Riechen ist ein fundamentaler Sinn, der oft unterschätzt wird. Meist wird uns die Bedeutung des Geruchssinns erst bewusst, wenn er beeinträchtigt ist oder ganz verloren geht. Dabei haben Gerüche einen enormen Einfluss auf unser Leben: Sie beeinflussen unsere Erinnerungen, Gefühle und sogar unser Verhalten.
Die beeindruckende Leistungsfähigkeit des Geruchssinns
Die genaue Anzahl der unterschiedlichen Gerüche, die wir wahrnehmen können, ist bis heute unbekannt. Im Vergleich zu Augen und Ohren ist die Leistungsfähigkeit des Geruchssinns schwerer zu bestimmen, da es keine eindeutigen Referenzgrößen gibt. Während das Gehör etwa 340.000 unterschiedliche Töne und die Augen zwischen 2,3 und 7,5 Millionen Farben unterscheiden können, gibt es für den Geruchssinn kaum belastbare Zahlen. Die Anzahl der Geruchsmoleküle, die für unterschiedliche Düfte verantwortlich sind, ist unbekannt, was die Bestimmung der maximalen Anzahl unterscheidbarer Gerüche erschwert. Eine Studie von Forschern der Rockefeller University aus dem Jahr 2014, die behauptete, die menschliche Nase könne eine Billion Gerüche unterscheiden, wurde inzwischen widerlegt. Ein Rechenfehler in der statistischen Hochrechnung führte zu diesem falschen Ergebnis. Daher gilt weiterhin, dass die genaue Anzahl der unterscheidbaren Gerüche unbekannt ist.
Die Ausprägung des Geruchssinns ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Dies wird mithilfe von Labortests untersucht, bei denen Probanden verschiedenen Gerüchen wie Ammoniak, Knoblauch oder Lavendel ausgesetzt werden. Dabei zeigt sich, dass die Chemorezeptoren der Riechzellen genetisch bedingt höchst unterschiedlich ausgeprägt sind. Einige Probanden können bestimmte Gerüche gar nicht wahrnehmen, während sie bei anderen Kopfschmerzen auslösen, weil sie als so stark empfunden werden. Auch die Verarbeitung im olfaktorischen Kortex des Gehirns ist höchst individuell und wird durch die persönliche Biografie beeinflusst: Welche früheren Erlebnisse werden mit dem jeweiligen Duftreiz assoziiert? Verbindet man mit Blumenduft positive oder negative Erinnerungen?
Die einzigartige Verbindung zum limbischen System
Der Geruchssinn unterscheidet sich von allen anderen Sinnen dadurch, dass er einen direkten Zugang zum Zentrum der Erinnerung und der Emotionen im Gehirn hat - zum Hippocampus und zum limbischen System. Diese anatomische Nähe erklärt, warum Gerüche so starke und unmittelbare emotionale Reaktionen und Erinnerungen auslösen können.
Der älteste Sinn
Der Geruchssinn ist nicht nur der unmittelbarste, sondern auch der älteste Sinn. Er wird bereits im Mutterleib geprägt und ist in der Evolution vor dem Seh- und Hörvermögen entstanden. Als die ersten Lebewesen an Land gingen, ermöglichte der Geruchssinn eine bessere Kommunikation und Orientierung als das Sehen. Durch den Geruch konnten Nahrung, Feinde und geeignete Partner über weite Entfernungen ausgemacht werden. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt bei Nagern, die den besten Geruchssinn haben.
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Entwicklung im Mutterleib
Der Geruchssinn entwickelt sich bei menschlichen Embryos früher als das Hören und Sehen. Bereits ab der 26. bis 27. Schwangerschaftswoche werden die Nase und die dazugehörigen Hirnstrukturen ausgebildet. Embryos können im Mutterleib riechen und dadurch schon im Bauch der Mutter Düfte kennenlernen. So kann es sein, dass man später als junger Mensch einen Duft noch nie selbst gerochen hat, aber trotzdem darauf reagiert. Düfte werden auch zusammen mit der Mutter bewertet, sodass Düfte, die die Mutter ablehnt, auch auf den Embryo übertragen werden.
