Hereditäre sensible und autonome Neuropathien (HSAN) bilden eine heterogene Gruppe erblicher Erkrankungen, die durch eine chronische Polyneuropathie gekennzeichnet sind. Der Beginn liegt meist im frühen Kindesalter. Die Prävalenz hereditärer Neuropathien wird weltweit auf etwa 40/100.000 geschätzt. Mehr als drei Viertel aller chronischen Neuropathien im Kindesalter sind hereditären Ursprungs.
Klinik
Symptome
Die Symptome umfassen meist schlaffe Paresen mit Muskelatrophie und Fußfehlstellungen. Je nach Krankheitsentität treten zusätzliche Ausfälle sensibler oder autonomer Nerven auf.
Befunde
Klinische Befunde sind schlaffe Paresen mit Kraftminderung, Abschwächung der Muskeleigenreflexe, Ataxie und Sensibilitätsausfälle. Der Beginn ist meist in den unteren Extremitäten distal betont. Je nach Krankheitsbild können zusätzlich autonome Regulationsstörungen und kardiale Symptome auftreten.
Elektrophysiologische Klassifikation
Die zugrunde liegende Pathologie der peripheren Nerven wurde durch histologische Untersuchungen belegt. Man erkannte, dass manche Formen der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) überwiegend durch eine Schädigung der Myelinscheide (CMT1, demyelinisierende Form) bzw. durch primär axonale Schädigung (CMT2, axonale Form) erklärt werden können. In den 1970er- bis 1980er-Jahren wurden diese Störungen der peripheren Nerven durch elektroneurographische Untersuchungen bestätigt. Die demyelinisierende Form (CMT1) geht mit einer erheblichen Verlangsamung der peripheren Nerven einher (Nervenleitgeschwindigkeit <38 m/s). Bei axonalen Formen (CMT2) zeigt sich eine Verminderung der Amplituden der motorischen Nerven, bei noch normaler oder nur wenig veränderter Nervenleitgeschwindigkeit (>38 m/s). Als Referenznerv für die Unterteilung in CMT1 und CMT2 wird der motorische N. medianus bzw. N. ulnaris herangezogen. Bei der HMSN sind auch die sensiblen Nerven entsprechend verändert. In der Elektromyografie (EMG) finden sich chronisch neurogene Veränderungen. Rege Spontanaktivität gibt Hinweise auf eine progressive Verlaufsform, wie sie v. a. bei den spät beginnenden Formen häufig vorkommt. Bei Patienten mit HINT1-Mutationen sind repetitive Entladungen häufig. Diese Patienten geben oft Muskelkrämpfe bzw. eine Myotonie in den Händen an.
Genetische Grundlagen
Nach der Erstbeschreibung der Erkrankung wurde klar, dass - trotz des gleichen oder ähnlichen klinischen Erscheinungsbilds - unterschiedliche genetische Ursachen maßgebend sind. Dies bestätigte sich im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre, in denen genetische Untersuchungen die zugrunde liegenden Mutationen mehr und mehr aufdeckten. Für die klinisch gut abgrenzbare und deutlich häufigere CMT1 konnten erstmals die genetischen Ursachen entschlüsselt werden. Dominante Mutationen in den wichtigen, vorwiegend in Schwann-Zellen exprimierten Myelingenen des peripheren Nervensystems PO/MPZ („myelin protein zero gene“) und PMP22 („peripheral myelin protein 22 gene“) erwiesen sich neben dem GJB1 („gap junction beta-1-gene“) als die führenden Gene bei hereditären Neuropathien. Die genetische Aufklärung der primär axonalen Formen gestaltete sich jedoch schwieriger, nicht zuletzt aufgrund der sehr unterschiedlichen, komplexen Wirkungsmechanismen in den Nervenzellen, in denen Fehlfunktionen zum Krankheitsbild führen. Als Hauptgen gilt hier v. a. MFN2 („mitofusin 2 gene“) bei den dominanten Formen. Im Laufe der letzten 30 Jahre wurden immer mehr Gene identifiziert, die in der Pathogenese der hereditären Polyneuropathien eine Rolle spielen. So sind bis heute Mutationen in mehr als 80 Genen bekannt, die entweder in heterozygoter Form bereits krankheitskausal sind oder aber bei autosomal rezessiver bzw. x-gebundener Vererbung zur CMT-Erkrankung führen. Auch in Österreich, wo man von ca. 4000 CMT-Patienten ausgeht, sind in bereits mehr als 40 Genen Mutationen als Ursache für die CMT-Erkrankung identifiziert worden. Wie auch international kommt die demyelinisierende CMT1A am häufigsten vor, gefolgt von der an sich selteneren distalen hereditären motorischen Neuropathie Typ 5 (dHMN-V) mit Mutation im BSCL2 („Berardinelli-Seip congenital lipodystrophy gene“)-Gen. Diese ist bedingt durch die Founder-Mutation Asn88Ser, deren Ursprung bis ins späte 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden konnte. Nicht nur bei dieser speziellen genetischen Form, sondern auch bei anderen genetischen Subtypen besteht manchmal eine asymmetrische Verteilung der Muskelatrophie. Auch finden sich bei der dHMN-V meist lebhafte Muskeleigenreflexe der unteren Extremitäten. Viele genetische Ursachen wurden im Zuge von Familienuntersuchungen (Koppelungsanalysen) zunächst im Genom lokalisiert und durch schrittweise Testung von Kandidatengenen schließlich geklärt. Auch fanden zeitgleich umfassende Genotyp-Phänotyp-Studien statt, durch die es möglich wurde, Besonderheiten für einzelne genetische Untertypen hervorzuheben. So erfolgte auch die Abgrenzung der distalen rein bzw. überwiegend hereditären motorischen Neuropathien (dHMN) bzw. jener Untergruppe, bei der überwiegend sensible und/oder autonome Nervenfasern (hereditäre sensibel-autonome Neuropathie, HSN bzw. HSAN) betroffen sind. Alle Erbgänge sind möglich, jedoch überwiegen bei uns dominante Formen, in Ländern mit einem höheren Anteil an Konsanguinität stehen jedoch rezessive Formen im Vordergrund. Nicht selten tritt aber die CMT-Erkrankung auch sporadisch auf.
