Markus Gabriel, ein Star der deutschen Philosophen-Szene, wirft mit seinem Werk "Ich ist nicht Gehirn" zentrale Fragen nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn auf. Er kritisiert den Neurozentrismus, die Reduktion des menschlichen Bewusstseins auf neuronale Prozesse, und plädiert für eine Philosophie des Geistes, die den Menschen als ein freies und selbstbestimmtes Wesen begreift.
Deutscher Idealismus und antike Skepsis
Gabriel verortet seine akademischen Wurzeln im Deutschen Idealismus und der antiken Skepsis. Er sieht in der Verbindung beider Denkrichtungen eine Möglichkeit, die kritischen Energien des Skeptizismus für eine positive Theoriekonstruktion zu nutzen. Der Skeptizismus dient ihm als Waffe gegen falsche Philosophien, die letztlich immer daran scheitern, vom Skeptiker ausgehebelt zu werden.
Die Herausforderung der Philosophie im 21. Jahrhundert
Eine der zentralen Herausforderungen für die Philosophie im 21. Jahrhundert sieht Gabriel in der Frage, wie wir uns den Zusammenhang des menschlichen Geistes mit der nicht geistfreundlichen Umgebung vorstellen sollen. Das Universum ist außerhalb der Erde nicht besonders geistfreundlich, was bedeutet, dass Geist unserer Art nirgendwo in unserer kosmischen Nachbarschaft existiert. Wir scheinen ein Fremdkörper in der Natur zu sein. Die Philosophie muss einen Weg finden, das Verhältnis von Geist und Natur zu erklären, ohne in einen stumpfen Atheismus oder eine abergläubische Religion zu verfallen. Der Deutsche Idealismus bietet hierfür einen vielversprechenden Ansatz.
Der Neue Realismus
Gabriel ist ein Vertreter und Mitbegründer des Neuen Realismus, der zwei Thesen vereint:
- Es gibt keine allumfassende Wirklichkeit, die Welt im Singular.
- Wir können das Wirkliche in seinen vielfältigen Ausgestaltungen genauso erkennen, wie es ist.
Wir können die Dinge an sich erkennen, so wie sie auch unabhängig von uns wären. Wenn ich zum Beispiel herausfinde, dass es mehr als eine Milliarde Galaxien gibt, finde ich heraus, wie die Dinge auch gewesen wären, selbst wenn ich es nicht herausgefunden hätte. Menschen sind Wesen, die Wissen erlangt haben und ihr Leben an dieser Tatsache ausrichten. Wir wissen nicht nur, sondern wir wissen sogar, dass wir wissen.
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Der Neue Realismus geht davon aus, dass es nicht genau eine Wirklichkeit gibt, zu der alle Phänomene oder alles, was existiert, gehören.
Abgrenzung zur klassischen Metaphysik und Ontologie
Menschen brauchen Ideale, seien diese auch religiöser Natur oder hypothetischer Natur wie bei Kant. Weltbilder traditionell wollen eine Rechtfertigung unserer Lebensform sein. Sie erzählen die Story, wie die Welt ist, und rechtfertigen gegenwärtige Handlungsoptionen. Gabriel kritisiert diese traditionelle Funktion von Weltbildern. Die Rechtfertigung unserer Handlungen braucht keinen Umweg über Weltbilder. Alles, was wir brauchen, ist eine universale Menschenvernunft.
Kritik am Neurozentrismus
Gabriel kritisiert in seinem Buch "Ich ist nicht Gehirn" den Neurozentrismus, die Naturwissenschaft als das Erklärungsmodell der Welt. Er geht davon aus, dass es vieles gibt, was nicht physikalisch untersuchbar ist. Die Metaphysik ist die Annahme, dass es vieles gibt, was nicht physikalisch zugänglich ist. Seine Ontologie erlaubt es, mit sehr vielen Entitäten zu rechnen, die überhaupt nicht physikalisch sind und die auch insgesamt nicht durch irgendeine Naturwissenschaft untersuchbar sind. Beispiele hierfür sind Zahlen, moralische Werte oder Landtagswahlen.
Ontologischer Pluralismus
Gabriel vertritt einen ontologischen Pluralismus, die These, dass dasjenige, was existiert, zu verschiedenen Bereichen gehört. Es gibt wirklich Zahlen, es gibt wirklich derzeit genau eine Bundeskanzlerin, es gibt wirklich den Freistaat Bayern und wirklich die Vergangenheit. Diese Gegenstände, die es wirklich gibt, gehören aber verschiedenen Bereichen an, die sich nur teilweise überlappen. Die Pluralität kommt nicht dadurch in die Wirklichkeit, dass wir sie machen oder uns einbilden, durch Sprachspiele, Denkformen, Zeichenketten, Symbolwelten oder was auch immer.
