Hereditäre Neuropathie Typ 1: Ursachen, Symptome und Therapie

Hereditäre Polyneuropathien, insbesondere die hereditäre Neuropathie Typ 1 (HMSN1/CMT1), stellen eine Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen des peripheren Nervensystems dar. Diese Erkrankungen wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts erstmals beschrieben, als Nervenärzte wie Charcot, Marie und Tooth die familiäre Häufung eines meist symmetrischen distalen Muskelschwunds erkannten, der mit Muskelschwäche in den Unterschenkeln und Füßen, erheblichen Fußdeformierungen, Gangstörungen sowie Atrophie und Schwäche der kleinen Handmuskeln einhergeht.

Klinik

Der Krankheitsbeginn kann in jedem Lebensalter liegen, typischerweise jedoch in der Kindheit oder im Jugendalter. Patienten mit klassischer Charcot-Marie-Tooth-Krankheit (CMT) klagen primär über eine Schwäche der Fuß- und Zehenheber, was den Schuhkauf aufgrund des oft ausgeprägten hohen Rists mit Hohlfuß und gelegentlicher Hammerzehenbildung erschwert. Die zusätzliche Schwäche der Peronealmuskulatur führt oft zum Überknöcheln und gelegentlichen Stürzen mit Verletzungen.

Bei fortgeschrittener Parese zeigt sich das typische Bild des Steppergangs. Im Krankheitsverlauf tritt häufig auch eine Muskelschwäche in den Händen auf, was zu feinmotorischen Problemen führt, die gelegentlich durch einen essenziellen Tremor verstärkt werden. Je nach genetischer Ursache können zusätzlich distale sensible Störungen auftreten, die meist die Oberflächensensibilität betreffen. Bei einzelnen genetischen Formen ist durch ein reduziertes Schmerzempfinden die Verletzungsgefahr erhöht, was zu verzögerter oder ausbleibender Wundheilung und tiefen Fußulzera führen kann. Andere CMT-Patienten leiden unter starken neuropathischen Schmerzen. Seltene Genotypen können auch andere Zusatzsymptome wie Heiserkeit durch Stimmbandlähmung, Hypakusis oder Sehstörungen verursachen.

Elektrophysiologische Klassifikation

Die Pathologie der peripheren Nerven wurde einige Jahrzehnte nach der Erstbeschreibung durch histologische Untersuchungen belegt. Dabei erkannte man, dass manche Formen der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) überwiegend durch eine Schädigung der Myelinscheide (CMT1, demyelinisierende Form) oder durch primär axonale Schädigung (CMT2, axonale Form) verursacht werden. In den 1970er- bis 1980er-Jahren wurden diese Störungen der peripheren Nerven durch elektroneurographische Untersuchungen bestätigt.

Die demyelinisierende Form (CMT1) geht mit einer erheblichen Verlangsamung der peripheren Nerven einher (<38 m/s), während bei axonalen Formen (CMT2) eine Verminderung der Amplituden der motorischen Nerven bei normaler oder nur wenig veränderter Nervenleitgeschwindigkeit (>38 m/s) festgestellt wird. Als Referenznerv für die Unterteilung in CMT1 und CMT2 dient der motorische N. medianus bzw. N. ulnaris. Bei der HMSN sind auch die sensiblen Nerven entsprechend verändert. In der Elektromyografie (EMG) finden sich chronisch neurogene Veränderungen. Rege Spontanaktivität gibt Hinweise auf eine progressive Verlaufsform, wie sie v. a. bei den spät beginnenden Formen häufig vorkommt. Bei Patienten mit HINT1-Mutationen sind repetitive Entladungen häufig, und diese Patienten berichten oft über Muskelkrämpfe bzw. eine Myotonie in den Händen.

