Normalerweise schützt unser Immunsystem uns vor schädlichen Eindringlingen wie Viren und Bakterien. Es bildet Antikörper, um diese "Fremdkörper" zu erkennen und unschädlich zu machen. Bei einer Autoimmunerkrankung kommt es jedoch zu einer Fehlfunktion: Das Immunsystem verliert die Fähigkeit, zwischen "selbst" und "fremd" zu unterscheiden, und greift körpereigene Zellen und Gewebe an. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen und Mechanismen, wenn das Immunsystem das Nervensystem attackiert, und stellt neue Forschungsansätze vor.
Wie das Immunsystem zum Angreifer wird
Das Immunsystem ist ein komplexes Netzwerk aus Zellen und Prozessen, das den Körper vor Krankheitserregern und anderen schädlichen Einflüssen schützt. Es patrouilliert unablässig Blutgefäße und Organe. Erkennt es Moleküle, Zellen oder Gewebe als gefährlich, werden diese zur Fahndung ausgerufen und vernichtet.
Manchmal greift dieser innere "Polizei-, Justiz- und Militärapparat" versehentlich unschuldige, körpereigene Zellen an. Die Ursachen hierfür sind vielfältig:
- Genetische Veranlagung: Eine familiäre Häufung von Autoimmunerkrankungen deutet auf eine genetische Komponente hin.
- Infektionen: Viren oder Bakterien können das Immunsystem so durcheinanderbringen, dass es körpereigene Strukturen angreift.
- Tumorleiden: In seltenen Fällen können Krebserkrankungen eine Autoimmunreaktion auslösen.
- Umweltfaktoren: Studien deuten darauf hin, dass Menschen im hohen Norden häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen sind als Menschen in Äquatornähe. Hier wird der Einfluss von Sonnenlicht und Vitamin-D-Mangel in der Kindheit diskutiert.
- Unbekannte Ursachen: In vielen Fällen lässt sich die genaue Ursache für die Fehlsteuerung des Immunsystems nicht finden.
Wenn das Nervensystem ins Visier gerät
Das Nervensystem ist normalerweise durch spezielle Schutzmechanismen vom Immunsystem abgeschirmt. Es hat eine besonders komplexe Funktionsweise und liegt weit entfernt von den typischen Eintrittspforten für Erreger wie Atemwege oder Darm. Trotzdem kann es zu Autoimmunangriffen auf das Nervensystem kommen. Jeder Teil des Nervensystems kann betroffen sein, was zu vielfältigen Symptomen führt.
Bekannte neurologische Autoimmunerkrankungen
Im Folgenden werden einige der wichtigsten neurologischen Autoimmunerkrankungen vorgestellt, die das zentrale Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) oder das periphere Nervensystem (Nerven und Muskeln) befallen:
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Autoimmunentzündungen des zentralen Nervensystems (ZNS)
- Multiple Sklerose (MS): Die MS ist die häufigste neurologische Autoimmunerkrankung. Dabei greifen Immunzellen die weiße Substanz von Gehirn und Rückenmark an, insbesondere die Myelinscheide, die die Nervenfasern isoliert. Dies führt zu einer verlangsamten Reizweiterleitung und vielfältigen Symptomen wie Seh-, Gefühls-, Blasen- oder Beweglichkeitsstörungen. Die MS verläuft in Schüben, wobei Entzündungsherde an unterschiedlichen Stellen im Nervensystem auftreten.
- Akute, demyelinisierende Enzephalomyelopathie (ADEM): Diese Erkrankung tritt vor allem bei Kindern und jungen Menschen nach einer fieberhaften Infektion auf. Im Gegensatz zur MS greifen Immunzellen das ZNS massiv und gleichzeitig an.
- Neuromyelitis optica (NMO): Diese Autoimmunerkrankung befällt vor allem den Sehnerv und das Rückenmark und verursacht schwere Schübe.
- Entzündungen der grauen Substanz: Werden nicht die "Verbindungskabel" (Myelinscheiden) angegriffen, sondern die "Rechenzentren" in der grauen Substanz des Gehirns, spricht man von einer Autoimmun-Enzephalitis. Je nach betroffenem Hirnbereich unterscheidet man beispielsweise limbische Enzephalitis (Gedächtnisstörungen), Autoimmun-Cerebellitis (Gang- und Koordinationsstörungen) und Autoimmun-Rhombencephalitis (Hirnstamm).
