Immunvermittelte neurologische Erkrankungen: Eine umfassende Übersicht

Immunvermittelte neurologische Erkrankungen umfassen eine Vielzahl von Zuständen, bei denen das Immunsystem fälschlicherweise Komponenten des Nervensystems angreift. Diese Angriffe können zu Entzündungen und Schäden führen, die sich in einer Vielzahl neurologischer Symptome äußern. Die Diagnosestellung und Behandlung dieser Erkrankungen erfordern ein tiefes Verständnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen Immunsystem und Nervensystem.

Definition und Überblick

Immunvermittelte neurologische Erkrankungen sind dadurch gekennzeichnet, dass das Immunsystem, das normalerweise den Körper vor fremden Eindringlingen schützt, sich gegen körpereigene Nervenzellen, Myelin oder andere Bestandteile des Nervensystems richtet. Dies kann zu Entzündungen, Demyelinisierung (Schädigung der Schutzschicht um Nervenfasern) und neuronalen Schäden führen.

Autoimmunenzephalitiden

Autoimmunenzephalitiden sind seltene Erkrankungen, die mit dem Nachweis distinkter Autoantikörper im Serum einhergehen. Es werden zwei Gruppen von Autoantikörpern unterschieden:

  1. Autoantikörper, die an Oberflächenstrukturen von Nervenzellen binden, ursächlich an der Entstehung der Erkrankung beteiligt und durch verschiedene immunwirksame Therapien gut behandelbar sind.
  2. Autoantikörper, die an intrazellulär lokalisierte Strukturen von Nervenzellen binden, mutmaßlich nicht oder kaum an der Entstehung der Erkrankung beteiligt sind und in der Regel schlecht auf Immuntherapien ansprechen. Erkrankungen mit Autoantikörpern der Gruppe 2 treten in > 90% der Fälle mit bösartigen Tumoren außerhalb des Nervensystems auf.

Die Diagnosestellung erfolgt durch klinisch-neurologische Untersuchung, bildgebende Untersuchung des Gehirns und Rückenmarks mittels Magnetresonanztomographie, Screening des Serums auf Autoantikörper, Analyse des Nervenwassers (Liquor) und Elektroenzephalographie. Bei rechtzeitiger Diagnose und Autoimmunenzephalitis mit Gruppe-1-Autoantikörpern kann es zur vollständigen oder partiellen Erholung kommen. Die Therapie erfolgt stufenweise mit Kortison, intravenösen Immunglobulinen und Blutwäsche. Zur Vorbeugung von Rezidiven werden Immunsuppressiva eingesetzt.

Neuromyelitis Optica Spektrum Erkrankungen (NMOSD)

Die NMOSD ist eine seltene immunvermittelte Erkrankung des zentralen Nervensystems, die in ca. 80% der Fälle mit dem Nachweis von AQP4-Antikörpern im Serum einhergeht. Die AQP4-Antikörper greifen die Astrozyten an und rufen eine Entzündungsreaktion hervor. Die Erkrankung manifestiert sich überwiegend an den Sehnerven und im Rückenmark und kann zu Sehminderung und Querschnittslähmung führen. Seltener bilden sich auch im Gehirn Entzündungsherde aus.

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Die NMOSD verläuft meist in Schüben und kann unbehandelt zu erheblicher neurologischer Behinderung führen. Akute Schübe werden mit Kortison oder Blutwäsche behandelt. Zur Vorbeugung weiterer Schübe werden Wirkstoffe eingesetzt, die die Antikörper-produzierenden Zellen zerstören oder deren Reifung beeinträchtigen.

Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)

Die CIDP ist eine autoimmunologisch bedingte Erkrankung des peripheren Nervensystems. Sie tritt bei ca. 4 - 8 von 100 000 Menschen auf und betrifft häufiger Männer. Das periphere Nervensystem umfasst Nerven, die motorische, sensible und autonome Funktionen übernehmen.

In der klassischen Ausprägung klagen die Patientinnen und Patienten über eine sich im Verlaufe von Wochen bis Monaten entwickelnde Schwäche der Beine sowie der Arme, die sowohl körperstammnah (proximal) als auch körperfern (distal) auftritt. Die Fußhebung und das Treppensteigen können erschwert sein. Es können Schwierigkeiten in der Feinmotorik der Hände aber auch bei Überkopfarbeiten auftreten. Darüber hinaus treten sensible Störungen in Form von Taubheitsgefühlen, Kribbelgefühlen oder auch in Form von Gangunsicherheit auf. Selten treten auch Brennschmerzen auf. Bei der klassischen CIDP stehen die motorischen Ausfälle im Vordergrund.

Die Symptomatik entwickelt sich in der Regel rascher als bei der altersbedingten idiopathischen Polyneuropathie, d.h. innerhalb von Wochen und Monaten. Der Verlauf kann sowohl kontinuierlich fortschreitend, aber auch schubförmig sein. Ursächlich für die Entstehung einer Autoimmunerkrankung ist wahrscheinlich eine Kreuzreaktion (Molekulare Mimikry). Hierbei entsteht auf dem Boden einer Infektion eine Immunantwort aufgrund von gemeinsamen, kreuzreagierenden Epitopen, die ihrerseits mit Komponenten des peripheren Nervensystems reagieren. Diese können zum Beispiel gegen die Hüllschicht, also das Myelin, gerichtet sein. Es kommt zu einer Schädigung des Myelins, also zu einer sogenannten Demyelinisierung.

