Gerald Hüther, geboren 1951 in Thüringen, ist ein renommierter Neurobiologe und Autor zahlreicher populärwissenschaftlicher Bücher. Bekannt für seine Arbeit als "Brückenbauer" zwischen den Erkenntnissen der Hirnforschung und gesellschaftlichen Fragestellungen, widmet sich Hüther der Frage, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit Menschen, insbesondere Kinder, ihre angeborenen Potentiale bestmöglich entfalten können. Seit seiner Pensionierung im Jahr 2016 engagiert er sich in der von ihm gegründeten "Akademie für Potenzialentfaltung" in Göttingen.
Die Bedeutung der Hirnforschung für die Pädagogik
Die Bildungsdebatte greift zunehmend auf neurobiologische Erkenntnisse zurück, um Lernprozesse besser zu verstehen und angemessen zu fördern. Die Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten bedeutende Entdeckungen gemacht, die unser Verständnis des menschlichen Gehirns erweitert haben.
Plastizität des Gehirns und frühkindliche Erfahrungen
Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass die Entwicklung des menschlichen Gehirns weniger stark programmiert ist als bisher angenommen. Das Gehirn ist durch Nutzung formbarer als bisher angenommen, gerade in der Phase der Ausreifung während der frühen Kindheit. Die endgültigen Verschaltungsmuster im Gehirn hängen wesentlich von den Bedingungen ab, die ein Kind vorfindet: die frühe Interaktion mit der Mutter als primärer Bezugsperson sowie die familiären und gesellschaftlichen Sozialisationsverhältnisse.
Das Ineinander von Erlebnissen und neurobiologischen Prozessen
Im Gehirn gibt es komplexe Verschaltungsmuster, die in Abhängigkeit von der Nutzung stabilisiert und destabilisiert werden können. Bestimmte Arten der Nutzung führen dazu, dass gewisse Verknüpfungen stärker genutzt, ausgebaut und gefestigt werden. Moderne bildgebende Verfahren ermöglichen es, in das lebendige Gehirn hineinzuschauen und zu verfolgen, welche Hirnbereiche und neuronalen Verschaltungen aktiviert werden, wenn man etwas Bestimmtes tut. Beispielsweise aktiviert ein Musiker beim Hören eines Musikstückes viel mehr Hirn als jemand, der keine Beziehung zur Musik hat.
Lernen als emotionaler Prozess
Lernen wird genau dann in Gang gesetzt, wenn einem etwas unter die Haut geht, wenn man gezwungen wird, eine neue Lösung zu finden, weil man die Herausforderung nicht routinemäßig abarbeiten kann. Ohne die Aktivierung der emotionalen Zentren ist es sehr schwer, etwas Neues im Hirn zu verankern. Die Bilder, die im Hirnbereich zusammenlaufen, werden mit den dort gespeicherten abgeglichen. Wenn die nicht zusammen passen, entsteht eine Unruhe. Dieses unspezifische Erregungsmuster breitet sich aus und erreicht im Hirn die limbischen Regionen, die wiederum die körperlichen Prozesse regulieren.
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Neurobiologische Perspektive der Problemlösung
Gleichzeitig mit der Erregung der emotionalen Zentren werden vermehrt wachstumsfördernde Botenstoffe ausgeschüttet, die in der Lage sind, die nachgeschalteten Nervenzellen etwas tief greifender in Erregung zu versetzen und zu erschüttern. Dann werden all die Verknüpfungen, die man für die Problemlösung benützt, gefestigt und weiter gebahnt. Je häufiger man die einmal gefundenen Bewältigungsstrategien verwendet, desto breiter werden die Wege. Wenn die einmal erfolgten Verschaltungsmuster lange nicht in Anspruch genommen werden, können sie sich allerdings auch wieder auflösen. Und wenn ständig Unruhe herrscht, sprich: wenn jemand dauerhaft Angst, Belastungen, Verunsicherungen erleben muss, wird es sehr schwer, Neues zu erlernen. Das kreative Potenzial des Hirns kann dann nicht ausgenutzt werden.
Emotionale Erfahrungen prägen das Gehirn
Unter starker emotionaler Aktivierung werden Erlebnisse ins Hirn eingebrannt - unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ sind. Vernachlässigung in der Kindheit, geschlagen werden, hilfesuchend sich an jemanden wenden und abgewiesen werden: Das sind ebenfalls emotionale Erfahrungen. Die dabei gemachten Wahrnehmungen werden im Hirn verankert und die entsprechend gefärbten Erfahrungen bleiben bestimmend für die Art und Weise, wie man in den nächsten Situationen mit ähnlichen Problemstellungen umgeht.
