Auf diese Weise wird eine rationale Entscheidung getroffen.

Die Forscherinnen und Forscher fanden heraus, dass das Gehirn sogar eine Unterscheidung macht und die folgenden Karten hervorholen und sogar miteinander kombinieren kann:

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  • Räumliche Karten: In der Studie wurden bestimmte Orte auf einer virtuellen Karte an Belohnungen geknüpft. Probandinnen und Probanden merkten sich die Orte, an denen sich Belohnungen versteckten, schneller und konnten in einem zweiten Schritt abrufen, wo sich diese Belohnungen befanden.
  • Zeitliche Karten: Die Belohnungen wurden natürlich erst verteilt, sobald die Teilnehmenden den entsprechenden Ort gefunden hatten. Wie schnell und vor allem wie sich die Testpersonen durch die Karte bewegten, war dabei sehr individuell.

„Zusammengenommen haben wir in der Studie nachgewiesen, wie die kognitiven Karten des Gehirns flexibel für Schlussfolgerungen genutzt und aktualisiert werden. Befinden wir uns in einer Situation, die wir zuvor noch nie erlebt haben, greifen wir auf das Kartenwissen in unserem Hippocampus zurück, um adäquat im neuen Kontext zu handeln“, erklärt Christian Döller.

Intuition und das Zusammenspiel von Hirnarealen

Der renommierte Psychologe Gerd Gigerenzer beruft sich auf die Intuition eines Menschen. Der Experte sagt, dass sie die Basis vieler Entscheidungen ist - das Gehirn wisse oftmals viel früher Bescheid, bevor ein Mensch Worte dafür finden könne. Insbesondere in der Großhirnrinde wird die Grundlage für Intuition geschaffen. Der jüngste Teil dieses Areals, der Neokortex, ist für das bewusste, rationale Denken zuständig, während die Amygdala (Mandelkern) Empfindungen im Zwischenhirn wahrnimmt. Diese rasen in Sekundenbruchteilen zurück zum Neokortex, welcher in seiner Arbeitsweise beeinflusst wird.

Strategien für eine bessere Entscheidungsfindung

Treten Zweifel auf, sollten Sie sich fundiert informieren. Eventuell gibt es entsprechende Fachartikel oder Personen, die Sie professionell beraten können. Fühlen Sie sich gestresst, weil eine Entscheidung bevorsteht, laufen Sie Gefahr, die eigene Beurteilungsfähigkeit zu beeinflussen, sodass Sie womöglich sogar eine Entscheidung bereuen. Es kann mehrere Wege geben, die zum Ziel führen. Teilen Sie sich mit und öffnen Sie sich gegenüber Freundinnen, Freunden oder der Familie. Lassen Sie sich inspirieren oder holen Sie sich neue Sichtweisen ein, sodass Sie am Ende wohlüberlegt entscheiden können.

Die Forschungsgruppe "Decision Circuits Lab"

Dr. Torben Ott möchte mit seiner neuen Forschungsgruppe verstehen, wie Entscheidungsfindung im Gehirn funktioniert. Jedes Mal, wenn ich mich für etwas entscheide, entscheide ich mich gegen viele andere Optionen - in der Hoffnung, dass die Entscheidung mir Vorteile bringt. Lohnt es sich wirklich, meine Ressourcen, meine Zeit, mein Geld oder meine Aufmerksamkeit in diese eine Entscheidung zu investieren? Wenn ich mich als Student:in viele Stunden auf eine Klausur vorbereite, darf man sich durchaus fragen, ob dieser Zeitaufwand das erhoffte positive Ergebnis rechtfertigt. Denn es entgehen einem viele andere wertvolle Möglichkeiten, wie Freunde sehen und etwas Geld dazuzuverdienen. Übersetzt in die Sprache von Verhaltensökonomie bedeutet es, dass ich eine gewählte Entscheidung stets gegen die sogenannten Opportunitätskosten einer nicht-gewählten Entscheidung abwägen muss, also dem Gewinn oder der Nutzen, der einem dann entgeht. Eine gute Entscheidung ist eine, bei der die Vorteile in Zukunft höher sind als die Opportunitätskosten. Wenn diese Abwägung tatsächlich auch zu einer Verbesserung meiner Lebenssituation führt, ich dafür also belohnt werde, ist das eine gute Entscheidung. Wir stehen im Alltag ständig vor solchen Entscheidungen.