Die Diagnose wird gestellt auf dem Boden der typischen klinischen Präsentation, dem Ausschluss aller anderen in Fragen kommenden Ursachen für eine demyelinisierende Polyneuropathie sowie Nachweis einer Demyelinisierung in der elektrophysiologischen Untersuchung. Unterstützend für die Diagnose ist die Untersuchung des Nervenwassers, die bei 70 - 90 % aller Patienten mit CIDP eine typische Eiweißerhöhung ohne sonstige entzündliche Veränderungen zeigt. Zudem zeigen ca. 50 % aller CIDP-Patienten in der MR-tomographischen Darstellung entzündliche Veränderungen im Nervenplexus bzw. den -wurzeln. Auch in der ultrasonographischen Darstellung können multiple Nervenschwellungen als typischer Hinweis dargestellt werden.

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Wirksame Therapien sind die immunmodulatorische Therapie mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG), Glukokortikosteroiden (GS) und Plasmaaustauschverfahren. Bei Versagen dieser Therapien kommen auch immunsuppressive Medikamente wie Azathioprin, Methotrexat, Mycophenolat Mofetil, Ciclosporin A in Betracht. Unter Umständen kommen auch therapeutische Antikörper, wie z.B. Rituximab zum Einsatz.

Multifokale motorische Neuropathie (MMN)

Die multifokale motorische Neuropathie ist eine erworbene Erkrankung mit langsamer Progredienz, die asymmetrisch ohne sensible Störungen auftritt. Die Prävalenz liegt bei 1 - 2/100 000, Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Die Erkrankung tritt meist zwischen dem 30. - 50. Lebensjahr auf. Zur Diagnosesicherung tragen spezifische elektrophysiologische Befunde und häufig der Nachweis von Gangliosid-GM1-Antikörpern bei.

Vaskulitische Neuropathien

Vaskulitische Neuropathien sind Erkrankungen des peripheren Nervensystems (PNS), bei denen es durch entzündliche Veränderungen der Blutgefäße zu einer Nervenschädigung kommt. Man unterscheidet isolierte Vaskulitiden des PNS (nichtsystemische vaskulitische Neuropathien, NSVN) und Neuropathien bei systemischen Vaskulitiden oder Kollagenosen. Vaskulitische Neuropathien können auch infektiös, parainfektiös oder paraneoplastisch auftreten. Eine eindeutige Diagnose gelingt letztlich nur durch eine Nervenbiopsie.

Andere immunvermittelte Polyneuropathien

Weitere immunvermittelten Polyneuropathien sind:

  • Polyneuropathien aus dem rheumatischen Formenkreis (zum Beispiel: Lupus-assoziierte Polyneuropathien) oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen
  • Polyneuropathien im Rahmen von monoklonalen Gammopathien unklarer Signifikanz (MGUS)
  • Guillain-Barré-Syndrom

Ursachen und Pathogenese

Die genauen Ursachen vieler immunvermittelter neurologischer Erkrankungen sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass eine Kombination aus genetischer Prädisposition und Umweltfaktoren eine Rolle spielt. Zu den möglichen Auslösern gehören:

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  • Infektionen: Bestimmte Infektionen können das Immunsystem aktivieren und zu einer Kreuzreaktion führen, bei der Antikörper oder Immunzellen fälschlicherweise Nervenzellen angreifen.
  • Genetische Faktoren: Bestimmte genetische Varianten können die Anfälligkeit für die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen erhöhen.
  • Umweltfaktoren: Exposition gegenüber bestimmten Umweltfaktoren wie Toxinen oder Medikamenten kann das Immunsystem beeinflussen und zur Entstehung von Autoimmunerkrankungen beitragen.
  • Tumore: In einigen Fällen können bösartige Tumore außerhalb des Nervensystems Autoimmunreaktionen auslösen.

Die Pathogenese dieser Erkrankungen ist komplex und beinhaltet verschiedene Mechanismen, darunter:

  • Antikörpervermittelte Schädigung: Autoantikörper binden an Nervenzellen oder Myelin und aktivieren das Komplementsystem oder rekrutieren Immunzellen, was zu Entzündungen und Gewebeschäden führt.
  • T-Zell-vermittelte Schädigung: T-Zellen, insbesondere zytotoxische T-Zellen, können Nervenzellen direkt angreifen und zerstören.
  • Zytokinvermittelte Schädigung: Entzündungsfördernde Zytokine, die von Immunzellen freigesetzt werden, können zu Entzündungen, Demyelinisierung und neuronalen Schäden beitragen.

