Die hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Drucklähmungen (HNPP) ist eine seltene Form der erblichen Neuropathien, die durch eine erhöhte Empfindlichkeit der peripheren Nerven gegenüber Druck gekennzeichnet ist. Klinisch kann sie der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathie Typ 1 (HMSN1) ähneln.
Was ist HNPP?
HNPP ist eine genetisch bedingte Erkrankung, die die peripheren Nerven betrifft. Diese Nerven sind für die Übertragung von Signalen zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark und dem Rest des Körpers verantwortlich. Bei Menschen mit HNPP sind die Nerven besonders anfällig für Schäden durch Druck oder leichte Verletzungen.
Ursachen von HNPP
In etwa 80 % der Fälle von klinisch gesicherter HNPP liegt eine Deletion von 1,4 Megabasenpaaren der CMT1A-/HNPP-Region auf Chromosom 17p11.2p12 vor, die den Genort für PMP22 (peripheres Myelinprotein 22) umfasst. Diese Deletion wird autosomal dominant vererbt, kann aber auch neu entstehen. Seltener wird HNPP durch Punktmutationen im PMP22-Gen verursacht. Die häufigste Form der HMSN1A wird durch eine Duplikation der gleichen 1,4 MB Region verursacht, die bei HNPP deletiert ist.
Symptome von HNPP
Die Symptome von HNPP können von Person zu Person variieren, aber einige häufige Anzeichen und Symptome sind:
- Wiederkehrende Empfindlichkeit der peripheren Nerven gegenüber minimalem Druck.
- Periphere Nervenlähmungen nach leichter Druckschädigung (z. B. durch Übereinanderschlagen der Beine oder Auflegen der Unterarme). Betroffen sind häufig der N. peroneus (fibularis), N. ulnaris und N. medianus.
- Radikuläre Schädigungen bis hin zu einer schlaffen Paraplegie können vorkommen.
- Verzögerte Nervenleitgeschwindigkeit in den betroffenen Nerven oder Nachweis eines Leitungsblocks.
- Mögliche bleibende Restlähmungen und Sensibilitätsstörungen im Laufe der Zeit durch Summation traumatischer Schädigungen.
Die Symptome beginnen meist im frühen Erwachsenenalter, oft nach dem 20. Lebensjahr. Die Ausfälle bilden sich meist innerhalb von Wochen vollständig zurück.
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Diagnose von HNPP
Die Diagnose von HNPP umfasst in der Regel eine Kombination aus:
Klinischer Untersuchung: Beurteilung der Symptome und der Krankengeschichte des Patienten.
Elektrophysiologische Untersuchungen: Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, um die Funktion der peripheren Nerven zu beurteilen.
Molekulargenetische Untersuchungen: Analyse des PMP22-Gens auf Deletionen oder Punktmutationen. Eine Stufendiagnostik wird empfohlen:
- Stufe I: MLPA-Analyse zum Nachweis einer Deletion im PMP22-Gen (Sensitivität ca. 80 %).
- Stufe II: DNA-Sequenzanalyse des PMP22-Gens (Sensitivität ca.
Nervenbiopsie: In einigen Fällen kann eine Nervenbiopsie durchgeführt werden, um das morphologische Bild mit wurstförmigen Myelinverdickungen (Tomakuli) zu untersuchen.
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Differentialdiagnose
Bei der Diagnose von HNPP müssen andere periphere Neuropathien ausgeschlossen werden, insbesondere die HMSN1. Auch erworbene Ursachen für periphere Neuropathien, wie z.B. Alkoholmissbrauch oder Diabetes mellitus, sollten in Betracht gezogen werden.
Genetische Aspekte im Detail
Die genetische Abklärung der klinischen Verdachtsdiagnosen HMSN Typ I, II, III bzw. HNPP ist durch molekulargenetische Untersuchungen möglich. Die Bestimmung des PMP22-Gens bei Verdacht auf HMSN I oder HNPP ist eine etablierte Diagnostik.
Molekulargenetische Untersuchung
Mittels Polymerasekettenreaktion (PCR) werden die Exons der o. g. Gene, inklusive angrenzender Intronbereiche, amplifiziert und anschließend direkt sequenziert. Der Nachweis von Deletionen und Duplikationen erfolgt durch eine MLPA-Analyse (Multiplex-Ligation-dependent-Product-Amplification).