Tatsächlich ist es so, dass wir inzwischen sehr spezielle Neuronen identifizieren können, die die zukünftigen Ergebnisse möglicher Entscheidungen bewerten und uns helfen sich für die beste zu entscheiden. Wir erforschen das, indem wir Entscheidungsversuche mit Nagetieren durchführen. Sie stehen vor Optionen mit unterschiedlich hohen Belohnungen, mit unterschiedlichen Risiken und unterschiedlichen Opportunitätskosten. So können wir über mehrere Versuchsreihen systematisch die Entscheidungssicherheit analysieren, also die Sicherheit, des Tieres die beste Entscheidung zu treffen. Währenddessen messen wir Hirnareale und sogar einzelnen Neuronen der Tiere mit elektrophysiologischen Verfahren. Und im Orbitofrontalkortex, einem Bereich, der über der Augenhöhle sitzt, finden wir einzelne Neuronen, die ganz spezifisch diese Entscheidungssicherheit kodieren.

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Durch Erfahrungen lernt das Gehirn, zu berechnen, wie viel Zeit, Arbeit, Aufmerksamkeit oder Geld es investieren muss, um eine bestimmte Belohnung zu bekommen und ob der Aufwand lohnt. Und wir wissen, dass bei diesem Mechanismus Neuromodulatoren wie Dopamin und Serotonin eine große Rolle spielen. Sie werden tief im Gehirn produziert und interagieren auch mit den „Entscheidungs-Neuronen“ im Orbitofrontalkortex. Wie genau diese Neuromodulatoren jedoch den Orbitofrontalkortex und somit die Entscheidungen beeinflussen, ist bisher weitestgehend unbekannt.

Menschen mit Depressionen scheint es nicht richtig zu gelingen, die zukünftigen Auswirkungen einer Entscheidung richtig abzuschätzen. Daher wollen herausfinden, ob wir psychiatrische Symptomatiken über Defizite in Entscheidungsverhalten charakterisieren können. Das vielversprechende an dem Ansatz ist, dass wir Entscheidungsverhalten mit unseren genannten Methoden bei Menschen und Tieren systematisch und quantitativ untersuchen können.

Es geht in der Forschungsgruppe nicht um pharmazeutische oder medizinische Forschung. Aber vielleicht können wir die Grundlagen für eine neue, gezielte Behandlung liefern. Denn das Problem ist, dass wir in den letzten Jahrzehnten sehr wenig Fortschritte in der medikamentösen Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen gemacht haben. Die typischen Antidepressiva, wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, sind recht unspezifisch und beeinflussen das gesamte Serotonin-System des Gehirns. Das funktioniert nicht immer optimal und führt teilweise zu massiven Nebenwirkungen.

Entscheidungsfindung im sozialen Kontext und bei neurologischen Erkrankungen

Die Selbstständige Nachwuchsgruppe Neurokognition der Entscheidungsfindung (Leiter: Hauke R. In jeder Sekunde muss das menschliche Gehirn unzählige Eindrücke, die es von den Sinnesorganen empfängt, verarbeiten und anhand dieser Informationen - mitunter lebenswichtige - Entscheidungen treffen. Die Forschungsgruppe untersuchte das menschliche Gehirn, während Entscheidungen dieser Art gefällt wurden. Mit der sogenannten funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) und der Elektroenzephaolografie (EEG) machten die Wissenschaftler*innen sichtbar, wie sich die Aktivität von Gehirnregionen im Laufe eines Entscheidungsprozesses verändert. Dabei schlugen sie die Brücke von einfachen Wahrnehmungsentscheidungen zu Entscheidungen im sozialen Kontext.

Im Alter und bei neurologischen Erkrankungen - zum Beispiel bei Schizophrenie, Altersdemenz oder nach einem Schlaganfall - kann die Entscheidungsfindung jedoch auch gestört sein.

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Vorwärtsplanung und Entscheidungsfindung

Vorwärtsplanen ist unerlässlich, um Entscheidungen zu treffen, die darauf abzielen, langfristige Ziele durch koordinierte Handlungsabläufe zu erreichen. In der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften gehen die vorherrschenden Computermodelle vom vollständigen Vorwärtsplanen aus. Diese Modelle simulieren alle denkbaren Zukunftspfade, eine Methodik, die für experimentelle Standardaufgaben geeignet ist. Bei komplexeren Aufgaben allerdings, wie sie in unserer dynamischen und unsicheren Umwelt häufig vorkommen, würde eine erschöpfende Vorausplanung zu übermäßig langen Entscheidungszeiten führen, da es eine überwältigende Anzahl von potenziellen Zukunftspfade gibt.