Entwicklungspsychologische Fenster
Das Hirn des Menschen funktioniert ähnlich wie das von Singvögeln, die innerhalb von bestimmten Tagen am Beginn ihres Lebens den ihnen eigenen Gesang erlernen müssen. Die Entwicklungsprozesse sind jedoch ungemein entzerrter. Ein Vogelhirn ist nach 14 Tagen ausgereift, beim Menschen dauert das 15 Jahre. Natürlich gibt es für einzelne Teilleistungen günstige Fenster, in denen man etwas lernen sollte, wie etwa das zweite und dritte Jahr für den Spracherwerb. Wenn diese aus irgendwelchen Gründen verpasst werden, ist es anschließend schwieriger, das Entsprechende nachzulernen. Aber das menschliche Hirn ist so plastisch, dass man auch nach Abschluss einer solchen Phase noch genügend Möglichkeiten hat, Neues hinzuzulernen - allerdings unter der Voraussetzung, dass die emotionalen Zentren dabei auch hinreichend stark aktiviert werden.
Das Gehirn als Sozialorgan
Die Bedeutung von Beziehungen ist ein weiterer wichtiger Aspekt, den die moderne Hirnforschung wieder in das Blickfeld gerückt hat. Unser Hirn ist nicht nur ein Denkinstrument, in dem kognitive Strukturen eine besondere Rolle spielen, sondern wir fangen an zu verstehen, dass wir es in erster Linie als Sozialorgan nutzen. Es ist also primär für den Austausch mit anderen optimiert und entsprechend strukturiert.
Erziehungsfehler: Vernachlässigung und Verwöhnung
Im Grunde gibt es zwei Erziehungsfehler. Der erste besteht darin, Kinder zu vernachlässigen. Solche Kinder machen die Erfahrung, dass sie mit den Problemen allein fertig werden müssen. Meist sind sie durch diese Probleme überfordert - damit ist schon der erste Weg zur Fehlentwicklung gebahnt. Neben dieser traditionellen Form, wie die Hirnentwicklung bei Kindern in falsche Bahnen geraten kann, gibt es die modernere Variante, die Verwöhnung. Wenn Eltern versuchen, ihr Kind vor allem zu schützen, was sein Gleichgewicht erschüttern könnte, es wie in Watte zu packen, hindern sie es daran, wichtige Erfahrungen zu machen.
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Die Bedeutung von Vertrauen und sicheren Bindungen
Kinder können erstens die Erfahrung machen, dass sie von Zeit zu Zeit selbst in der Lage sind, ein Problem zu lösen. Zweitens ist die Erfahrung unverzichtbar, dass es jemanden gibt, der ihnen bei der Suche nach Lösungen hilft. Kinder können sonst kein Vertrauen entwickeln: weder in ihre eigenen Fähigkeiten, noch - was weitaus gravierender ist - in die Fähigkeiten anderer, gemeinsam mit ihnen Probleme zu lösen. Nur so entstehen sichere Bindungsbeziehungen. Kinder ohne sichere Bindungen sind aber auch nicht mehr in der Lage, Anregungen oder Zurechtweisungen durch Eltern oder andere Erzieher anzunehmen. Sie müssen pseudo-autonome Bewältigungsstrategien entwickeln: ein Teufelskreis von Selbstbezogenheit. Solche Kinder ziehen sich in eigene, selbst geschaffene Welten zurück, lassen sich von Erwachsenen nichts mehr sagen und reagieren herablassend auf sie. Sie leiden unter Selbstüberschätzung, weil sie in den von ihnen gebastelten Welten keine neuen Erfahrungen machen können, aber nur diese kleinen Welten beherrschen.
Neugier wecken und Orientierung bieten
Der beste Weg ist das Wecken von Neugier. Lösungen, die man angesichts solcher geweckten Neugier findet, werden unter Beteiligung der emotionalen Zentren verankert. Eine solche Neugier kann jedoch nur von jemand geweckt werden, dem sich das Kind verbunden fühlt. Wenn Kinder keine solche Neugier stiftenden und Orientierung bietenden Anregungen bekommen, sondern lediglich mit Reizen überflutet werden, die sie nicht verarbeiten können, bricht ihr Neugierverhalten in sich zusammen, neue Erfahrungen können nicht gemacht und die entsprechenden Verschaltungen können nicht gebildet werden.
Kompetenzen, Beziehungen und Urvertrauen
Wir Erwachsene wissen mit Schwierigkeiten und Belastungen umzugehen. Wir bauen zuerst auf unsere Kompetenzen, die wir uns im Lauf des Lebens angeeignet haben, Kinder hingegen noch nicht ausgebildet haben können. Wenn wir damit an ein Ende gekommen sind, brechen wir entweder ein oder aber wir verlassen uns zweitens auf andere Menschen zur Lösung des wahrgenommenen Problems. Diese Ressource trägt viel weiter als die eigene Kompetenz. Die dritte Komponente schließlich ist das Gefühl des Eingebundenseins in eine Halt bietende Welt. Dieses Urvertrauen können Kinder nur erwerben, wenn sie in sicheren Bindungen aufwachsen. Das Vertrauen in die Welt ermöglicht dann auch den Erwerb von eigenen Kompetenzen.