Lesen Sie auch: Massagegeräte zur Neuropathie-Behandlung
Diagnostik
Die Diagnostik umfasst eine ausführliche Anamnese einschließlich Familienanamnese, elektrophysiologische Diagnostik, genetische Testung und ggf. Nervenbiopsie.
Genetische Diagnostik
Trotz immenser Verbesserung der technischen Möglichkeiten, die uns nun für die genetische Diagnostik zur Verfügung stehen - insbesondere durch das seit einigen Jahren entwickelte Next Generation Sequencing (NGS), das mittlerweile nicht nur in der Forschung, sondern auch für die rasche Routinediagnostik angewandt wird - gelingt es weiterhin bei nahezu 50 % der CMT Patienten nicht, den Genotyp zuzuordnen. Da das Wissen um den Genotyp für die Beratung der Patienten hinsichtlich des zu erwartenden Krankheitsverlaufs wichtig ist, ist die Zuordnung zur zugrunde liegenden genetischen Abweichung von entscheidender Bedeutung. Sie ist ebenso für junge Patienten mit Kinderwunsch essenziell, um durch Bestätigung der genetischen Diagnose in Bezug auf das zu erwartende Vererbungsrisiko beraten zu können. Auch ist in schweren Fällen eine Präimplantationsdiagnostik nur dann möglich, wenn die genetische Ursache eindeutig zugeordnet werden kann. Die genetische Abklärung wird in Österreich bereits an mehreren Institutionen bzw. Labors angeboten und kann vom Facharzt für Neurologie, Orthopädie oder Humangenetik nach entsprechender genetischer Beratung veranlasst werden. Die Auswahl des genetischen Tests (Einzelgenanalyse, NGS mit Panel oder „whole exome sequencing“ etc.) erfolgt individuell in Abhängigkeit vom klinisch-elektrophysiologischen Phänotyp, von der Größe des vermutlich mutierten Gens und vorhandenen Vorbefunden. Durch die mittlerweile kostengünstige Testung mittels NGS-Methoden ist die bisher meist angewandte Sanger-Sequenzierung einzelner CMT-Gene deutlich in den Hintergrund gerückt.
HSAN-Subtypen
Es werden verschiedene Subtypen der HSAN unterschieden, die sich in ihrem klinischen Bild und ihrer genetischen Ursache unterscheiden:
- HSAN I (Maladie de Thévenard): Vererbung autosomal-dominant, Beginn in der 2.-5. Lebensdekade, heftige neuropathische Schmerzen, Ulzera an den Füßen bis hin zu Mutilationen. Die HSAN 1 wird durch Mutationen der Gene SPTLC1 und SPTLC2 (Serin Palmitoyltransferase, Long-Chain subunit 1 und 2) auf Chromosom 9q22.31 bzw. Chromosom 14q24.3 verursacht. Die Serin Palmitoyltransferase (SPT) ist das Schlüsselenzym in der Sphingolipid-Biosynthese. Es katalysiert die Pyridoxal-5'-Phosphat abhängige Kondensation von L-Serin und Palmitoyl-CoA zu 3-Oxosphinganin.
- HSAN II (Morvan’s disease, „infantile Syringomyelie“): Vererbung autosomal-rezessiv, Beginn bei Geburt, fehlende Muskeleigenreflexe, Mutilationen an Händen und Füßen.
- HSAN III (Riley-Day-Syndrom, familiäre Dysautonomie): Vererbung autosomal-rezessiv, kommt fast nur bei Ashkenazi-Juden vor, fehlende Tränensekretion, orthostatische Dysregulation, fleckige Hautrötung, labile Temperatur- und Schweißregulation, schwere Skelettschäden (Skoliosen), ZNS-Beteiligung, Minderwuchs.
- HSAN IV (Swanson-Syndrom, kongenitale Schmerzunempfindlichkeit mit Anhidrose, CIPA): Vererbung autosomal-rezessiv, seit Geburt Schmerzunempfindlichkeit, fehlendes Schwitzen, episodisches Fieber, geistige Retardierung, Minderwuchs, multiple Frakturen und Mutilationen. Die HSAN 4 wird durch Mutationen des Gens NTRK1 (Chromosom 1q23.1) kodierend für den Neurotrophen Tyrosin Kinase Rezeptor Typ 1 verursacht. In der japanischen Bevölkerung ist eine Founder-Mutation (p.Arg554Glyfs*104) als ursächlich für bis zu 70% der Fälle beschrieben, in anderen Bevölkerungsgruppen wurden unterschiedliche weitere loss-of-function Mutationen beschrieben.
- HSAN V: Vererbung autosomal-rezessiv, Verlust von Schmerz- und Temperaturempfinden bei normaler Tiefensensibilität, Beginn bei Geburt.
Therapie
Für die meisten hereditären Neuropathien ist keine kausale Therapie verfügbar. Die Behandlung konzentriert sich auf Physiotherapie, moderate körperliche Aktivität, Ergotherapie und ggf. orthopädische Hilfsmittel.
#
Lesen Sie auch: Small Fiber Neuropathie verstehen: Ursachen, Symptome, Therapie
Lesen Sie auch: Ursachen und Behandlung von Polyneuropathie in den Füßen
tags: #hereditärer #sensibler #und #autonomer #neuropathie #definition