Die Forschung zeigt, dass das menschliche Gehirn eine effizientere Methode als die des vollständigen Planens anwendet und so eine schnelle Entscheidungsfindung ermöglicht. Der genaue Prozess, der hinter dieser schnellen und angenäherten Entscheidungsfindung beim Menschen steht, ist nach wie vor unklar. Die Herausforderung besteht darin, zu verstehen, wie der Mensch effektiv vorausschauende Entscheidungen treffen kann, ohne auf Simulationen aller möglicher Trajektorien zurückzugreifen. Dies ist von entscheidender Bedeutung, da die Herangehensweise des Gehirns an das Vorwärtsplanen maßgeblich den Entscheidungsprozess prägt und potentiell zu einer Präferenz für oder gegen bestimmte Handlungsabläufe führt.

In diesem Projekt wird ein neuer Ansatz vorgeschlagen, der sich an Algorithmen der state abstraction aus der Informatik orientiert, um diese Frage zu erforschen. Diese Algorithmen wurden speziell entwickelt, um künstliche Agenten in die Lage zu versetzen, in komplexen Umgebungen ungefähre und damit schnelle Entscheidungen zu treffen. Durch die Anpassung dieser Algorithmen an kognitive Modelle der menschlichen Entscheidungsfindung soll untersucht werden, ob Menschen vergleichbare Strategien anwenden. Mit den daraus resultierenden neuen Modellen erwarten wir eine bessere Modellierung der schnellen und approximativen Entscheidungsfindung von menschlichen Teilnehmern. Um dies zu demonstrieren, planen wir Experimente mit Verhaltenstests und funktioneller Magnetresonanztomographie. Die gesammelten Daten werden mit Hilfe probabilistischer Inferenzmodelle, Bayes'scher Modellvergleiche, modellbasierter Analysen und representational similiarity analysis analysiert.

Kontextabhängige Entscheidungen und neuronale Flexibilität

Unser Gehirn ist bemerkenswert flexibel darin, unterschiedliche Reaktionen auf vermeintlich vergleichbare Situationen hervorzubringen. So können dieselben sensorischen Informationen je nach Verhaltenskontext zu unterschiedlichen Entscheidungen führen. Ein Beispiel dafür ist ein Elfmeter im Fußball: Ein Spieler kann entweder die leere Ecke des Tores als Ziel wählen oder direkt auf den Torwart zielen, in der Hoffnung, dass dieser zur Seite springt. Beide Entscheidungen basieren auf derselben Wahrnehmung der Position des Torwarts, führen jedoch zu völlig unterschiedlichen Handlungen.

Neurowissenschaftler*innen am Deutschen Primatenzentrum (DPZ) - Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen haben untersucht, wie das Gehirn diese Art von Flexibilität umsetzt. Ihre Ergebnisse zeigen, dass unser Gehirn je nach Anforderung entweder bekannte neuronale Lösungswege wiederverwendet oder neue Muster entwickelt, um Bewegungen kontextabhängig auszuwählen. Zielgerichtetes Verhalten und kognitive Flexibilität können also auf unterschiedliche Weise erreicht werden, je nachdem durch welchen Umstand die flexible Anpassung des Verhaltens notwendig wurde.

Die Forschenden trainierten Rhesusaffen, Armbewegungen zu planen und zeichneten dabei die Aktivität von Neuronen im Gehirn auf, die an der Planung dieser Bewegungen beteiligt sind. Die Affen führten die Aufgabe in zwei verschiedenen Kontexten aus. Im ersten Kontext ging es darum, anhand einer gelernten Regel zu entscheiden, ob sie auf das am Bildschirm angezeigte Ziel („Torwart") zeigen oder die gegenüberliegende Seite des Bildschirms („leere Ecke") wählen sollten. Im zweiten Kontext mussten sich die Affen an eine veränderte sensorische Umgebung anpassen, indem sie die Aufgaben unter spiegelverkehrten Sichtbedingungen ausführten.

