Gerald Hüther und die Demenzfalle: Eine kritische Auseinandersetzung

Die steigende Anzahl von Demenzfällen in der heutigen Gesellschaft gibt Anlass zur Besorgnis. Der Hirnforscher Gerald Hüther sieht in dieser Entwicklung ein Symptom für eine Lebensweise, die zunehmend von Sinnentleerung und dem Zwang zum Funktionieren geprägt ist. Seiner Ansicht nach führt dies dazu, dass viele Menschen im Alter die Freude am Entdecken und Gestalten verlieren - Faktoren, die für die Gesundheit des Gehirns von entscheidender Bedeutung sind.

Die These von Gerald Hüther: Demenz als Folge unterdrückter Selbstheilungskräfte

Hüther stellt die gängige Annahme in Frage, dass Demenz primär durch altersbedingte Abbauprozesse und Ablagerungen im Gehirn verursacht wird. Stattdessen argumentiert er, dass die Unterdrückung der natürlichen Regenerations- und Kompensationsfähigkeit des Gehirns eine zentrale Rolle spielt. Er stützt seine These auf eine Kombination aus der sogenannten Nonnenstudie und neuesten neurobiologischen Forschungsergebnissen.

Die Nonnenstudie als wegweisender Befund

Die Nonnenstudie des amerikanischen Epidemiologen Snowdon, die zwischen 1986 und 2001 durchgeführt wurde, untersuchte über 400 Nonnen im Alter von 75 bis 106 Jahren. Überraschenderweise zeigten Autopsien nach ihrem Tod, dass ein Drittel der Nonnen ein stark abgebautes Gehirn aufwies, vergleichbar mit dem der Durchschnittsbevölkerung. Trotzdem war kaum eine der Nonnen an Demenz erkrankt.

Dieser Befund deutet darauf hin, dass degenerative Veränderungen im Gehirn nicht zwangsläufig zu Demenz führen müssen. Hüther interpretiert dies so, dass das Gehirn der Nonnen in der Lage war, den Abbau zu kompensieren und sich "umzubauen".

Neurobiologische Erkenntnisse zur Umbaubarkeit des Gehirns

Hüther verweist auf aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung, die zeigen, dass das Gehirn bis ins hohe Alter umbaufähig bleibt. Die sogenannte Neuroplastizität ermöglicht die Neubildung von Nervenzellen und die Entstehung neuer Verbindungen zwischen Hirnzellen. Diese Prozesse können dazu beitragen, den Verlust von Vernetzungen im gealterten oder geschädigten Gehirn auszugleichen.

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Das Kohärenzgefühl als Schlüssel zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte

Hüther betont die Bedeutung des sogenannten Kohärenzgefühls für die Aktivierung der Selbstheilungskräfte des Gehirns. Dieses Gefühl beschreibt die innere Überzeugung, dass man sein Leben meistern kann und in eine menschliche Gemeinschaft eingebettet ist. Es setzt sich aus drei Komponenten zusammen:

  • Verstehbarkeit: Die Fähigkeit, die Welt um sich herum zu verstehen und zu überschauen.
  • Gestaltbarkeit: Das Gefühl, die eigene Lebenssituation aktiv gestalten und beeinflussen zu können.
  • Sinnhaftigkeit: Die Überzeugung, dass das eigene Leben einen Sinn hat und es wert ist, gelebt zu werden.

Die Bedeutung von Freude, Begeisterung und sozialer Interaktion

Hüther argumentiert, dass Freude, Begeisterung und soziale Interaktion eine entscheidende Rolle für die Gesundheit des Gehirns spielen. Diese Faktoren aktivieren die emotionalen Zentren im Gehirn und stimulieren das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen und die Bildung von Synapsen.

Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen

Hüther kritisiert gesellschaftliche Entwicklungen, die das Kohärenzgefühl vieler Menschen untergraben. Dazu gehören beispielsweise der Leistungsdruck im Arbeitsleben, die Entwertung älterer Menschen und die zunehmende Vereinzelung. Er bemängelt, dass viele Menschen bereits mit 40 Jahren das Gefühl haben, zum alten Eisen zu gehören, und Mitarbeiter in den Fünfzigern in den Ruhestand geschickt werden.

Wege aus der Demenzfalle: Hüthers Empfehlungen für ein gesundes Altern

Hüther gibt konkrete Empfehlungen, wie Menschen ihre Selbstheilungskräfte aktivieren und der Demenzfalle entgehen können:

  • Freude am Entdecken und Lernen bewahren: Sich nicht von anderen die Begeisterung verderben lassen und neugierig bleiben.
  • Gesunde Lebensweise: Weniger und besser essen, sich bewegen und auf den eigenen Körper achten.
  • Sinngebung im Leben finden: Dem eigenen Leben einen Sinn verleihen und ein Leben führen, das dieser Sinngebung entspricht.
  • Würdevolle Beziehungen gestalten: Sich mit anderen Menschen auf den Weg machen und über sich hinauswachsen, statt andere zu benutzen, um sich selbst zu stärken.
  • Gemeinsam aktiv sein: Gemeinschaften bilden, Rad fahren, wandern, reisen und sich engagieren.

Neue Ansätze in der Pflege

Hüther befürwortet neue Ansätze in der Pflege, die darauf abzielen, die Selbstständigkeit und Aktivität älterer Menschen zu fördern. Er kritisiert die Fabrikbetrieb-ähnliche Organisation großer Pflegeeinrichtungen, in denen den Patienten alles abgenommen wird, was zu einer zunehmenden Unselbstständigkeit führt. Stattdessen plädiert er für eine menschlichere Lösung, bei der ältere Menschen sich gegenseitig aktivieren und wieder Dinge tun, die sie schon jahrelang nicht mehr gemacht haben.

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Kritik an Hüthers Thesen

Hüthers Thesen sind nicht unumstritten. Einige Kritiker bemängeln, dass er die Komplexität der Demenzerkrankungen zu stark vereinfacht und die Bedeutung von genetischen Faktoren und anderen biologischen Ursachen unterschätzt. Zudem wird argumentiert, dass die Nonnenstudie aufgrund der besonderen Lebensumstände der Nonnen nicht ohne weiteres auf die Allgemeinbevölkerung übertragbar ist.

Die Gefahr der Individualisierung von Verantwortung

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Hüthers Ansatz die Verantwortung für die Prävention von Demenz zu stark auf den Einzelnen verlagert. Dies kann zu Schuldgefühlen und Überforderung führen, insbesondere bei Menschen, die aufgrund ihrer Lebensumstände nur begrenzte Möglichkeiten haben, ihre Lebensweise zu verändern.

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