Autoimmunerkrankungen des peripheren Nervensystems (PNS)
- Guillain-Barré-Syndrom (GBS): Als Reaktion auf eine Infektion werden die Kabelisolierungen des peripheren Nervensystems demyelinisert. Dies führt innerhalb weniger Tage zu einem Funktionsverlust mit Lähmungen, die sich von den Beinen aufwärts ausbreiten und sogar die Atemmuskulatur betreffen können.
- Chronisch inflammatorische, demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP): Diese Erkrankung ähnelt dem GBS, verläuft aber nicht akut, sondern schleichend über Monate bis Jahre.
- Myasthenie: Bei dieser Autoimmunerkrankung werden die Übergänge zwischen den Nervenenden und der Muskulatur (neuromuskulären Endplatten) angegriffen. Typisch ist eine erhöhte Ermüdbarkeit der Muskeln, insbesondere im Bereich der Augen-, Gesichts- und Schlundmuskeln.
- Myositis: Hier wird die Muskulatur selbst angegriffen, was zu zunehmenden Lähmungen führt, meist im Bereich des Schulter- und Beckengürtels. Eine häufige Form ist die Dermatomyositis mit zusätzlichen Hautausschlägen.
Beteiligung des Nervensystems bei anderen Autoimmunerkrankungen
- Gefäßentzündungen (Vaskulitiden): Entzündungen der Gefäße können zu Durchblutungsstörungen von Nerven, Augen oder Gehirn führen. Ein Beispiel ist die Riesenzell-Arteriitis, die vor allem ältere Menschen betrifft und unbehandelt zu Blindheit oder Schlaganfällen führen kann.
- Neurosarkoidose: Bei dieser Erkrankung bilden sich kleine Gewebeknötchen (Granulome) im Nervengewebe, die Druck auf die Nerven ausüben und deren Funktion beeinträchtigen können.
- Stiff-Person-Syndrom (SPS): Schmerzhafte Anfälle von Muskelsteifheit und -krämpfen in Beinen und Rücken sind typische Symptome. Auslöser sind Antikörper, die ein wichtiges Enzym im Gehirn angreifen: die Glutamatdecarboxylase (GAD). Das Enzym spielt eine entscheidende Rolle bei der Kontrolle der Nervenzellen. Fällt es aus, spielt das Nervensystem verrückt.
Miller-Fisher-Syndrom (MFS)
Das Miller-Fisher-Syndrom (MFS) ist eine seltene neurologische Erkrankung, die das Nervensystem betrifft. Es ist eine Form des Guillain-Barré-Syndroms (GBS), einer Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die Nervenzellen angreift. MFS verläuft meist in verschiedenen Phasen, in denen unterschiedliche Beschwerden, von anfänglich leichten Beeinträchtigungen bis hin zu deutlicheren neurologischen Störungen, auftreten können.
Ursachen
Die meisten Fälle des Miller-Fisher-Syndroms (MFS) treten nach einer vorangegangenen Infektion auf, häufig nach einer Atemwegs- oder Magen-Darm-Infektion. Dies deutet darauf hin, dass das Immunsystem während der Infektion auf unerklärliche Weise fehlgeleitet wird. Anstatt nur die Krankheitserreger zu bekämpfen, greift es irrtümlich gesunde Nervenzellen an. Diese ungewollte Autoimmunreaktion führt zu einer Entzündung der Nerven, die für das Krankheitsbild charakteristisch ist. Die genauen Mechanismen dieser Fehlsteuerung sind noch nicht vollständig verstanden und Gegenstand intensiver Forschung. Vermutet wird ein Zusammenspiel aus Umweltfaktoren und genetischer Veranlagung.
Verlauf
Die Dauer des Miller-Fisher-Syndroms kann von Patient zu Patient variieren. In den meisten Fällen entwickeln sich die Symptome innerhalb von Tagen bis Wochen nach einer Infektion. Die akute Phase der Erkrankung kann einige Wochen bis mehrere Monate dauern. Danach beginnt oft die Erholungsphase, die sich über Monate oder sogar Jahre erstrecken kann. Einige Patienten erholen sich vollständig, während andere mit anhaltenden Schwierigkeiten zu tun haben.