Der Weg des Duftes: Von der Nase ins Gehirn
Nur eine feuchte Nasenschleimhaut kann die Geruchsmoleküle zu den Riechzellen transportieren. Diese spezialisierten Nervenzellen befinden sich am Dach der Nasenhöhle, von denen jeder Mensch etwa 30 Millionen besitzt. Sie sind mit rund 400 Geruchsrezeptoren besetzt, die wie Türschlösser funktionieren, in die nur ein bestimmter Schlüssel passt. Docken Duftmoleküle an den Rezeptor an, lösen sie eine elektrische Erregung aus.
Die Riechzelle sendet diesen Reiz entlang feiner Riechfasern direkt weiter zum Riechkolben oberhalb der Nasenwurzel im Gehirn. Der Riechkolben ist die zentrale Schaltstelle, in der die erste Verarbeitung des Geruchs erfolgt. Von dort geht das Signal weiter an das Riechzentrum des Gehirns, das direkt hinter der Nase sitzt. Hier findet die Analyse des einlaufenden Signals statt, und die Ergebnisse werden an unser Großhirn weitergeleitet, wodurch wir den Geruch bewusst wahrnehmen.
Geruchsrezeptoren außerhalb der Nase
Interessanterweise gibt es Geruchsrezeptoren auch außerhalb der Nase, zum Beispiel im Darm, im Herzen, in der Lunge, in den Hoden, der Haut und sogar in weißen Blutzellen. Sie spielen eine wichtige Rolle für das Immunsystem und kommen auch in Krebsgewebe vor, wobei ihre genaue Funktion an diesen Stellen noch erforscht wird.
Die unterschätzte Macht der Gerüche im sozialen Kontext
Geruchsforscher betonen, dass wir unserem Geruchssinn oft zu wenig Aufmerksamkeit schenken, obwohl die Nase eine zentrale Position im Gesicht einnimmt. Der Geruchssinn bestimmt unser soziales Verhalten stärker, als wir oft bewusst wahrnehmen. Wir nehmen den Duft anderer Menschen oft nur unterbewusst wahr.
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Körpergerüche können viel über unseren Zustand verraten. "Wenn man einen Infekt ausbrütet, ändert sich der Körpergeruch. Wenn sich die Laune ändert, man sich fürchtet oder freut, all das teilt man mit", erklärt Thomas Hummel, Leiter des interdisziplinären Zentrums "Riechen und Schmecken" am Uniklinikum Dresden. Diese Kommunikation ist besonders ehrlich, weil der Aussendende sie nicht verändern kann. Wenn wir jemanden "nicht riechen können", gehen wir instinktiv auf Abstand. Umgekehrt ziehen uns manche Menschen mit ihrem Körperduft nahezu unwiderstehlich an.
Geruch und Partnerwahl
Auch innerhalb der Familie spielt der Geruchssinn eine wichtige Rolle. Er ist entscheidend für die Inzestschranke. Sogar Informationen über das Immunsystem lassen sich über den Geruch austauschen, insbesondere über die sogenannten MHC-Gene, die den Körpergeruch beeinflussen. Menschen vermeiden Partner mit ähnlichem Immunsystem, um möglichst unterschiedliche Gene an ihren Nachwuchs zu vererben. Bei Freundschaften ist es anders: Enge Freunde riechen ähnlich, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne.
Schlüsselaromastoffe und Geschmackswahrnehmung
Lebensmittel strömen eine Vielzahl an Aromen aus, die wir an ihrem Geruch erkennen. Professor Thomas Hofmann und sein Team von der Technischen Universität München haben das Geruchsstoffmuster von 227 Lebensmittelproben analysiert und festgestellt, dass der typische Geruch eines Lebensmittels nur von drei bis 40 Schlüsselaromen in unterschiedlichen Konzentrationen und Mischverhältnissen bestimmt wird. Insgesamt wurden 230 solcher Schlüsselaromastoffe identifiziert.