Hinweise zur Probenentnahme
EDTA-Blutproben für molekulargenetische Untersuchungen können in der Regel ungekühlt mit der Post verschickt werden. Es ist wichtig, alle Probengefäße eindeutig mit Namen und Geburtsdatum des Patienten zu beschriften. Nicht eindeutig beschriftete Proben können nicht bearbeitet werden. Für die Anforderung von Untersuchungen sollten spezielle Anforderungsscheine (inkl. Patienteneinverständnis-Erklärung) verwendet werden.
Schriftliche Einwilligungserklärung
Gemäß Gendiagnostikgesetz (GenDG) ist eine schriftliche Einwilligungserklärung erforderlich. Bei humangenetischen Untersuchungen ist zu beachten, ob es sich um eine diagnostische Abklärung bei einem Erkrankten oder um eine (prädiktive) Testung einer Risikoperson auf Anlageträgerschaft für eine in der Familie bekannte Mutation handelt. Bei prädiktiven genetischen Untersuchungen ist gemäß GenDG eine vorherige genetische Beratung verpflichtend erforderlich.
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Zusätzliche genetische Tests
Multiplex ligation dependent probe amplification (MLPA) kann für Duplikations- bzw. Deletions-Screening in den Genen PMP22 (HMSN I A/HNPP) und MPZ/P0 (HMSN I B bzw. Punktmutationssuche) eingesetzt werden. Zusätzlich sind die Gene Bestandteil eines NGS-Neuropathiepanels.
Kosten der Diagnostik
Die Kosten für die genetische Diagnostik werden bei bestehender medizinischer Indikation über einen Überweisungsschein Typ 10 (EBM) abgerechnet. Ohne medizinische Indikation, d. h. bei Wunsch des Patienten, ist die Untersuchung eine Selbstzahlerleistung.
Therapie von HNPP
Es gibt keine spezifische Heilung für HNPP. Die Behandlung konzentriert sich auf die Linderung der Symptome und die Vermeidung von Nervenverletzungen. Zu den Empfehlungen gehören:
- Vermeidung von Druck auf die Nerven: Dies kann durch das Tragen von Polsterungen, das Vermeiden von langem Sitzen mit überkreuzten Beinen und die Anpassung von Arbeitsplätzen erreicht werden.
- Physiotherapie: Kann helfen, die Muskelkraft und Beweglichkeit zu erhalten.
- Schmerzmittel: Können bei Bedarf zur Schmerzlinderung eingesetzt werden.
- Operation: In seltenen Fällen kann eine Operation erforderlich sein, um den Druck auf einen Nerv zu verringern.
Hereditäre Motorisch-Sensible Neuropathien (HMSN) im Überblick
Die hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN), auch als Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung bezeichnet, sind eine Gruppe von erblichen neurologischen Erkrankungen, die durch eine progressive Schwäche und Lähmung der Extremitäten sowie Sensibilitätsstörungen gekennzeichnet sind. Die HMSN lassen sich unter klinischen und genetischen Aspekten in verschiedene Untergruppen einteilen.
Einteilung der HMSN
HMSN Typ I (CMT1): Demyelinisierende Form, häufigste Form, entwickelt sich bis zum 35. Lebensjahr, langsamer und gutartiger Verlauf. Klinisch findet man charakteristische Deformationen der Füße in Form von Hohlfußbildung und Krallenzehen, sowie "Storchenbeine".
- HMSN I A: Häufigste Form, meist durch eine Duplikation des PMP22-Gens verursacht.
- HMSN I B: Mutationen im MPZ/P0-Gen.
HMSN Typ II (CMT2): Axonale Form, ähnelt Typ 1, Erkrankungsalter höher, langsamerer Verlauf.
HMSN Typ III (Déjérine-Sottas-Krankheit): Demyelinisierende und seltene Form, entwickelt sich bereits in den ersten zehn Lebensjahren, rasch fortschreitend, oft mit verzögerter motorischer Entwicklung verbunden.