Sinn des Lebens
Die richtige Lebensphilosophie, die Verankerung der Frage nach dem Sinn des Lebens in einem philosophischen Denken, wird immer eine theoretische sein. Die richtige Annahme darüber, wie wir uns das Wirkliche in seinen verschiedenen Zusammenhängen verständlich machen, ist zugleich auch schon die Annahme darüber, wie ein Leben sinnvoll sein kann. Der Sinn unseres Lebens ergibt sich daraus, dass die Dinge so liegen, wie sie ein gesundes Leben darstellt. Wir müssen keine Energie aufwenden, um dem Leben einen Sinn zu stiften. Das Leben hat schon seinen Sinn, es fehlt ihm nichts. Der Nihilismus unterstellt, dass die Dinge irgendwie sinnlos sind.
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Moralischer Realismus
Gabriel stützt seine theoretischen Annahmen auf die Annahme eines moralischen Realismus. Moralischer Realismus ist die Annahme, dass unsere am besten begründeten moralischen Urteile die Dinge so erfassen, wie sie sind. Wenn ich zum Beispiel verstehe, dass eine freiheitlich demokratische Grundordnung besser ist als die derzeitige nordkoreanische Staatsverfassung, dann begreife ich, wie die Dinge sind. Dasjenige, was das Richtige ist, ist von sich her das Richtige und nicht erst dadurch, dass wir es für das Richtige halten. Es gibt moralische und politische Tatsachen. Tatsachen sind das, woran sich unsere Meinungen zu orientieren haben. Das Ziel unserer Debatten ist herauszufinden, was zu tun ist, und nicht, immer nur irgendeine Entscheidung zu finden, die eine Kompromissbildung ist zweier gegeneinander kämpfender Parteien.
Das Ich ist mehr als das Gehirn
Für Markus Gabriel lässt sich der Mensch nicht auf die Vorgänge im Gehirn reduzieren. Der Philosoph legt sich in seinem Buch mit den Neurowissenschaften an. Er verteidigt ein Menschenbild, in dem Freiheit und Würde, Bewusstsein und Selbstbewusstsein identitäts- und weltstiftend sind. Wir wissen über uns selbst als geistige Wesen immer schon mehr (können) als das, was die Hirnforschung herausfindet, über unsere Motive und Wünsche, Handlungsgründe und Überzeugungen.
Denken als Sinn
Gabriel entwickelt in seinem Werk eine Theorie des Denkens. Denken ist die Schnittstelle zwischen der natürlichen und der psychologischen Wirklichkeit. Denken heißt unter anderem, Verbindungen herzustellen und Verbindungen zu erkennen. Wir verknüpfen im Denken weit entfernte Wirklichkeiten und stellen dadurch neue Wirklichkeiten her. Unser Denken ist ein Sinn, mittels dessen wir das Unendliche ausspähen und unter anderem mathematisch darstellen können. Wir stehen kraft unseres Denksinns in Kontakt mit weitaus mehr Wirklichkeiten, als wir auf den ersten Blick meinen können.
Gabriel sieht in der Subjekt-Objekt-Spaltung den Grundirrtum der neuzeitlichen Erkenntnistheorie. Wir stehen als denkende und wahrnehmende Lebewesen nicht einer von uns abgetrennten Wirklichkeit gegenüber. Subjekt und Objekt sind nicht entgegengesetzte Teile eines übergeordneten Ganzen. Wir sind Teil der Wirklichkeit, und unsere Sinne sind Medien, die Kontakte zwischen Wirklichem, das wir selber sind, und Wirklichem, das wir nicht selber sind, herstellen. Diese Medien verzerren nicht etwa eine von ihnen unabhängige Wirklichkeit. Sie sind vielmehr selber etwas Wirkliches, Schnittstellen. Denken ist eine Schnittstelle, die uns teilweise mit nicht materiellen Wirklichkeiten - Zahlen, Gerechtigkeit, Liebe usw. - in Verbindung setzt.
Biologischer Externalismus und künstliche Intelligenz
Gabriel geht von zwei anthropologischen Hauptsätzen aus:
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- Der Mensch ist das Tier, das keines sein will.
- Der Mensch ist ein freies geistiges Lebewesen.
