Einführung
Die hereditären sensorischen und autonomen Neuropathien (HSAN) bilden eine vielfältige Gruppe seltener, erblicher Erkrankungen, die das periphere Nervensystem betreffen. Diese Gruppe umfasst verschiedene Typen, die sich in ihren genetischen Ursachen, klinischen Merkmalen und dem Schweregrad der Symptome unterscheiden. Dieser Artikel konzentriert sich auf die hereditäre sensorische und autonome Neuropathie Typ IV (HSAN IV), auch bekannt als "Congenital Insensitivity to Pain with Anhidrosis" (CIPA).
Was ist HSAN IV?
HSAN IV ist eine seltene, autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die durch eine angeborene Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz (Analgesie) und eine fehlende Schweißproduktion (Anhidrose) gekennzeichnet ist. Betroffene haben eine normale Sensibilität für Berührung, Vibration und Lageempfinden. Die Erkrankung wird durch Mutationen im NTRK1-Gen verursacht.
Ursachen von HSAN IV
Die HSAN IV wird durch Mutationen im NTRK1-Gen auf Chromosom 1q23.1 verursacht. Dieses Gen kodiert für den Neurotrophen Tyrosin Kinase Rezeptor Typ 1 (NTRK1), einen Rezeptor, der für das Überleben, Wachstum und die Differenzierung von Nervenzellen, insbesondere von Schmerz- und Temperaturfühlenden Neuronen, unerlässlich ist. Mutationen im NTRK1-Gen führen zu einem Funktionsverlust des Rezeptors, was die Entwicklung und Funktion dieser Nervenzellen beeinträchtigt. In der japanischen Bevölkerung ist eine bestimmte Founder-Mutation (p.Arg554Glyfs*104) für bis zu 70 % der Fälle verantwortlich, während in anderen Bevölkerungsgruppen unterschiedliche andere Loss-of-Function-Mutationen beschrieben wurden.
Da es sich um eine autosomal-rezessive Erkrankung handelt, müssen beide Kopien des Gens (jeweils eine von jedem Elternteil) mutiert sein, damit die Krankheit ausbricht. Eltern von betroffenen Kindern sind in der Regel gesunde Träger einer Mutation.
Symptome von HSAN IV
Die Symptome der HSAN IV manifestieren sich typischerweise bereits im Säuglings- oder Kindesalter. Zu den Hauptmerkmalen gehören:
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- Analgesie: Angeborene, weitgehende Schmerzunempfindlichkeit, die auch viszeralen Schmerz einschließt. Dies führt dazu, dass Verletzungen, Knochenbrüche und andere schmerzhafte Zustände unbemerkt bleiben.
- Anhidrose: Fehlende Schweißproduktion, die zu wiederkehrenden Fieberepisoden führen kann, da der Körper die Temperatur nicht effektiv regulieren kann.
- Selbstverletzendes Verhalten: Unbemerktes Abbeißen der Zungenspitze, Lippen oder anderer Körperteile aufgrund der fehlenden Schmerzempfindung.
- Unbemerkte Wundinfektionen: Verletzungen werden aufgrund der fehlenden Schmerzempfindung oft nicht bemerkt und können sich infizieren.
- Knochenbrüche und Gelenksdislokationen: Wiederholte Traumata und Belastungen der Knochen und Gelenke bleiben unbemerkt und führen zu Frakturen und Luxationen.
- Mentale Retardierung: Ist fast immer vorhanden.
- Weitere Auffälligkeiten: Multiple Knochenfrakturen, schlechte Wundheilung, Ulzerationen der Cornea.
Diagnose von HSAN IV
Die Diagnose der HSAN IV basiert auf den klinischen Befunden, der Familienanamnese und molekulargenetischen Untersuchungen.
- Klinische Untersuchung: Beurteilung der Schmerzempfindung, Schweißproduktion und anderer neurologischer Funktionen.
- Elektrophysiologische Untersuchungen: Die motorische und sensorische Nervenleitgeschwindigkeit ist in der Regel normal.
- Hautbiopsie: Neuropathologisch zeichnet sich die Erkrankung durch das Fehlen nicht myelinisierter Axone, eine verminderte Anzahl kleiner myelinisierter Axone sowie normale, jedoch nicht innervierte Schweißdrüsen aus.
- Molekulargenetische Untersuchung: Die Bestätigung der Diagnose erfolgt durch den Nachweis von Mutationen im NTRK1-Gen. Hierfür wird genomische DNA aus EDTA-Blut isoliert und die kodierenden Exons des NTRK1-Gens sequenziert.
Molekulargenetische Diagnostik
Die molekulargenetische Diagnostik spielt eine entscheidende Rolle bei der Bestätigung der Diagnose HSAN IV. Durch die Analyse des NTRK1-Gens können Mutationen identifiziert werden, die die Funktion des Neurotrophin-Rezeptors beeinträchtigen. Die genetische Testung ermöglicht nicht nur die Diagnose bei betroffenen Individuen, sondern auch die Identifizierung von Trägern in der Familie und die Durchführung von pränatalen Tests.