Die Studie zeigte, dass das Gehirn in beiden Situationen auf unterschiedliche Weise arbeitet. Im ersten Kontext, der auf gelernten Regeln basiert, griff das Gehirn auf bestehende neuronale Muster zurück. Es nutzte die bereits vorhandenen Netzwerke, um die Bewegung zu planen, ohne grundlegende Veränderungen in den neuronalen Verbindungen vorzunehmen. Im zweiten Kontext, bei dem sich die sensorische Umgebung geändert hatte, musste das Gehirn neue neuronale Muster entwickeln, um die Aufgabe zu bewältigen.

Entscheidungsfindung in neuen Situationen

Wir finden uns regelmäßig in neuen Geschäften oder Restaurants wieder, wir landen auf uns unbekannten Flughäfen oder beginnen einen neuen Job. In solchen Situationen zeigt sich die bemerkenswerte Flexibilität des menschlichen Verhaltens. Auch in neuen Situationen können wir oft die Konsequenzen unserer Handlungen vorhersagen und so angemessene Entscheidungen treffen.

Wie gelingt es dem Gehirn in Situationen, die wir noch nie erlebt haben, adäquat zu entscheiden? Eine Vermutung ist, dass das Gehirn in solchen Situationen auf Erfahrungen zurückgreift, die wir früher in ähnlichen Situationen gemacht haben. Erlebnisse in anderen Restaurants haben uns beispielsweise gut darauf vorbereitet, was uns in einer neuen Pizzeria erwartet. Das erfordert eine sinnvolle Organisation dieses Erfahrungswissens im Gehirn, sowie einen flexiblen Zugriff auf dieses Wissen in neuen Entscheidungssituationen.

Mona Garvert und Christian Doeller vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften haben nun gemeinsam mit Kollegen von den Max-Planck-Instituten für Bildungsforschung in Berlin und für Biologische Kybernetik in Tübingen in einer aktuell in Nature Neuroscience veröffentlichten Studie untersucht, welcher Mechanismus im Gehirn zugrunde liegt, wenn wir gespeichertes Wissen auf neue Entscheidungssituationen anwenden. Dafür navigierten 48 Studienteilnehmer und -teilnehmerinnen durch einen virtuellen Raum. An bestimmten Orten tauchten kleine freundliche Monster auf. Mit der Zeit lernten die Teilnehmenden, an welchen Stellen welche Monster „sitzen“. Auf diese Art und Weise, so vermuteten die Wissenschaftler, generiert das Gehirn eine mentale „Wissenskarte“ über die virtuelle Monsterwelt.

Mona Garvert und ihre Kollegen konnten beobachten, dass sich die „Laufwege“ der Teilnehmenden durch den virtuellen Raum sehr unterschieden - die einen liefen immer am Rand entlang, andere eher systematisch von oben nach unten, manche eher sternförmig. „Das bedeutet, dass die Reihenfolge, in der die Monster gesehen wurden, sehr individuell war. Zum Beispiel sahen die sternförmig laufenden Teilnehmer die Monster in zeitlich ganz anderen Abständen als die systematisch von oben nach unten durch den Raum navigierenden Teilnehmer“, erklärt die Neurowissenschaftlerin.

Später mussten sich die Probanden zwischen zwei Monstern entscheiden. Monster, die im virtuellen Raum nah beieinander lagen, brachten ähnlich viele Punkte. Wer also clever war, nutzte sein Vorwissen über die Verortung der Monster und wählte Monster aus, die möglichst nah an einem Monster lagen, das vorher schon einmal viele Punkte gebracht hatte. „Die Studienteilnehmer taten genau das - was uns zeigt, dass sie ihr gespeichertes Wissen für diese Aufgabe genutzt haben. Interessanterweise haben sie sowohl ihr Wissen über die räumlichen als auch die zeitlichen Beziehungen, die sie in Verbindung mit den Monstern gelernt hatten, herangezogen, um diese Entscheidungen zu treffen. Im Magnetresonanztomographen konnten wir dann sehen, dass diejenigen, die eine stärkere räumliche Repräsentation der Monster im Gehirn aufwiesen, sich in ihrem Entscheidungsverhalten auch stärker von den räumlichen Beziehungen beeinflussen ließen. Bei denen, die eine stärkere zeitliche Repräsentation hatten, war wiederum der Einfluss der zeitlichen Beziehungen stärker. Wir konnten damit nachweisen, dass das Gehirn räumliche und zeitliche Wissenskarten für sein Entscheidungsverhalten nutzt und diese auch anpasst, wenn es durch Belohnung lernt.“