Auswirkungen fehlender Sicherheit bietender Beziehungen
Dann können sich diejenigen Hirnstrukturen, die am komplexesten sind, nicht ausbilden. Beim Menschen ist das der so genannte Stirnlappen. Die hier ausreifenden Nervenzellverschaltungen sind für die Steuerung all jener Fähigkeiten zuständig, die uns gegenüber den Tieren auszeichnen: Selbstwirksamkeitskonzepte, Einfühlungsvermögen, Handlungsplanung und Impulskontrolle. Die dafür erforderlichen, hochkomplexen Verschaltungsmuster können sich jedoch nur ausbilden und stabilisieren, wenn im Frontalhirn nicht fortlaufend Unruhe herrscht.
Der elterliche Einfluss und verunsicherte Eltern
Es kommt sicherlich in viel stärkerem Maße als bisher gedacht auf den elterlichen Einfluss an. Allerdings leben Eltern heutzutage auch nicht in einer abgeschlossenen Welt. Es ist heute schwer, gute Eltern zu sein. Kinder werden heute sehr viel früher Gedanken und Vorstellungen ausgesetzt, die mit den elterlichen nicht übereinstimmen und oft genug sehr fragwürdig sind. Auch gab es noch nie so viele verunsicherte Eltern wie heute. Hier müssen die Fragen ansetzen.
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Der Verlust intuitiven Erziehungswissens
In den zurückliegenden Generationen gab es immer die Möglichkeit, auf das Wissen der früheren Generationen zurückzugreifen. Man hat schlicht gesehen, wie andere mit Kindern umgehen und damit ein intuitives Erziehungswissen erworben und von Generation zu Generation weitergegeben. Das ist ein immenser Kulturschatz gewesen. Der ist durch das Auseinanderbrechen der Familienstrukturen stark geschrumpft. Gleichzeitig werden Eltern durch Erkenntnisse aus dem Bereich der Naturwissenschaft und der Psychologie beeinflusst. Das aber ist nur angelerntes Wissen, das man in Büchern gelesen hat, es beruht nicht auf eigenen authentischen Erfahrungen. Auch die Erziehungsratgeber, bei denen die einen dieses behauptet haben und die anderen zehn, zwanzig Jahre später das Gegenteil, haben viel Unheil gestiftet, weil Eltern in ihrer Sache nicht mehr sicher sind. Unsichere Eltern aber können keine sicheren Bindungen aufbauen.
Bindungsaufbau bereits vor der Geburt
In traditionellen Kulturen gibt es bereits im vorgeburtlichen Bereich Rituale, die dazu beitragen, dass die Bindung zwischen dem ungeborenen Kind und der Mutter sowie der Gemeinschaft gestärkt wird. Eine schwangere Frau wird so gut es geht vor allen äußeren Bedrohungen besonders stark geschützt, damit das ungeborene Leben keinen Irritationen ausgesetzt wird. Inzwischen ist erwiesen, dass zum Beispiel Veränderungen des Herzschlags der Mutter vom ungeborenen Kind miterlebt werden, psychische Belastungen in der Schwangerschaft können diese Entwicklung des ungeborenen Kindes ungünstig beeinflussen. Noch viel wichtiger ist die damit einhergehende mangelnde Fähigkeit der Schwangeren, eine sichere emotionale Beziehung zu ihrem ungeborenen Kind aufzubauen. Eine Mutter, die Streit mit ihrem Mann hat oder um ihren Arbeitsplatz fürchtet, kann sich nicht auf das Kind freuen. Bereits während der Schwangerschaft bleiben hier also Ressourcen ungenutzt, um Bindungen vorzubereiten und zu festigen. Dann kommt erst die Geburt, die leider heutzutage immer häufiger als Kaiserschnitt durchgeführt wird.
Der natürliche Geburtsprozess und die Gehirnentwicklung
Der natürliche Geburtsprozess ist von der Natur her bindungsfördernd. Während der Geburt kommt es zur Ausschüttung einer ganzen Reihe von Hormonen, die sonst nicht ausgeschüttet werden. Durch diese „Bindungshormone“ werden bestimmte bereits angelegte Netzwerke aktiviert, die eine Bindungsbereitschaft schaffen und erleichtern. Wenn es aus kosmetischen Gründen zu einem Kaiserschnitt kommt, werden diese Mechanismen umgangen.