HMSN X1: Wird dominant vererbt, es findet keine Vererbung von Vater zu Sohn statt. Die NLG von Patienten variieren interindividuell aber auch intraindividuell sehr stark und können im Bereich der HMSN I oder der HMSN II liegen. Generell ist bei Männern meist eine schwerere Ausprägung, bei Frauen ein meist milderer Verlauf charakteristisch.
Diagnostische Ansätze bei HMSN
- Klinische Untersuchung: Erhebung der Familienanamnese und der Symptomatik.
- Elektrophysiologische Untersuchung: Bestimmung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG) zur Einteilung in demyelinisierende und axonale Formen. Bei den demyelinisierenden Formen (Typ I+III) ist die NLG stark vermindert, bei den axonalen Formen (Typ II) in der Regel nicht.
- Molekulargenetische Untersuchung: Gezielte Analyse spezifischer Gene, je nach Verdacht auf einen bestimmten HMSN-Typ.
- Nervenbiopsie: Kann in unklaren Fällen zur histopathologischen Untersuchung durchgeführt werden.
Bedeutung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG)
Durch die Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) kann eine Einteilung in demyelinisierende und axonale Formen vorgenommen werden. Bei den demyelinisierenden Formen (Typ I+III) ist die NLG stark vermindert, bei den axonalen Formen (Typ II) in der Regel nicht. Allerdings kann die NLG von Patienten mit HMSN X1 interindividuell aber auch intraindividuell sehr stark variieren und im Bereich der HMSN I oder der HMSN II liegen.
Differenzialdiagnose der HMSN
Bei einer peripheren Neuropathie müssen auch andere Ursachen ausgeschlossen werden (z. B. Alkohol-Abusus, diabetische Neuropathie).
Histopathologische Befunde
- HMSN I: Zeichen einer demyelinisierenden peripheren Neuropathie mit sog. onion bulbs, d. h. Zwiebelschalen-Konformation durch De- und Remyelinisierung.
- HMSN II: Zeichen einer axonalen Degeneration, Zwiebelschalenformationen oder Zeichen einer Demyelinisierung fehlen.
- Déjerine-Sottas-Syndrom (DSS): Ausgeprägte Zwiebelschalenformation und tastbar verdickte Nerven.
Andere hereditäre Neuropathien
Neben HNPP und HMSN gibt es noch weitere seltene hereditäre Neuropathien, wie z.B. die hereditären sensiblen und autonomen Neuropathien (HSAN).
Hereditäre Sensible und Autonome Neuropathien (HSAN)
Es handelt sich hierbei um sehr seltene erbliche Neuropathien, bei denen sensible und autonome Nervenfasern von der Degeneration betroffen sind. Fehlendes Schmerzempfinden führt bei diesen Patienten ähnlich wie bei der Syringomyelie zu häufigen Verletzungen, Verbrennungen und Mutilationen.
- HSAN I (Maladie de Thévenard): Vererbung autosomal-dominant. Beginn in der 2.-5. Lebensdekade. Heftige neuropathische Schmerzen, Ulzera an den Füßen bis hin zu Mutilationen.
- HSAN II (Morvan’s disease, „infantile Syringomyelie“): Vererbung autosomal-rezessiv. Beginn bei Geburt. Fehlende Muskeleigenreflexe. Mutilationen an Händen und Füßen.
- HSAN III (Riley-Day-Syndrom, familiäre Dysautonomie): Vererbung autosomal-rezessiv. Kommt fast nur bei Ashkenazi-Juden vor. Fehlende Tränensekretion, orthostatische Dysregulation, fleckige Hautrötung, labile Temperatur- und Schweißregulation. Schwere Skelettschäden (Skoliosen), ZNS-Beteiligung, Minderwuchs.
- HSAN IV (Swanson-Syndrom, kongenitale Schmerzunempfindlichkeit mit Anhidrose): Vererbung autosomal-rezessiv. Seit Geburt Schmerzunempfindlichkeit, fehlendes Schwitzen, episodisches Fieber. Geistige Retardierung, Minderwuchs, multiple Frakturen und Mutilationen.
- HSAN V: Vererbung autosomal-rezessiv. Verlust von Schmerz- und Temperaturempfinden bei normaler Tiefensensibilität. Beginn bei Geburt.
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