Therapieoptionen bei hereditären Neuropathien

Die hereditäre Neuropathie, insbesondere die hereditäre motorisch-sensible Neuropathie (HMSN) oder das Charcot-Marie-Tooth-Syndrom (CMT), umfasst eine Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen der peripheren Nerven. Diese Erkrankungen sind durch einen langsam fortschreitenden Abbau (Degeneration) der peripheren Nerven gekennzeichnet. Die zunehmende Muskelschwäche, beginnend bei den Füßen, führt zu Muskelschwund (Atrophie) und Bewegungseinschränkungen der Extremitäten. Obwohl HMSN nicht heilbar ist, können Symptome gelindert und Folgebeschwerden wie dauerhafte Bewegungs- und Funktionseinschränkungen von Gelenken (Kontrakturen) vermieden und behandelt werden.

Überblick über hereditäre Neuropathien

Hereditäre Neuropathien stellen eine klinisch und genetisch heterogene Gruppe von Erkrankungen des peripheren Nervensystems dar. Die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT), auch hereditäre motorische und sensorische Neuropathie (HMSN) genannt, ist die häufigste Form der hereditären Neuropathien mit einer Prävalenz von ca. 1:2.500. In Abgrenzung zur CMT sind die rein motorischen und rein sensiblen Neuropathien zu sehen, u.a. die hereditären distal motorischen Neuropathien (dHMN) und hereditären sensiblen Neuropathien (HSN) oder mit (autonomer Beteiligung) HSAN. Eine Sonderform ist die HNPP (hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen).

Klinisch und elektroneurografisch lassen sich hereditäre und erworbene Neuropathien nicht voneinander unterscheiden. Die Familienanamnese bei hereditären Neuropathien kann leer sein, u.a. bei Spontanmutationen (de-novo-Mutationen) oder bei autosomal-rezessivem Vererbungsmodus. Die ersten Symptome müssen nicht in der Kindheit und in der Jugend auftreten. Neuropathien mit „late onset“, d.h. Symptombeginn im mittleren bis späteren Lebensalter sind bekannt.

Diagnostik hereditärer Neuropathien

Die Diagnose hereditärer Neuropathien stützt sich auf verschiedene Säulen. Eine detaillierte Familienanamnese ist essenziell, auch wenn diese aufgrund von Spontanmutationen oder autosomal-rezessiven Erbgängen unauffällig sein kann. Klinische Untersuchungen und elektrophysiologische Tests helfen, das Ausmaß der Nervenschädigung zu beurteilen. Seit Beschreibung des ersten Neuropathie-Gens 1991 für die am häufigsten vorkommende CMT1A (PMP22-Gen) sind mittlerweile mehr als 130 Gene bekannt, die mit einer Neuropathie assoziiert sein können. Heutzutage stehen Multi-Gen-Panel und Exom-Sequenzierung zur Verfügung, sehr hilfreich für die endgültige Diagnosestellung. Nur Personen mit molekulargenetisch gesicherter Neuropathie werden an künftigen Therapie-Studien teilnehmen können.

Nervenbiopsien (in der Regel N. suralis) kommen durch die Molekulargenetik weit seltener zur Anwendung als noch vor einigen Jahren. Sie spielen noch eine Rolle bei akuten, inflammatorischen und rasch progredienten Neuropathien.

