Lernen ohne Gehirn: Neuronale Plastizität und assoziatives Lernen bei einfachen Organismen

Die Vorstellung, dass Lernen und Gedächtnis untrennbar mit der Existenz eines Gehirns verbunden sind, ist tief in unserem Verständnis von Kognition verwurzelt. Doch neueste Forschungsergebnisse stellen dieses Dogma in Frage und zeigen, dass auch Organismen ohne zentrales Nervensystem, wie Quallen, zu komplexen Lernleistungen fähig sind. Parallel dazu werfen Studien an Mäusen neue Einblicke in die Mechanismen der neuronalen Plastizität und die Rolle spezifischer Proteine bei der Reifung und Stabilisierung von Synapsen im Gehirn erwachsener Tiere.

Neuronale Plastizität im erwachsenen Gehirn: Die Rolle von PSD-95

Die Plastizität des Gehirns, seine Fähigkeit, sich zu entwickeln, zu lernen und sich neu zu organisieren, ist die Grundlage für Anpassung und Veränderung. Lange Zeit ging man davon aus, dass diese Plastizität im Wesentlichen auf die frühe Kindheit beschränkt ist. Neurowissenschaftler der Universität und Universitätsmedizin Göttingen (UMG) haben jedoch gezeigt, dass auch das Gehirn erwachsener Mäuse eine bemerkenswerte Plastizität aufweist.

Mithilfe des chronischen 2-Photonen-Imaging konnten die Forscher Synapsen, die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, in wachen, erwachsenen Mäusen wiederholt abbilden. Dabei entdeckten sie, dass Neuronen im primären visuellen Kortex von erwachsenen Tieren strukturelle Veränderungen aufweisen, die bisher hauptsächlich bei jungen Mäusen beobachtet wurden. Genauer gesagt fanden sie eine erhöhte Anzahl "stiller Synapsen", d.h. neu gebildeter, aber inaktiver Synapsen, denen das Protein PSD-95 fehlt.

PSD-95 und die Reifung von Synapsen

Frühere Arbeiten der Forschungsteams von Prof. Dr. Siegrid Löwel (Universität Göttingen) und Prof. Dr. Oliver Schlüter (UMG) hatten bereits gezeigt, dass PSD-95 eine entscheidende Rolle bei der Reifung stiller Synapsen spielt und frühe kritische Perioden beeinflusst. Um dies weiter zu untersuchen, bildeten die Forscher Neuronen aus der Sehrinde der Maus vor und nach spezifischer Reizung eines Auges mit einem Zwei-Photonen-Mikroskop ab.

Interessanterweise beobachteten sie, dass Neuronen im Gehirn erwachsener Tiere, denen PSD-95 fehlt, einen verstärkten erfahrungsabhängigen Abbau von dendritischen Dornen aufweisen - ein Effekt, der bisher nur bei jungen Tieren beobachtet wurde. Dendritische Dornen sind kleine Ausstülpungen an den Dendriten von Neuronen, die als Kontaktstellen für Synapsen dienen.

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Die "jugendliche Fähigkeit" zur Umstrukturierung

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Neuronen ohne PSD-95 sowohl funktionelle als auch strukturelle Merkmale der Plastizität aufweisen, die mit einer kritischen Periode verbunden sind. Das bedeutet, dass diese Neuronen eine Art "jugendliche Fähigkeit" besitzen, die Nervenzellverschaltungen bis ins Erwachsenenalter umzustrukturieren.

Prof. Dr. Siegried Löwel betont, dass diese Erkenntnisse dazu beitragen werden, die Regeln der Gehirnentwicklung und die Mechanismen, die dem Lernen zugrunde liegen, besser zu verstehen. Die Studie von Yusifov et al. (2021) liefert wichtige Einblicke in die Rolle von PSD-95 bei der Stabilisierung von Synapsen und der Aufrechterhaltung der neuronalen Plastizität im erwachsenen Gehirn.

Assoziatives Lernen ohne Gehirn: Die erstaunlichen Fähigkeiten der Quallen

Während die Forschung an Mäusen die komplexen Mechanismen der neuronalen Plastizität im Gehirn beleuchtet, zeigt eine andere Studie, dass Lernen nicht unbedingt ein Gehirn erfordert. Eine unscheinbare Meduse aus der Karibik, die Würfelqualle Tripedalia cystophora, stellt in einer neuen Studie eine Art Dogma in Frage: Die Qualle lernt, obwohl sie keinerlei Gehirn hat.

Quallen sind denkbar simpel gebaut. Ein Gehirn brauchen die Gallerttiere für ihre Art zu leben nicht. Trotz ihrer Schlichtheit sind Quallen äußerst erfolgreich. Sie leben schon eine halbe Ewigkeit auf unserem Planeten und haben fünf Massensterben der Erdgeschichte überlebt.

Die Lernfähigkeit der Würfelqualle

Ein Team aus Forschenden der Universitäten Kiel und Kopenhagen konnte zeigen, dass Quallen aus Fehlern lernen und ihr Verhalten entsprechend anpassen können - selbst ohne Hirn. Die Würfelqualle zeigt eine erstaunliche Fähigkeit: Sie kann gezielt Hindernissen ausweichen, in dem Fall vor allem den Stützwurzeln der Mangroven.