Essen wir eine Banane, übersetzen wir die chemischen Geruchscodes in olfaktorische Reizmuster. Die Schlüsselgeruchsstoffe interagieren mit den Geruchsrezeptoren in der Nase. Beim Essen gelangen Aromastoffe aus der Nahrung über den Rachen in die Nase, wo sie die Riechrezeptoren stimulieren. Tatsächlich entstehen rund 80 Prozent des Aromas auf diese Weise.
Riechstörungen: Ursachen, Folgen und Therapien
Der Geruchssinn kann durch Mutationen eingeschränkt oder durch Krankheiten verloren gehen, etwa bei Krebs- und Asthma-Patienten durch Medikamente, durch psychische Erkrankungen, Virusinfektionen, Feinstaub oder toxische Substanzen. Riechstörungen können auch ein Warnsignal sein und lange auftreten, bevor Krankheiten wie Alzheimer, Multiple Sklerose und Parkinson ausbrechen.
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Besonders auffällig war der Verlust des Geruchs- und/oder Geschmackssinns im Fall von Covid-19. Das Virus infiziert die Stützzellen der Riechschleimhaut, was zu einer Entzündung führt, die die Riechzellen beeinträchtigt. Die Regeneration der Riechzellen kann Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern, und in manchen Fällen gelingt sie möglicherweise gar nicht.
Arten von Riechstörungen
Geruchsstörungen lassen sich in drei Kategorien einteilen: "Hyposmie" (eingeschränkte Wahrnehmung), "Parosmie" (Verzerrung des Geruchssinns) und "Anosmie" (vollständiger Verlust des Geruchssinns). Die Wahl der Therapiemöglichkeiten hängt von der Art der Störung ab.
Riechtraining als Therapie
Riechforscher empfehlen das sogenannte Riechtraining, das durch monatelanges Üben die Neubildung von Riechzellen anregen kann. Patienten schnuppern täglich an mit verschiedenen Gerüchen ausgestatteten Fläschchen und versuchen dabei, die wahrnehmbaren Unterschiede bewusst im Gehirn zu verankern. Dies ist jedoch nur dann erfolgreich, wenn zumindest ein gewisser Restgeruchssinn vorhanden ist. Darüber hinaus werden alternative Ansätze wie die Verwendung von Vitamin A und thrombozytenreichem Eigenblutplasma erforscht.
Geruch und Gedächtnis: Eine untrennbare Verbindung
Gerüche rufen oft die stärksten und direktesten Erinnerungen hervor. Umgekehrt gilt: Wer nicht gut riechen kann, erinnert sich unter Umständen auch schlechter. Es gibt eine enge Verbindung zwischen einem beeinträchtigten Geruchssinn und Demenzerkrankungen wie Alzheimer.
Der direkte Weg zum Emotionszentrum
"Unser Geruchssinn ist der einzige, der direkt mit dem Emotionszentrum unseres Gehirns verbunden ist", sagt Rachel Herz, die die Psychologie des Riechens erforscht. Duftreize gelangen über eine direkte Bahn ungefiltert zur Amygdala, dem "Gefühlskern" des Gehirns, und zum benachbarten Hippocampus, in dem unser Gehirn Erlebnisse verarbeitet und Erinnerungen formt. Diese Strukturen gehören zum limbischen System, das eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen spielt.
Die Funktion des AON
Forscher haben untersucht, was passiert, wenn eine bestimmte Geruchsbahn im Gehirn unterbrochen wird, die das limbische System mit dem Nervenkern AON (anteriorer olfaktorischer Nukleus) verbindet. Die Tiere schnupperten immer wieder an derselben Geruchsquelle, als ob sie diese stets aufs Neue entdecken würden. Zwar konnten die Mäuse den neuen Geruch wahrnehmen, aber sie konnten ihn nicht mehr abspeichern und in einen Kontext einordnen.