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Genetische Diagnostik

Hereditäre Erkrankungen haben in den zurückliegenden Jahren eine Art Renaissance erlebt, weil sie aufgrund neuer Verfahren besser entdeckt werden können. Der technologische Fortschritt in der Biomedizin zeigt sich besonders deutlich in der Möglichkeit, eine Vielzahl von Genen beispielsweise mittels Hochdurchsatzsequenzierung („next generation sequencing“) relativ kostengünstig bestimmen zu können. In naher Zukunft wird es immer einfacher werden, Tausende von Genen in einer Testung sequenzieren zu lassen. Dieser methodische Fortschritt impliziert auch eine größere Komplexität im medizinischen Alltag: Es wird immer wichtiger werden, die zu bestimmenden Gene und den sinnvollen Zeitpunkt ihrer Sequenzierung zu definieren. Die meisten publizierten Studien zu hereditären Polyneuropathien untersuchten gut charakterisierte und wohl definierte Patientenpopulationen mit klarem klinischen Verdacht auf eine vererbte Erkrankung. Es ist daher richtig, wie in dem von Eggermann und Kollegen vorgeschlagenen Leitfaden zur Diagnose hereditärer Polyneuropathien postuliert, dass erst bei einem begründeten klinischen Verdacht zunächst gezielt einzelne Gene im Sinne einer Stufendiagnostik untersucht werden sollten. Eine breiter angelegte Exom-Sequenzierung, also die Untersuchung aller im Erbgut Proteine kodierender Abschnitte, ist mit dem Problem behaftet, dass auch Mutationen entdeckt werden könnten, die in keinem Zusammenhang mit dem klinischen Beschwerdebild stehen, was insbesondere aus ethischer Sicht kritisch betrachtet werden muss. Es ist daher wichtig, in der richtigen diagnostischen Reihenfolge und zum geeigneten Zeitpunkt zunächst fokussiert eine entsprechende Genanalyse zu initiieren.

Klinischer Leitpfad

Basierend auf einer Literatursuche der letzten 10 Jahre beschreiben Sommer und Kollegen im ersten Artikel den aktuellen Kenntnisstand zu erworbenen Polyneuropathien (2). Dabei definieren sie einen klinischen Leitpfad, der im praktischen Alltag eine möglichst stringente und effiziente Diagnosestellung erlauben soll. Dies ist aus medizinischer und gesundheitsökonomischer Sicht hilfreich und begrüßenswert.

Therapieansätze bei hereditären Neuropathien

Die Therapie erblicher Neuropathien zielt primär darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Da es sich um genetisch bedingte Erkrankungen handelt, ist eine ursächliche Heilung derzeit nicht möglich, mit Ausnahme der Neuropathie bei der hereditären ATTR-Amyloidose. Hier stehen seit 2011 ein Molekülstabilisator (Tafamidis) und seit 2018 Gene-Silencing-Therapien zur Verfügung.

Konservative Therapie

  • Physiotherapie: Um die Muskelkraft und Beweglichkeit möglichst lange zu erhalten und Fehlstellungen von Gelenken zu vermeiden, ist die aktive Physiotherapie besonders wichtig. Liegen starke Lähmungen (Plegien) in Armen oder Beinen vor, können Spezialisten passive Techniken zur Unterstützung und Vorbeugung von Kontrakturen einsetzen. Bei klinisch häufig im Vordergrund stehender sensibler Gang- und Standataxie sowie diffuser Schwindelsymptomatik ist Physiotherapie mit integrierter Gangschulung und Gleichgewichtstraining einsetzbar.
  • Ergotherapie: Bei stark betroffenen Händen können Schreib- und Esshilfen eingesetzt werden. Zusätzlich trainieren Spezialisten der Ergotherapie mit dem Patienten die Feinmotorik sowie den Umgang mit Hilfsmitteln.
  • Hilfsmittelversorgung: Hilfsmittelversorgung und -optimierung sind fester Bestandteil in der Versorgung von Patienten mit Neuropathien, um die Mobilität, Selbstständigkeit in Alltag und Beruf zu unterstützen und zu erhalten.
  • Schmerztherapie: Bei schmerzhafter Neuropathie kommen verschiedene Substanzen zum Einsatz: u.a. Pregabalin, Gabapentin, Amitryptilin, Duloxetin, Tramadol…
  • Logopädie: Insbesondere bei der Friedreich-Ataxie (FRDA) können logopädische Maßnahmen sinnvoll sein, um Sprech- und Schluckstörungen zu behandeln.