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Tripedalia kann tatsächlich sehen - und zwar mit 24 Augen. Am Rand der Gallertglocke sitzen vier "Rhopalien" - Sinnesorgane, in denen sich jeweils sechs Äuglein verbergen.

Das Experiment: Hindernisse im Tank

Die Forschenden testeten das Verhalten der Quallen in einem Tank, in dem Streifen unterschiedlichen Kontrasts angebracht waren. Anfangs vertaten sich die Quallen bei grauen Streifen, schwammen allzu nah an den (scheinbar weit entfernten) Streifen vorbei und stießen oftmals mit ihnen zusammen. Doch schon nach wenigen Minuten reduzierten sich die Kollisionen mit der Beckenwand.

Die Ergebnisse legen nahe: Quallen können durch die Kombination und richtige Interpretation visueller und mechanischer Reize Erfahrungen machen und ihr Verhalten entsprechend korrigieren. Man spricht auch von assoziativem Lernen.

Die Rolle der Rhopalien

Um dem Geheimnis der Medusenschläue nachzuspüren, nahmen die Forschenden die Rhopalien genauer in den Fokus. Jede dieser Strukturen erzeugt spezielle Impulse (sogenannte Schrittmachersignale), die pulsierende Muskelkontraktionen der Meduse steuern. Die Forscher hielten freipräparierten Rhopalien graue Balken vor die Augen. Dann begannen die Wissenschaftler den Sehorganen schwache elektrische Stöße zu versetzen, jedes Mal, wenn sich ein grauer Balken näherte (das Prozedere sollte einen vermeintlichen Zusammenstoß imitieren).

Die Ergebnisse offenbaren: Tripedalia mag zwar kein Hirn besitzen, dafür aber Lernzentren - und die sitzen in den Rhopalien.

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Evolutionäre Implikationen

Die Entdeckung, dass ein so urtümliches und simpel gebautes Wesen wie eine Qualle zu assoziativem Lernen fähig ist, wirft ein neues Licht auf die evolutionären Wurzeln von Lernen und Gedächtnis. Wenn selbst ein so einfaches Nervensystem wie das der Würfelqualle auf fortgeschrittene Weise lernen kann, könnte die Fähigkeit für dieses Lernen deutlich älter sein als bislang angenommen.

Motorisches Lernen ohne Gehirn: Das Rückenmark als Lernzentrum

Auch beim motorischen Lernen spielt das Gehirn nicht immer die alleinige Hauptrolle. So integriert das Rückenmark sensomotorische Informationen und passt Bewegungen entsprechend flexibel an.

Wissenschaftler aus Japan und Belgien haben die genauen neuronalen Schaltkreise entschlüsselt, die hirnunabhängiges motorisches Lernen ermöglichen. Das Team um Aya Takeoka vom RIKEN Center for Brain Science in Hirosawa konzipierte dafür ein Experiment mit Mäusen, denen das Rückenmark durchtrennt worden war. Die Forschenden stimulierten die Beine der Nager wiederholt elektrisch, woraufhin sie reflexartig zurückgezogen wurden. Die Hälfte der Tiere ereilte der leichte Stromstoß immer dann, wenn sie ihre Extremitäten zu weit nach unten hängen ließen. Nach zehn Minuten beobachteten die Fachleute einen Lerneffekt nur bei den experimentellen Mäusen: Ihre Beine blieben oben und vermieden jede elektrische Stimulation.

Das Rückenmark ist also dazu in der Lage, einen äußeren Reiz mit der Beinstellung zu assoziieren und den motorischen Output entsprechend anzupassen.

Geist und Gehirn: Die Bedeutung des Gehirns für Bewusstsein und Identität

Auch wenn Lernen und Gedächtnis in gewissem Maße ohne Gehirn möglich sind, bleibt das Gehirn das zentrale Organ für Bewusstsein, Identität und höhere kognitive Funktionen. Wie der Neurologe Thorsten Bartsch von der Uni Kiel betont: „Ohne Gehirn verfügen wir über kein Bewusstsein.“

Massive Schädigungen der Großhirnrinde können zu einem Wachkoma führen; sind eng umgrenzte Gebiete der Hirnrinde defekt, können Patienten beispielsweise Teile der räumlichen Wirklichkeit abhandenkommen oder für die Persönlichkeit wichtige biografische Erlebnisse.

Der Neurologe Carsten Finke von der Charité Berlin erklärt: „Das autobiografische Gedächtnis als Teil des episodischen Gedächtnissystems ist wichtig, damit wir unsere Identität als in sich stimmig über die Lebensjahre hinweg wahrnehmen können. Es hilft uns, uns selbst als kontinuierlich wahrnehmen zu können.“

Wenn sämtliche Tätigkeiten des Gehirns beim Hirntod zum Erliegen kommen, ist auch kein Bewusstsein mehr vorhanden; auch der Körper kann ohne das Gehirn nicht weiter funktionieren.

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