Diagnostik

Die Diagnose immunvermittelter neurologischer Erkrankungen erfordert eine sorgfältige klinische Bewertung, neurologische Untersuchung und eine Reihe diagnostischer Tests. Zu den wichtigsten diagnostischen Maßnahmen gehören:

  • Anamnese und neurologische Untersuchung: Eine detaillierte Anamnese und neurologische Untersuchung sind entscheidend, um die Art und das Ausmaß der neurologischen Defizite zu bestimmen.
  • Bildgebende Verfahren: Magnetresonanztomographie (MRT) des Gehirns und Rückenmarks kann Entzündungsherde, Demyelinisierung oder andere strukturelle Veränderungen aufzeigen.
  • Elektrophysiologische Untersuchungen: Neurographie und Elektromyographie (EMG) können helfen, die Funktion der peripheren Nerven und Muskeln zu beurteilen.
  • Liquoruntersuchung: Die Analyse des Nervenwassers (Liquor) kann Entzündungszeichen, Autoantikörper oder andere Auffälligkeiten aufdecken.
  • Blutuntersuchungen: Blutuntersuchungen können Autoantikörper, Entzündungsmarker oder andere Hinweise auf eine Autoimmunerkrankung liefern.
  • Nervenbiopsie: In einigen Fällen kann eine Nervenbiopsie erforderlich sein, um die Diagnose zu bestätigen und andere Ursachen der Neuropathie auszuschließen.

Therapie

Die Therapie immunvermittelter neurologischer Erkrankungen zielt darauf ab, die Entzündung zu reduzieren, das Immunsystem zu unterdrücken und die neurologischen Symptome zu lindern. Zu den wichtigsten Therapieansätzen gehören:

  • Immunsuppressiva: Medikamente wie Kortikosteroide, Azathioprin, Methotrexat, Mycophenolat Mofetil und Ciclosporin A werden eingesetzt, um das Immunsystem zu unterdrücken und die Entzündung zu reduzieren.
  • Intravenöse Immunglobuline (IVIG): IVIG sind gereinigte Antikörper, die aus dem Blut gesunder Spender gewonnen werden. Sie können helfen, das Immunsystem zu modulieren und die Autoimmunreaktion zu unterdrücken.
  • Plasmaaustausch (Plasmapherese): Bei der Plasmapherese wird das Blutplasma des Patienten entfernt und durch eine Ersatzlösung ersetzt. Dies kann helfen, Autoantikörper und andere schädliche Substanzen aus dem Blut zu entfernen.
  • Therapeutische Antikörper: Medikamente wie Rituximab (gegen B-Zellen) und Eculizumab (gegen das Komplementsystem) können eingesetzt werden, um spezifische Komponenten des Immunsystems zu blockieren.
  • Symptomatische Therapie: Medikamente zur Linderung von Schmerzen, Muskelkrämpfen, Müdigkeit und anderen neurologischen Symptomen können eingesetzt werden, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern.
  • Physiotherapie und Rehabilitation: Physiotherapie und Rehabilitation können helfen, die Muskelkraft, Koordination und Funktion zu verbessern.

Forschung und Innovation

Die Forschung im Bereich der immunvermittelten neurologischen Erkrankungen ist aktiv und zielt darauf ab, die Ursachen und Pathogenese dieser Erkrankungen besser zu verstehen, neue diagnostische Instrumente zu entwickeln und wirksamere Therapien zu finden. Einige aktuelle Forschungsbereiche umfassen:

  • Identifizierung neuer Autoantikörper und Zielantigene: Die Entdeckung neuer Autoantikörper und Zielantigene kann zur Entwicklung spezifischerer diagnostischer Tests und Therapien führen.
  • Untersuchung der Rolle von Genen und Umweltfaktoren: Die Identifizierung von Genen und Umweltfaktoren, die zur Entstehung von Autoimmunerkrankungen beitragen, kann zur Entwicklung von Präventionsstrategien führen.
  • Entwicklung neuer Immuntherapien: Die Entwicklung neuer Immuntherapien, die spezifischer und wirksamer sind, kann die Behandlungsergebnisse verbessern und die Nebenwirkungen reduzieren.
  • Einsatz von Bildgebungsbiomarkern: Die Entwicklung von Bildgebungsbiomarkern zur Beurteilung des Krankheitsverlaufs und des Therapieansprechens kann die klinische Entscheidungsfindung verbessern.

Die Arbeitsgruppe für Forschung an neuromuskulären Erkrankungen unter der Leitung von PD Dr. Jana Zschüntzsch an der UMG arbeitet an grundlagenwissenschaftlichen Projekten, um die Pathophysiologie von neuromuskulären Erkrankungen besser zu verstehen und neue Therapieansätze aufzuzeigen. Sie verwendet innovative Bildgebungstechniken wie die multispektrale optoakustische Tomographie (MSOT) und die Echtzeit-Kernspintomographie (real-time MRT), um Veränderungen der Muskelstruktur zu untersuchen und krankheitsspezifische Parameter im Muskel zu identifizieren. Zudem ist die UMG an dem EU-Forschungsprojekt „Screen4Care“ beteiligt, das sich das Ziel gesetzt hat, den Weg bis zur Diagnosestellung von seltenen Erkrankungen mittels genetischem Neugeborenenscreening (NBS) in Kombination mit fortschrittlichen Analysemethoden zu verkürzen.

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