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Genetik

Nach der Erstbeschreibung der Erkrankung wurde deutlich, dass trotz ähnlicher klinischer Erscheinungsbilder unterschiedliche genetische Ursachen vorliegen. Dies bestätigte sich in den 1980er- und 1990er-Jahren, als genetische Untersuchungen die zugrunde liegenden Mutationen aufdeckten. Für die klinisch gut abgrenzbare und häufigere CMT1 konnten erstmals die genetischen Ursachen entschlüsselt werden. Dominante Mutationen in den wichtigen, vorwiegend in Schwann-Zellen exprimierten Myelingenen des peripheren Nervensystems PO/MPZ ("myelin protein zero gene") und PMP22 ("peripheral myelin protein 22 gene") erwiesen sich neben dem GJB1 ("gap junction beta-1-gene") als die führenden Gene bei hereditären Neuropathien.

Die genetische Aufklärung der primär axonalen Formen gestaltete sich schwieriger, aufgrund der sehr unterschiedlichen, komplexen Wirkungsmechanismen in den Nervenzellen. Als Hauptgen gilt hier v. a. MFN2 ("mitofusin 2 gene") bei den dominanten Formen. Im Laufe der letzten 30 Jahre wurden immer mehr Gene identifiziert, die in der Pathogenese der hereditären Polyneuropathien eine Rolle spielen. Bis heute sind Mutationen in mehr als 80 Genen bekannt, die entweder in heterozygoter Form bereits krankheitskausal sind oder aber bei autosomal rezessiver bzw. x-gebundener Vererbung zur CMT-Erkrankung führen. Auch in Österreich sind in bereits mehr als 40 Genen Mutationen als Ursache für die CMT-Erkrankung identifiziert worden. Wie auch international kommt die demyelinisierende CMT1A am häufigsten vor, gefolgt von der an sich selteneren distalen hereditären motorischen Neuropathie Typ 5 (dHMN-V) mit Mutation im BSCL2 ("Berardinelli-Seip congenital lipodystrophy gene")-Gen. Diese ist bedingt durch die Founder-Mutation Asn88Ser, deren Ursprung bis ins späte 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden konnte. Nicht nur bei dieser speziellen genetischen Form, sondern auch bei anderen genetischen Subtypen besteht manchmal eine asymmetrische Verteilung der Muskelatrophie. Auch finden sich bei der dHMN-V meist lebhafte Muskeleigenreflexe der unteren Extremitäten.

Viele genetische Ursachen wurden im Zuge von Familienuntersuchungen (Koppelungsanalysen) zunächst im Genom lokalisiert und durch schrittweise Testung von Kandidatengenen schließlich geklärt. Auch fanden zeitgleich umfassende Genotyp-Phänotyp-Studien statt, durch die es möglich wurde, Besonderheiten für einzelne genetische Untertypen hervorzuheben. So erfolgte auch die Abgrenzung der distalen rein bzw. überwiegend hereditären motorischen Neuropathien (dHMN) bzw. jener Untergruppe, bei der überwiegend sensible und/oder autonome Nervenfasern (= hereditäre sensibel-autonome Neuropathie, HSN bzw HSAN) betroffen sind. Alle Erbgänge sind möglich, jedoch überwiegen bei uns dominante Formen, in Ländern mit einem höheren Anteil an Konsanguinität stehen jedoch rezessive Formen im Vordergrund. Nicht selten tritt aber die CMT-Erkrankung auch sporadisch auf.

Genetische Diagnostik

Trotz immenser Verbesserung der technischen Möglichkeiten, die uns nun für die genetische Diagnostik zur Verfügung stehen - insbesondere durch das seit einigen Jahren entwickelte Next Generation Sequencing (NGS), das mittlerweile nicht nur in der Forschung, sondern auch für die rasche Routinediagnostik angewandt wird - gelingt es weiterhin bei nahezu 50 % der CMT Patienten nicht, den Genotyp zuzuordnen. Da das Wissen um den Genotyp für die Beratung der Patienten hinsichtlich des zu erwartenden Krankheitsverlaufs wichtig ist, ist die Zuordnung zur zugrunde liegenden genetischen Abweichung von entscheidender Bedeutung. Sie ist ebenso für junge Patienten mit Kinderwunsch essenziell, um durch Bestätigung der genetischen Diagnose in Bezug auf das zu erwartende Vererbungsrisiko beraten zu können. Auch ist in schweren Fällen eine Präimplantationsdiagnostik nur dann möglich, wenn die genetische Ursache eindeutig zugeordnet werden kann.