- Akute Phase: Die Symptome treten am stärksten auf und verschlechtern sich oft in rascher Geschwindigkeit.
- Plateauphase: In dieser Phase stabilisieren sich die Symptome, ohne dass eine weitere Verschlechterung eintritt.
- Erholungsphase: Nach der Stabilisierung setzen allmählich erste Verbesserungen ein. Geschwindigkeit und das Ausmaß der Erholung können jedoch stark variieren.
Symptome
Das Miller-Fisher-Syndrom äußert sich durch eine charakteristische Trias von Symptomen:
- Ataxie: Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, die sich in einem unsicheren Gang und Schwierigkeiten bei alltäglichen Bewegungen äußern.
- Ophthalmoplegie: Lähmung der Augenmuskeln, die zu Schwierigkeiten bei der Augenbewegung und Doppeltsehen (Diplopie) führen kann.
- Areflexie: Verlust oder deutliche Abschwächung der Reflexe.
Darüber hinaus können weitere Symptome wie Gesichtslähmungen, Schluckbeschwerden, Muskelschwäche oder ausgeprägte Müdigkeit auftreten.
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Mögliche Spätfolgen
In den meisten Fällen erholen sich die Patienten vollständig oder nahezu vollständig von den Symptomen des Miller-Fisher-Syndroms. Dennoch können bei einigen Betroffenen Spätfolgen auftreten, wie anhaltende Schwäche, Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen oder dauerhaftes Doppeltsehen.
Therapie
Es gibt keine spezifische Heilung für das Miller-Fisher-Syndrom. Die Behandlung zielt daher auf die Linderung der Symptome und die Unterstützung des Genesungsprozesses ab. Sie erfolgt stets in enger Zusammenarbeit mit einem neurologischen Fachteam und kann verschiedene Maßnahmen umfassen:
- Medikamentöse Therapie: Verabreichung von intravenösen Immunglobulinen (IVIG) oder Durchführung einer Plasmapherese, um die Entzündungsreaktion zu verringern.
- Physiotherapie und Ergotherapie: Unterstützung bei der Wiederherstellung von Kraft, Beweglichkeit und motorischen Fähigkeiten sowie Förderung der Selbstständigkeit im Alltag.
Neue Erkenntnisse und Forschungsansätze
Die Forschung auf dem Gebiet der neurologischen Autoimmunerkrankungen ist sehr aktiv. Wissenschaftler arbeiten daran, die Ursachen und Mechanismen dieser Erkrankungen besser zu verstehen und neue Therapieansätze zu entwickeln.
Entdeckung eines neuen Autoantikörpers bei zerebellärer Ataxie
Ein Forschungsteam um Professor Dr. Kurt-Wolfram Sühs hat eine neue Art der zerebellären Ataxie entdeckt, bei der ein Autoantikörper namens Anti-DAGLA gegen Kleinhirnzellen gerichtet ist und eine schwere Entzündung verursacht. Die Forschenden entdeckten den Antikörper im Nervenwasser von vier Betroffenen mit ausgeprägten Gang-, Sprach- und Sehstörungen. Nach einer Behandlung mit entzündungshemmenden Medikamenten und einer Immuntherapie mit Rituximab besserte sich der Gesundheitszustand bei drei der vier Betroffenen nachhaltig.
Die Forschenden erbrachten den Beweis, indem sie virale Genfähren mit dem Bauplan für das DAGLA-Protein beluden und in Zellkultur gaben. Der Autoantikörper dockte an den Zellen an, die das Protein an ihrer Oberfläche gebildet hatten. Dieser Nachweis erfolgte mittels indirekter Immunfluoreszenz.
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Professor Sühs empfiehlt, für die Diagnostik nur solche Anti-DAGLA als Marker für eine neue Form der progressiven Kleinhirnentzündung zu betrachten, die bei entsprechenden Krankheitszeichen im Nervenwasser nachgewiesen worden sind. Da die Kohorte mit nur vier an dieser neuen Form Erkrankten sehr klein war, sind weitere Untersuchungen mit mehr Patientinnen und Patienten nötig, um die diagnostische Bedeutung von Anti-DAGLA zu überprüfen und die Behandlungsempfehlungen zu optimieren.
