Der Begriff "Gehirn" ist in der Biologie klar definiert und bezieht sich auf einen Teil des Zentralnervensystems von Wirbeltieren. Doch was ist mit den vielzähligen Bakterien, die uns umgeben und in uns leben? Haben auch sie eine Art Denkorgan? Dieser Frage soll in diesem Artikel auf den Grund gegangen werden, wobei sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse als auch populäre Missverständnisse berücksichtigt werden.
Bakterien: Allgegenwärtige und unverzichtbare Mikroorganismen
Bakterien sind einzellige Mikroorganismen, die seit etwa 3,5 Milliarden Jahren auf der Erde existieren. Im Gegensatz dazu gibt es den Menschen erst seit etwa 300.000 Jahren. Sie sind allgegenwärtig und besiedeln nahezu jeden Lebensraum, von den Tiefen des Ozeans bis zum menschlichen Körper. Tatsächlich tragen wir im Schnitt etwa 2,5 Kilogramm Bakterien mit uns herum - mehr als das Gewicht unseres Gehirns (ca. 1,5 Kilogramm).
Oft werden Bakterien als "Killerkeime" oder "Krankenhauskeime" verteufelt, was jedoch ein verzerrtes Bild der Realität darstellt. Die Hygienefachkraft Birgit Steverding betont, dass es solche "Killerkeime" in dem Sinne nicht gibt. Zwar können einige Bakterien Krankheiten verursachen, aber die meisten sind entweder harmlos oder sogar lebensnotwendig für uns.
Die Rolle von Bakterien im menschlichen Körper
Ohne Bakterien könnten wir nicht leben. Sie spielen eine entscheidende Rolle bei verschiedenen Prozessen im Körper, insbesondere im Darm. Dort unterstützen sie die Verdauung, produzieren wichtige Vitamine und stärken das Immunsystem.
Allerdings kann es problematisch werden, wenn Bakterien in Körperbereiche gelangen, in die sie nicht gehören, beispielsweise Darmbakterien in die Lunge. Auch die Einnahme von Antibiotika kann das Gleichgewicht der Bakterienflora stören, da diese Medikamente nicht nur schädliche, sondern auch nützliche Bakterien angreifen.
Lesen Sie auch: Neurobiologie der Quallen enthüllt
Bakterielle Kommunikation und Koordination
Obwohl Bakterien keine Nervenzellen und somit kein Gehirn im herkömmlichen Sinne besitzen, sind sie keineswegs passive Organismen. Sie können miteinander kommunizieren und sich koordinieren, um komplexe Aufgaben zu erfüllen.
Ein faszinierendes Beispiel hierfür sind Biofilme. Wenn sich Bakterien zu einem Biofilm zusammenschließen, hören die Zellen am Rand des Films, die uneingeschränkten Zugang zu Nährstoffen haben, zeitweise auf zu wachsen. Stattdessen ermöglichen sie, dass wichtige Nährstoffe, insbesondere Glutamat, auch zum Zentrum des Biofilms fließen. Diese Koordination erfolgt über lange Distanzen und beinhaltet vermutlich eine Form elektrochemischer Kommunikation, da Glutamat ein elektrisch geladenes Molekül ist.
Forscher haben herausgefunden, dass die elektrische Spannung an den Zellmembranen synchron zum Biofilmwachstum schwankt. Diese Veränderungen des Membranpotentials werden durch Ionenkanäle ausgelöst, wobei hauptsächlich Kaliumionen an der elektrischen Signalübertragung beteiligt sind. Die Biologen Sarah Beagle und Steve Lockless vergleichen Biofilme aufgrund dieser Erkenntnisse mit einem "mikrobiellen Gehirn".
Die Darm-Hirn-Achse: Eine Verbindung zwischen Bakterien und Gehirn
In den letzten Jahren hat die Forschung zunehmend die Bedeutung der Darm-Hirn-Achse hervorgehoben. Diese bezeichnet die bidirektionale Kommunikation zwischen dem Darm und dem Gehirn, die über verschiedene Mechanismen erfolgt, darunter das Nervensystem, das Immunsystem und die Produktion von Stoffwechselprodukten.
Studien haben gezeigt, dass die Darmflora einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung und Funktion des Gehirns haben kann. So beeinflusst die Besiedlung des Darms mit Bakterien lebenslang die Immunabwehr des Gehirns und damit möglicherweise auch den Verlauf von Hirnerkrankungen wie Alzheimer und Multipler Sklerose.
Lesen Sie auch: Prävention von stummen Schlaganfällen
Insbesondere bei der Zersetzung von Ballaststoffen produzieren Bakterien kurzkettige Fettsäuren, die für die korrekte Funktion der Mikroglia benötigt werden. Mikroglia sind die Fresszellen des Gehirns, die eingedrungene Keime und abgestorbene Nervenzellen beseitigen und an der lebenslangen Formbarkeit des Gehirns beteiligt sind.
Mäuse, deren Darm keine Bakterien enthielt, entwickelten unreife und verkümmerte Mikroglia. Wurde später eine Darmflora etabliert, waren auch die Mikroglia-Zellen wieder gesünder. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine ausgewogene Ernährung, die zur bakteriellen Bildung von kurzkettigen Fettsäuren beiträgt, für die geistige Gesundheit von Bedeutung ist.
Bakterien im Gehirn: Eine neue Perspektive?
Eine überraschende Entdeckung, die auf der Jahrestagung der "Society for Neuroscience" präsentiert wurde, hat in der Fachwelt für Aufsehen gesorgt. Die Anatomin Rosalinda Roberts von der University of Alabama hatte in Gewebeschnitten des menschlichen Gehirns intakte Bakterien entdeckt.
Diese Bakterien befanden sich an und in manchen Zellen und waren von einer Kapsel umgeben. Die gefundenen Mikroben gehörten sogar zu Stämmen wie Bacteroidetes, Firmicutes und Proteobacteria, die auch im Darm vorkommen.
Bisher ist unklar, welche Funktion diese Bakterien im Gehirn haben und wie sie dorthin gelangen. Es wird vermutet, dass sie die Blut-Hirn-Schranke und/oder Nerven nutzen. Es ist auch noch nicht ausgeschlossen, dass es sich um eine Kontamination der Proben handelt. Dennoch deutet die Tatsache, dass die Bakterien nicht überall im Gehirn gefunden wurden und dass eine Nervenzelle neben einer mit Bakterien gefüllten Zelle keine Bakterien aufwies, auf eine spezifische Verteilung hin.
Lesen Sie auch: Insektenintelligenz am Beispiel von Käfern
Sollte sich bestätigen, dass Bakterien tatsächlich im Gehirn vorhanden sind und dort eine Rolle spielen, würde dies einen Paradigmenwechsel bedeuten und die Forschung über die Entstehung von Krankheiten grundlegend verändern.