Die Frage, ob Muscheln ein Nervensystem besitzen und in der Lage sind, Schmerzen zu empfinden, ist komplex und Gegenstand fortlaufender wissenschaftlicher Diskussionen. Während die Vorstellung, dass alle Tiere Schmerzen empfinden können, für viele Tierfreunde intuitiv erscheint, erfordert eine differenzierte Betrachtung der biologischen Grundlagen und des Verhaltens verschiedener Tiergruppen eine genauere Auseinandersetzung mit der Thematik.
Die Gefühlswelt der Tiere: Eine Frage der Perspektive
Bis ins 17. Jahrhundert herrschte die Ansicht vor, dass Tiere im Allgemeinen kein Schmerzempfinden haben. René Descartes sprach Tieren sogar jegliches Bewusstsein ab. Tatsächlich wurde Veterinärmedizinstudenten in den USA bis in die 1980er Jahre beigebracht, dass Tiere keinen Schmerz empfinden könnten. Es stellt sich die Frage, wie wir Menschen überhaupt in der Lage sind, über das Schmerzempfinden anderer Lebewesen zu urteilen. Wir können lediglich von unserem eigenen Schmerzempfinden auf das anderer Lebewesen schließen.
Anhaltspunkte für Schmerzempfinden
Es gibt konkrete Anhaltspunkte für Schmerzempfinden aufgrund verhaltensbezogener und physiologischer Reaktionen:
- Das Vorhandensein eines Nervensystems und von Sinnesrezeptoren.
- Abwehr- und Schutzreaktionen bei Schädigungen (Zuckungen, Hinken, Reiben, Lautäußerungen, Fluchtversuche).
- Opioidrezeptoren, die auf Schmerzmittel reagieren.
Wie entsteht Schmerz?
Schmerz entsteht durch die Wahrnehmung einer äußeren Reizung (Verletzung, Druck, Hitze, chemische Stoffe). Schmerzrezeptoren nehmen die Reize auf und leiten diese als elektrische Informationen an das Rückenmark weiter. Dort werden die Reize verarbeitet und an die Großhirnrinde (Neocortex) weitergegeben. Diese Information führt zu einer spontanen Abwehrreaktion des Körpers. Bei Wirbeltieren funktioniert dies ganz genauso.
Wirbellose Tiere: Eine andere Perspektive
Nur 4 % der Tiere auf der Erde sind Wirbeltiere. Die restlichen 96 % sind Wirbellose ohne Rückgrat. Dazu gehören Weichtiere (Schnecken, Muscheln, Tintenfische), Stachelhäuter (Seesterne), Krebstiere, Schwämme, Würmer, Insekten und Spinnentiere. In der Wissenschaft wird oft behauptet, dass Wirbellose kein Schmerzempfinden haben, da ihre Gehirne zu klein sind oder gar kein Gehirn vorhanden ist. Dabei wird jedoch die Verhältnismäßigkeit von Gehirngröße und Körpergröße oft außer Acht gelassen, die bei Wirbeltieren wie Fischen ähnlich ist.
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Nozizeption: Die Wahrnehmung von Schmerz
Die Wahrnehmung von Schmerz wird in der Wissenschaft als Nozizeption bezeichnet. Die verantwortlichen Rezeptoren sind Nozizeptoren, freie Nervenendigungen der Rückenmarksneuronen, die in allen schmerzempfindlichen Geweben des Körpers vorkommen. Bei Ringelwürmern, Weichtieren und Fadenwürmern wurden Nozizeptoren festgestellt, was darauf hindeutet, dass sie zu Empfindungen fähig sind.
Beispiele für Schmerzempfinden bei Wirbellosen
- Fruchtfliegen: Experimente haben gezeigt, dass Fruchtfliegen ein "Schmerzgedächtnis" entwickeln und zur Hypersensitivität fähig sind.
- Hummer: Experten gehen davon aus, dass Krebstiere wie Hummer über hochentwickelte Nervensysteme verfügen und daher ein Schmerzempfinden haben. Hummer zeigen ähnliche Reaktionen wie Hunde, die mit Stromstößen gequält werden.