Forschung zu Autoantikörpern bei Immunneuropathien
Professorin Kathrin Doppler forscht seit Jahren am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) an Polyneuropathien, bei denen das fehlgeleitete Immunsystem das periphere Nervensystem angreift. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern hat sie den Antikörper Anti-Caspr1 entdeckt, der an der Entstehung bestimmter Formen von Immunneuropathien beteiligt ist. Bei Patienten mit Antikörpern gegen Caspr1 war der Aufbau der Ranvierschen Schnürringe an der Nervenfaser zerstört, was die Nervenleitung stark beeinträchtigte. Inzwischen wurden die Immunneuropathien mit Schnürringantikörper als eigenständige Erkrankung, die sogenannte autoimmune Nodopathie, definiert.
In der Klinischen Forschungsgruppe (KFO 5001) ResolvePAIN untersucht Kathrin Doppler gemeinsam mit Prof. Dr. Carmen Villmann, wie und warum Autoantikörper gegen das Oberflächenprotein Caspr2 neuropathische Schmerzen hervorrufen und wie sich diese Schmerzen zurückbilden können.
Rolle des Immunsystems bei Morbus Parkinson
Lange Zeit galt Morbus Parkinson als reine Erkrankung des Nervensystems, bei der Dopamin produzierende Nervenzellen im Gehirn absterben. Professor Ip konnte jedoch belegen, dass bei der Parkinson-Krankheit bestimmte Immunzellpopulationen im Gehirn vermehrt und aktiviert sind, insbesondere T-Zellen und Mikrogliazellen. In weiteren Studien verdeutlichte er die Beteiligung des Proteins Alpha-Synuclein (αSyn), das in Nervenzellen vorkommt.
Mit seiner Arbeitsgruppe konzentriert sich Ip auf die Fragen, ob das Immunsystem als Biomarker zur Früherkennung der Parkinson-Erkrankung und zur Vorhersage des Krankheitsverlaufs genutzt werden kann und ob sich die Krankheit durch Immunmodulation aufhalten lässt.
Einfluss des Immunsystems bei Schlaganfällen
Auch Michael Schuhmann, Leiter des Klinischen Labors der Neurologie, forscht auf dem Gebiet des Schlaganfalls und dessen Zusammenhang mit dem Immunsystem. Er konnte zeigen, dass bei einem Schlaganfall eine gefäßbezogene Entzündungsreaktion stattfindet, an der Thrombozyten und Immunzellen beteiligt sind. Die aktivierten Blutplättchen steuern eine Entzündungsreaktion, die so genannte Thrombo-Inflammation. Dem Team gelang es, wichtige Signalmoleküle zu identifizieren, welche die Kommunikation zwischen Thrombozyten und Immunzellen steuern und in experimentellen Modellen die Gewebeschädigung maßgeblich beeinflussen. Aus diesen Untersuchungen ergeben sich neue Perspektiven für eine ergänzende Therapie zur reinen Rekanalisation beim akuten Schlaganfall, die darauf abzielt, Entzündungsprozesse zu hemmen.
Therapieansätze
Die Behandlung von Autoimmunerkrankungen des Nervensystems zielt darauf ab, die fehlgeleitete Immunreaktion zu stoppen und die Symptome zu lindern. Hierzu kommen verschiedene Therapieansätze zum Einsatz:
- Immunsuppressiva: Medikamente wie Kortison, Rituximab oder Cyclophosphamid unterdrücken die Aktivität des Immunsystems.
- Immunmodulatoren: Diese Medikamente modulieren die Immunantwort und können beispielsweise die Entzündungsaktivität reduzieren.
- Therapeutische Apherese (Blutwäsche): Bei diesem Verfahren werden Autoantikörper aus dem Blut entfernt.
- Intravenöse Immunglobuline (IVIG): Die Verabreichung von Immunglobulinen kann das Immunsystem modulieren und die Autoimmunreaktion abschwächen.
- Symptomatische Therapie: Physiotherapie, Ergotherapie und andere Maßnahmen helfen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
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