Christian Doeller, Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, ergänzt: „Zusammengenommen haben wir in der Studie nachgewiesen, wie die kognitiven Karten des Gehirns flexibel für Schlussfolgerungen genutzt und aktualisiert werden. Befinden wir uns in einer Situation, die wir zuvor noch nie erlebt haben, greifen wir auf das Kartenwissen in unserem Hippocampus zurück, um adäquat im neuen Kontext zu handeln.“

Mona Garvert geht davon aus, dass die Ergebnisse auch Implikationen für unser Verständnis von psychischen Erkrankungen haben könnten. Patientinnen und Patienten mit Angststörungen und Depressionen zum Beispiel übertragen negative Erfahrungen oft auf neutrale Situationen. Dies könnte damit zusammenhängen, wie Wissen in mentalen Karten organisiert ist.

Das Drift-Diffusions-Modell und seine Erweiterung

In der Arbeit der Wissenschaftler*innen der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) und der der Université Paris-Saclay geht es um die Optimierung des Drift-Diffusions-Modells (DDM). Das mathematische Modell aus den 1970er Jahren ist eines der am häufigsten genutzten Hilfsmittel, mit dem experimentelle Ergebnisse zur Entscheidungsfindung zwischen zwei Alternativen interpretiert werden können.

Grundgedanke des Rechenmodells ist die Annahme, dass der Mensch, bevor er eine einfache Entscheidung unbewusst trifft, fortwährend sensorische Informationen aufnimmt. Fahren wir auf eine Ampel zu, versucht unser Gehirn noch bevor wir bewusst sehen, ob sie rot oder grün ist, eine Entscheidung zu fällen. Mit jedem weiteren Meter treffen wir Annahmen darüber, ob die Ampel rot oder grün ist, selbst wenn die Kreuzung noch nicht sichtbar ist. Gab es zuvor Grünphasen? Fahren die Autos vor mir weiter oder bleiben sie stehen?

Das Modell nimmt an, dass das Gehirn pro Zeiteinheit eine konstante Menge an Informationen aus dem Sinnesreiz extrahiert (Drift). Zufällige Messungenauigkeiten, beispielsweise durch Regen (Diffusion), stören den Sinnesreiz. Am Ende dieses inneren Prozesses befindet sich eine von zwei Schwellen, bei der die entsprechende Antwort erfolgt. Erst dann weiß ich, ob ich weiterfahren oder bremsen soll.

"Unser Bewusstsein kann nicht alle Entscheidungen, die das Gehirn in jeder Sekunde treffen muss, zuvor sorgfältig analysieren. Sonst kämen wir wohl kaum noch zum Atmen", erklärt der Neurowissenschaftler Prof. Dr.-Ing. Stefan Glasauer aus dem BTU-Fachgebiet Computational Neuroscience. "Das Drift-Diffusions-Modell hat sich bei der Erklärung verhaltensbezogener und neurophysiologischer Daten als sehr erfolgreich erwiesen", sagt der Neurowissenschaftler und ergänzt: "Es weist jedoch Einschränkungen auf, wenn es darum geht, zuvor gemachte Erfahrungen wie beispielsweise Grünphasen vorheriger Ampeln einzubeziehen oder die Auswirkungen interner Faktoren wie das Wissen um Nachteile falscher Entscheidungen (eine rote Ampel als grün zu erkennen wäre schlechter als umgekehrt) auf die Entscheidungsfindung zu erfassen."

Gemeinsam mit den Wissenschaftler*innen der Université Paris-Saclay schlagen die Forschenden ein neues Modell vor. "Eine nichtlineare Version des Drift-Diffusions-Modells löst das Problem", so der Wissenschaftler. "In der Publikation zeigen wir auf, dass dieses Modell bei gleicher Komplexität besser abschneidet und experimentell gefundenen Reaktionszeiten genauer beschreibt als das originale Drift-Diffusionsmodell", sagt Stefan Glasauer. "Unser Modell bietet eine Alternative zum DDM für die Analyse von Wahrnehmungsentscheidungen und erlaubt Einflüsse aus der Zeit vor der Entscheidungsaufgabe zu berücksichtigen." Damit könnte das neue Modell beispielweise dabei helfen, Signale in Gehirn-Computer-Interfaces besser zu dekodieren.

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