Posttraumatische Belastungsstörungen
Nicht immer sind Düfte mit angenehmen Eindrücken verbunden. "Gerüche sind die schlimmsten Auslöser bei posttraumatischen Belastungsstörungen", sagt Herz. Der Geruch von Grillfleisch kann beispielsweise untrennbar mit traumatischen Erlebnissen verbunden sein.
Die duftlose Welt
"Menschen ohne Geruchssinn gehen ihre emotionalsten Erinnerungen verloren", sagt Herz. Auch der Spaß am Essen und viele andere sinnliche Freuden fallen weg. Studien zeigen, dass Menschen, die keine Düfte mehr wahrnehmen konnten, nach einem Jahr depressiver waren als jene, die erblindet waren.
Ätherische Öle und das limbische System
Ätherische Öle können über das limbische System grundlegend unsere Stimmung und unser Gemüt beeinflussen. Emotionen haben unseren Vorfahren als Handlungsanweisungen gedient, etwa wenn Gefahr bestand. Ausgelöst werden mussten solche Emotionen oder Affekte durch Sinnesreize, welche Gefahren wahrnehmen. Der erste Sinn, der jemals von lebenden Wesen ausgebildet wurde, war der Geruchssinn. Darum ist die Bedeutung des Geruchssinns derart fundamental.
Für die anderen Sinne (Sehen, Hören, Schmecken, Tasten) dient der Thalamus als Schaltstelle, bevor die Informationen der Sinnesreize an die jeweiligen Zentren zur Verarbeitung weitergeleitet werden. Diese Zentren liegen dann in der Großhirnrinde und nicht mehr in der Nähe des Hirnstamms. Alle Sinnesreize bis auf den Geruch brauchen also vergleichsweise lange, um verarbeitet zu werden, und ihr Einfluss ist nicht so unmittelbar und stark wie bei Gerüchen, die direkt im limbischen System landen. Der olfaktorische Kolben (das Riechzentrum) liegt bereits in unmittelbarer Nähe zum limbischen System. Da zudem keine Schranken wie der Thalamus bestehen, wirken die Gerüche unmittelbar auf das Emotionszentrum ein.
Anwendung von ätherischen Ölen
Ätherische Öle können auf vielfältige Weise angewendet werden, z. B. in der Duftlampe, als Massageöl oder im Badewasser. Es wird empfohlen, ein Repertoire an Ölen zu haben, welches bei bestimmten Fällen eingesetzt wird. Wer beispielsweise bei Schreibtischarbeiten immer denselben Orangenduft riecht, wird bei diesem Geruch an Schreibtischarbeit erinnert. Das kann beispielsweise bei Studierenden hilfreich sein, die in der Prüfung und den Lernsessions denselben Duft riechen.
Die Macht der Düfte im Alltag
Unser Geruchssinn ist ein wahres Wunderwerk, der uns oft viel stärker prägt, als uns bewusst ist. Während akustische, optische und haptische Reize zunächst in der Großhirnrinde verarbeitet werden müssen, hat unser Riechsinn einen direkten Draht zum limbischen System. Wenn wir einatmen, treffen die Duftmoleküle auf die Riechschleimhaut, wo sie nach einem Schlüssel-Schloss-Prinzip erkannt und in ein elektrisches Signal umgewandelt werden, das über den Riechkolben im limbischen System ankommt.
Düfte, die wir als angenehm empfinden, können sich positiv auf unser vegetatives Nervensystem auswirken: Die Atmung vertieft sich, Puls und Blutdruck senken sich, der Pegel an Stresshormonen sinkt und die Produktion von Glückshormonen wird gefördert. Was wir gut riechen können, tut uns in der Regel auch seelisch gut.
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