Die genetische Abklärung wird in Österreich bereits an mehreren Institutionen bzw. Labors angeboten und kann vom Facharzt für Neurologie, Orthopädie oder Humangenetik nach entsprechender genetischer Beratung veranlasst werden. Die Auswahl des genetischen Tests (Einzelgenanalyse, NGS mit Panel oder "whole exome sequencing", etc) erfolgt individuell in Abhängigkeit vom klinisch-elektrophysiologischen Phänotyp, von der Größe des vermutlich mutierten Gens und vorhandenen Vorbefunden. Durch die mittlerweile kostengünstige Testung mittels NGS-Methoden ist die bisher meist angewandte Sanger-Sequenzierung einzelner CMT-Gene deutlich in den Hintergrund gerückt.

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Diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf eine erbliche Neuropathie

Bei Verdacht auf eine erbliche Neuropathie, insbesondere CMT, ist ein strukturierter diagnostischer Ansatz entscheidend. Dieser umfasst in der Regel folgende Schritte:

  1. Anamnese und klinische Untersuchung: Erhebung der Familienanamnese bezüglich neurologischer Erkrankungen und detaillierte Erfassung der Symptomatik des Patienten (Muskelschwäche, Sensibilitätsstörungen, Fußdeformitäten etc.).
  2. Elektrophysiologische Untersuchungen: Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) zur Unterscheidung zwischen demyelinisierenden (CMT1) und axonalen (CMT2) Formen. Elektromyographie (EMG) zur Beurteilung der Muskelaktivität und zum Nachweis neurogener Veränderungen.
  3. Laboruntersuchungen: Ausschluss anderer Ursachen für Neuropathien (metabolische, toxische, entzündliche Ursachen). Bestimmung von BSG, Kreatinin, HbA1c, CDT, ANA, ANCA, Vitamin B12, Immunfixation und Eiweißelektrophorese.
  4. Bildgebung: Nervensonografie zur Darstellung verdickter Nerven. Kernspintomografie (MRT) des Muskels zur Darstellung distaler Muskelatrophien.
  5. Nervenbiopsie: In ausgewählten Fällen zur Differenzialdiagnose, insbesondere bei Verdacht auf behandelbare nicht-erbliche Neuropathien (Vaskulitis, Perineuritis, CIDP, Lymphom, Amyloidose).
  6. Genetische Testung:
    • Einzelgenanalyse: Bei Verdacht auf demyelinisierende CMT Bestimmung der Kopienzahl des PMP22-Gens. Bei Hinweisen auf X-chromosomalen Erbgang Überprüfung des GJB1-Gens. Bei Small-Fiber-Neuropathie Analyse der Gene SCN9A, SCN10A und SCN11A.
    • NGS-Panel-Diagnostik: Bei anderen Formen der CMT/HSAN/HMN parallele Sequenzierung einer Vielzahl ursächlicher Gene.
    • Exom-Sequenzierung: In komplexen Fällen Sequenzierung aller ca. 23.000 Gene des Menschen.

Therapie

Auch wenn eine ursächliche Therapie bisher noch nicht zur Verfügung steht, besteht dennoch zumindest für einzelne Subtypen berechtigter Grund zur Hoffnung, dass CMT zukünftig nicht nur symptomatisch durch Physiotherapie, Schmerzmittel und orthopädische Hilfsmittel wie Orthesen und Schuhanpassung behandelt werden kann, sondern auch, dass durch kausale Therapien der Krankheitsverlauf zumindest verzögert oder auch gestoppt werden kann.

Konservative Therapie

  • Physiotherapie: Aktive Physiotherapie zur Erhaltung der Muskelkraft und Beweglichkeit. Passive Techniken zur Vorbeugung von Kontrakturen bei starken Lähmungen.
  • Ergotherapie: Training der Feinmotorik und des Umgangs mit Hilfsmitteln. Anpassung von Schreib- und Esshilfen bei Bedarf.
  • Orthopädische Hilfsmittel: Orthesen und orthopädische Schuhe zur Unterstützung der Fußhebung und zur Korrektur von Fehlstellungen.
  • Schmerzmittel: Behandlung neuropathischer Schmerzen.