Einzelgenanalyse
Die Punktmutationssuche im NTRK1-Gen ist eine gezielte Methode, um bekannte Mutationen in diesem Gen zu identifizieren. Diese Methode ist besonders nützlich, wenn in einer Familie bereits eine Mutation bekannt ist oder wenn bestimmte Mutationen in einer bestimmten Population häufig vorkommen.
NGS-Neuropathiepanels
Alternativ kann das NTRK1-Gen auch als Teil eines Next-Generation-Sequencing (NGS)-Neuropathiepanels analysiert werden. Diese Panels umfassen eine Vielzahl von Genen, die mit verschiedenen Formen hereditärer Neuropathien assoziiert sind. Die NGS-Technologie ermöglicht die gleichzeitige Sequenzierung vieler Gene und ist daher besonders effizient bei der Diagnose genetisch heterogener Erkrankungen wie den hereditären Neuropathien.
Ablauf der molekulargenetischen Untersuchung
- Probenentnahme: Für die molekulargenetische Untersuchung wird in der Regel eine EDTA-Blutprobe benötigt. Es ist wichtig, alle Probengefäße eindeutig mit dem Namen und Geburtsdatum des Patienten zu beschriften.
- Anforderungsschein: Ein Anforderungsschein mit allen erforderlichen Angaben zur Anforderung der Untersuchung, einschließlich der Patienteneinverständniserklärung, sollte ausgefüllt werden.
- Einwilligungserklärung: Gemäß dem Gendiagnostikgesetz (GenDG) ist eine schriftliche Einwilligungserklärung erforderlich.
- Versand: EDTA-Blutproben können in der Regel ungekühlt mit der Post verschickt werden.
- Untersuchung: Die molekulargenetische Untersuchung umfasst die Isolierung von genomischer DNA, die Amplifikation und Sequenzierung der kodierenden Exons des NTRK1-Gens sowie die bioinformatische Analyse der Sequenzdaten.
- Befunderstellung: Nach Abschluss der Analyse wird ein Befund erstellt, der die identifizierten Mutationen und deren mögliche klinische Bedeutung beschreibt.
Genetische Beratung
Vor und nach der molekulargenetischen Untersuchung ist eine genetische Beratung empfehlenswert. Die genetische Beratung dient dazu, den Patienten und seine Familie über die Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Testung aufzuklären, die Ergebnisse der Untersuchung zu interpretieren und die möglichen Auswirkungen auf die Familienplanung zu besprechen. Bei prädiktiven genetischen Untersuchungen, d.h. bei der Testung von Risikopersonen auf Anlageträgerschaft für eine in der Familie bekannte Mutation, ist gemäß GenDG eine vorherige genetische Beratung verpflichtend.
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Therapie von HSAN IV
Es gibt derzeit keine kurative Therapie für HSAN IV. Die Behandlung konzentriert sich auf die Linderung der Symptome und die Verhinderung von Komplikationen.
- Schutz vor Verletzungen: Sorgfältige Überwachung und Schutz vor Verletzungen, insbesondere der Extremitäten.
- Fiebermanagement: Maßnahmen zur Senkung des Fiebers, wie Kühlung und Elektrolytausgleich.
- Hautpflege: Regelmäßige Hautpflege zur Vorbeugung von Infektionen und Ulzerationen.
- Orthopädische Maßnahmen: Behandlung von Knochenbrüchen und Gelenksdislokationen.
- Psychologische Unterstützung: Unterstützung für Patienten und Familien im Umgang mit den Herausforderungen der Erkrankung.
Differentialdiagnose
Bei der Diagnose von HSAN IV müssen andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ausgeschlossen werden. Dazu gehören andere Formen der hereditären sensorischen und autonomen Neuropathie, kongenitale Schmerzunempfindlichkeit ohne Anhidrose und erworbene Neuropathien.
Genetische Beratung und Familienplanung
Aufgrund des autosomal-rezessiven Erbgangs der HSAN IV haben Eltern eines betroffenen Kindes ein Wiederholungsrisiko von 25 % für jedes weitere Kind. Eine genetische Beratung ist ratsam, um die Risiken und Möglichkeiten der Familienplanung zu besprechen. Paare mit einem erhöhten Risiko können eine Präimplantationsdiagnostik (PID) oder eine vorgeburtliche Diagnostik in Erwägung ziehen, um festzustellen, ob ein Fötus von der Erkrankung betroffen ist.
Forschung und Ausblick
Die Forschung zur HSAN IV konzentriert sich auf das Verständnis der Pathophysiologie der Erkrankung und die Entwicklung neuer Therapieansätze. Zukünftige Forschungsrichtungen könnten Gentherapie, Medikamente zur Verbesserung der Nervenfunktion und innovative Ansätze zur Schmerzkontrolle umfassen.
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