Gesetzliche Regelungen zum Schutz von Krebstieren
In einigen Ländern gibt es bereits Gesetze zum Schutz von Krebstieren:
- Schweiz: Hummer müssen vor dem Kochen betäubt werden.
- Österreich: Hummer sind Wirbeltieren gleichgestellt.
- Neuseeland, Australien, Schottland, England, Norwegen: Das Lebendkochen von Hummern wird abgelehnt.
Fische: Bewusste Schmerzwahrnehmung?
Fische gehören zu den Wirbeltieren und haben schmerzempfindliche Nervenzellen (Nozizeptoren). Studien haben gezeigt, dass Fische nicht nur reflexartig auf Schmerz reagieren, sondern dass eine Informationsverarbeitung stattfindet. Die Verabreichung von Schmerzmitteln kann dieses Verhalten rückgängig machen. Dies deutet darauf hin, dass Fische Schmerz bewusst wahrnehmen und leidensfähig sind.
Muscheln, Schnecken, Tintenfische und Austern: Ein differenzierter Blick
Muscheln
Das Nervensystem einer Muschel gilt als sehr rudimentär. Italienische Forscher stellten jedoch fest, dass Miesmuscheln auf schmerzlindernde und hormonhaltige Stoffe reagieren. Bei gestressten Muscheln wurden weniger Anti-Stress-Moleküle (Endorphine) gefunden, während entspannte Muscheln einen höheren Endorphinspiegel aufwiesen. Auch Nozizeptoren wurden bei Muscheln festgestellt. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass Muscheln Schmerz empfinden können.
Schnecken
Schnecken besitzen kein zentrales Nervensystem, sondern Nervenknoten (Ganglien). Die Cerebralganglien fungieren als Sinneszentren, von denen Bewegungen und Reflexe ausgehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Schnecken Schmerzen empfinden können. Gemäß der Tierschutzschlachtverordnung dürfen Schnecken lebend in kochendes Wasser geworfen werden, da sie zu den Wirbellosen gehören und daher einen schwächeren Schutz genießen als Wirbeltiere.
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Tintenfische
Tintenfische gelten als sehr intelligent und sensibel. Sie verfügen über ein differenziertes Nervensystem mit beachtlichen Kommunikationsstrukturen und einem guten Kombinationsvermögen. Das Nervensystem des Tintenfischs ist sogar noch verzweigter als beim Menschen, da sich drei Fünftel der Neuronen in den Armen befinden. Das Leid, dem ein lebendig servierter Tintenfisch ausgesetzt ist, ist kaum vorstellbar.
Austern
Austern haben kein Gehirn, sondern ein paar vergrößerte Ganglien. Es ist jedoch möglich, dass sie Schmerz fühlen. Bei Stress schütten Austern Stoffe aus, die Opiatverbindungen gleichen, die das Gehirn bei Stress und Schmerz ausschüttet.
Die Meinung eines Experten
Christoffer Bohlig, der die einzige Austernfarm in Deutschland leitet, erklärt, dass Austern kein zentrales Nervensystem und kein Gehirn wie Menschen oder andere Wirbeltiere besitzen. Sie haben nur einfache Nervenknoten (Ganglien), mit denen sie grundlegende Reize wahrnehmen können. Austern reagieren auf Reize (Temperaturänderung, Berührung, Zitronensaft) durch muskelbasierte Reaktionen. Das Zucken ist ein Frischezeichen und keine Schmerzreaktion.
Die Grenzen des menschlichen Verständnisses
Es bestehen noch einige Unklarheiten bezüglich des Schmerzempfindens bei Tieren. Letztendlich sprechen wir von Lebewesen, bei denen man annehmen kann, dass sie in jedem Fall Todesängste entwickeln - ob dies nun aus einem Reflex heraus geschieht oder nicht. Es ist anmaßend, sich als Mensch darüber erheben zu wollen und von sich selbst auf andere Lebewesen zu schließen.
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