Operative Therapie

  • Fußkorrekturen: Operative Korrektur von Hammerzehen zur Vorbeugung von Geschwürbildung. Korrekturen am Fuß zur Verhinderung von Verrenkungen und Fehlhaltungen.
  • Versteifungsoperationen: In manchen Fällen Versteifung stark zerstörter Gelenke zur Schmerzbeseitigung und Stabilisierung.
  • Sehnentransfers: Verlagerung von Sehnen zur Verbesserung der Fußhebung und zur Stabilisierung des Fußes.
  • Knochenkeilentnahme: Entnahme eines Knochenkeils zur Korrektur von Hohlfußfehlstellungen.
  • Sprunggelenksarthrodese: Versteifung des Sprunggelenks bei schwerer Arthrose und Fehlstellung.

Neurophysiologische Therapiekonzepte

Neurophysiologische Therapiekonzepte (u. a. supramaximale Belastungen bzw. Das Training sollte in Absprache mit Arzt und Therapeut erfolgen, um schädliche Belastungsspitzen zu vermeiden. Physiotherapie ist eine der wichtigsten symptomatischen Behandlungen der Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung. neurophysiologische Therapiekonzepte zum Einsatz, um Potenziale von Muskeln zu wecken und Bewegungen anzubahnen. Übungen sollen die ausgleichende Muskulatur sowie Rumpf und rumpfnahe Muskeln trainieren. Sturzprophylaxe helfen den Betroffenen, ihren Alltag leichter und sicherer zu bewältigen.

Ausblick

Erfreulicherweise ist in den letzten Jahren die CMT-Erkrankung auch in Österreich deutlich bekannter geworden. Ziel ist es, dass nicht nur Orthopäden und Neurologen, die die häufigsten Ansprechpartner der CMT-Patienten sind, das Krankheitsbild kennen, verstehen und abklären können, sondern dass auch Allgemeinmediziner, Schulärzte sowie Krankenversicherungen etc. das Wesen dieses Krankheitsbildes erfassen und verstehen können. Als Selbsthilfegruppe hat sich CMT Austria formiert und bietet den Betroffenen laufend aktualisierte Informationen zur Erkrankung und auch über geplante Therapiestudien, die v. a. zur pathogenetisch gut charakterisierten CMT1A immer wieder durchgeführt werden.

Bedeutung der genetischen Testung

Die Kritik an der Indikation zur genetischen Testung von Neuropathien und dem breiteren Einsatz einer NGS-Panel-Diagnostik bezieht sich zumeist auf das Argument der fehlenden Therapierbarkeit. Auch wenn die Therapie von Neuropathien bis auf wenige Ausnahmen symptomatisch bleibt, ist eine Abgrenzung von behandelbaren erblichen Formen wie der Transthyretin-Amyloidose oder dem Morbus Fabry wichtig. Es zeigt sich zudem vermehrt, dass typische neurophysiologische Zeichen einer inflammatorischen Neuropathie auch bei Patienten mit erblichen Neuropathien, zum Beispiel bei Mutationen in GJB1, SH3TC2, FIG4 oder SPTLC1, gefunden werden und dass bei einer hereditären Form nicht immer symmetrische Verteilungsmuster vorliegen müssen. Bei therapierefraktärer vermeintlich inflammatorischer Neuropathie sollte deshalb auch aufgrund differenzialdiagnostischer Erwägungen eine genetische Testung in Betracht gezogen werden.

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Häufig wird zudem unterschätzt, dass durch die molekulare Diagnosesicherung auch eine meist lange, teure und für den Patienten belastende Suche nach der Ursache der klinischen Symptome beendet wird. Letzteres wird von vielen Patienten als sehr hilfreich im Umgang mit der Erkrankung empfunden. Indem die Diagnose gesichert wird, kann eine eindeutige Aussage zum Erbgang und damit eine Angabe zum Vererbungsrisiko für Nachkommen getroffen werden.

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