Operative Therapie

Operative Verfahren können infrage kommen, um bestimmte Beschwerden zu behandeln oder Folgeerkrankungen zu vermeiden. So können bei Hammerzehen der Gefahr einer Geschwürbildung am Großzehenballen operativ vorgebeugt oder operative Korrekturen am Fuß vorgenommen werden, um Verrenkungen und Fehlhaltungen zu verhindern. In manchen Fällen können stark zerstörten Gelenken in sogenannten Versteifungsoperationen wieder Halt gegeben und dadurch Schmerzen behoben werden.

Medikamentöse Therapie

Bis dato sind für die hereditären Neuropathien noch keine medikamentösen Therapien bekannt. Eine Ausnahme ist die Neuropathie bei der hereditären ATTR-Amyloidose. Seit 2011 steht ein Molekülstabilisator (Tafamidis) zur Verfügung und seit 2018 Gene-Silencing-Therapien.

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Omaveloxolon bei Friedreich-Ataxie (FRDA)

Eine erste zugelassene medikamentöse Therapieoption besteht mit dem oral verfügbaren Omaveloxolon für Erwachsene und Jugendliche ab 16 Jahren. Es handelt sich um einen Aktivator des Transkriptionsfaktors Nrf2 (nuclear factor erythroid 2-related factor 2). Der dazugehörige Signalweg ist bei der FRDA dysreguliert und spielt für die zelluläre Redox-Homöostase eine zentrale Rolle [6]. In der zulassungsrelevanten, placebokontrollierten Phase-II-Studie ­MOXIe zeigten Omaveloxolon-behandelte Personen mit FRDA (n = 103) gegenüber Placebo eine statistisch signifikante Verbesserung der motorischen und bulbären Funktionen nach 48 Wochen [7].

Aktuelle Forschung

Aktuell werden verschiedene medikamentöse Therapieansätze in klinischen Studien evaluiert: Sie reichen von der Verbesserung der mitochondrialen Funktionen über die Modulation FXN-abhängiger metabolischer Signalwege bis hin zur FXN-Ersatztherapie und Eingriffen in die FXN-Genexpression (Abb.) [5].

Spezifische Therapie bei Friedreich-Ataxie (FRDA)

Die Friedreich-Ataxie (FRDA) ist eine spezielle Form der hereditären Ataxie, die meist in jungen Jahren auftritt. Die neurodegenerativen Veränderungen sind vornehmlich in den sensorischen Neuronen, im Kleinhirn sowie den Hinterstrangbahnen lokalisiert. Ursächlich ist eine homozygote GAA-Triplet-Repeat-Expansion im ersten Intron des FXN-Gens, die zur reduzierten Expression des Proteins Frataxin führt.

Die Sicherung der FRDA-Diagnose erfolgt über den molekulargenetischen Nachweis. Die klinische Diagnose der FRDA kann problematisch sein, da das Spektrum der möglichen Differenzialdiagnosen breit ist und sich einige der klinischen Anzeichen überlappen. Wichtige Hinweise können die positive ­Familienanamnese oder der Befund einer Kardiomyopathie sein. Phänotypisch kann der erworbene Vitamin-E-Mangel einer FRDA besonders ähnlich aussehen - bei einer meist sensiblen Ataxie, Retinopathie und seltener Kardiomyopathie [4].

Nach wie vor lässt sich die Erkrankung nicht kurativ behandeln. Insbesondere dienen physiotherapeutische, logopädische und sozialmedizinische Maßnahmen sowie die Versorgung mit Hilfsmitteln dem Erhalt bzw. der Aufrechterhaltung der noch bestehenden Funktionen und Mobilität. Hilfreiche Anlaufstellen für die Betroffenen und ihre Angehörigen sind Selbsthilfeorganisationen.

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CMT-NET und CMT-Register

Das CMT-NET ist ein deutschlandweites Netzwerk zur Erforschung der Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT). Alle Personen mit CMT-Neuropathie in Deutschland und Österreich können sich registrieren unter www.cmt-register.de. Dies ist eine Informationsplattform für alle, die sich registriert haben.

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