Daraus folgert er den biologischen Externalismus: Die Ausdrücke, mittels derer wir unsere Denkvorgänge beschreiben und erfassen, beziehen sich wesentlich auf etwas, das biologisch ist. Daraus folgert Gabriel, dass es keine künstliche Intelligenz geben kann. Er sieht eine bisher unterschätzte Gefahrenquelle der Digitalisierung darin, unser Selbstverständnis als Menschen an einem irreführenden Denkmodell auszurichten. Indem wir K.I.-Systeme programmieren, die Daten zu Informationen weiterverarbeiten, mit denen wir dann etwas anfangen können, riskieren wir Gabriel zufolge aufgrund der fortschreitenden Technik den Fortbestand der Menschheit. Denn wir wissen nicht, wie wir die Wertausrichtung einer K.I. entsprechend unserer Lebensform programmieren sollen.
Sinnfeld und Wirklichkeit
Ein Gedanke ist ein Inhalt des Denkens. Es ist dasjenige, was man erfasst. Ein Inhalt des Denkens beschäftigt sich damit, was in einem Sinnfeld geschieht. Sinnfeld ist ein Grundbegriff der Gabrielschen Philosophie und meint eine Anordnung von Gegenständen, in der diese auf eine bestimmte Weise zusammenhängen. Die Art und Weise des Zusammenhangs von Gegenständen nennt er Sinn. Der Gegenstand eines Gedankens ist dasjenige, wovon der Gedanke handelt. Der Inhalt eines Gedankens ist dagegen die Art und Weise, wie der Gedanke von seinem Gegenstand handelt.
Gabriel will das hartnäckige Vorurteil überwinden, wir würden im Denken lediglich Daten verarbeiten, die uns durch unsere Sinne gegeben werden. Er will noch weitergehen und nicht nur den alten Empirismus überwinden, sondern eine neue Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie entwickeln, die uns erlaubt, unser Denken als einen Sinn zu verstehen. Gabriel unterscheidet zwischen Dingen und Gegenständen. Dinge sind für uns bewusst identifzierbare raumzeitliche Wirklichkeiten wie Tische oder der Mond. Im Unterschied dazu zeichnen sich Gegenstände dadurch aus, dass wir wahrheitsfähige Gedanken über sie machen können.
Gabriels berühmter „neuer Realismus" behauptet nun, dass wir die Wirklichkeit so erkennen können, wie sie ist, ohne dass es genau eine Welt oder Wirklichkeit gibt, die alle Gegenstände oder Tatsachen umfasst, die es gibt. Denn laut dem neuem Realismus gibt es nicht nur eine einzige Wirklichkeit - die Welt, die Wirklichkeit, das Universum, die Realität im allumfassenden Sinne -, sondern unendlich viele. Da nicht alle Wahrnehmungen in einer einzigen Wirklichkeit untergebracht werden müssen, ist es möglich, viele Wirklichkeiten einzuräumen, die von verschiedenen Lebewesen ebenso wie Individuen einer Art wahrgenommen werden.
Künstliche Intelligenz und das digitale Zeitalter
Die gegenwärtige Diskussion über das Wesen und die Reichweite der Künstlichen Intelligenz enthält den irregeleiteten Wunsch, eine Form von Intelligenz zu entwerfen, die frei von emotionalen Bindungen ist. Doch eine solche Intelligenz wäre für Gabriel keine Intelligenz mehr. Sie könnte gar nichts erfassen. Deswegen sind in jedem Algorithmus Werteannahmen eingebaut. Bei der Künstlichen Intelligenz handelt es sich nicht um Denken, sondern um ein Denkmodell. Ein Modell muss dem, was es modelliert, allenfalls ähnlich sein.
Gabriel sieht in den K.I.-Systemen deswegen eine Gefahr für die Menschheit, weil sie uns implizit die Wertesysteme ihrer Schöpfer empfehlen, ohne diese Schöpfungen transparent zu machen. Das digitale Zeitalter ist ein Zeitalter der Herrschaft der Logik über das menschliche Denken. Unser Denken orientiert sich an der Logik als Zielvorstellung. Demgegenüber ist die menschliche Kommunikation logisch undiszipliniert. Menschen sind nicht die ganze Zeit an logisch optimierter Rationalität interessiert, sondern handeln unter ganz verschiedenen Einflüssen. Deswegen ist Künstliche Intelligenz keine Kopie des menschlichen Denkens. Sie ist eine logische Landkarte unseres Denkens unter Ausschaltung unseres Zeitdrucks und unserer Bedürfnisse als endliche Wesen. Die Grenzen der Logik sind jedoch auch die Grenzen der künstlichen Intelligenz.
Informationen und Wirklichkeit
Informationen entsprechen dem, was man als Sinn von Gedanken versteht. Die Hinsicht, in der man Tatsachen aufnehmen und zum Inhalt des Denkens machen kann, ist Information. Es gibt letztlich keine falsche Information, sondern nur einen falschen Gebrauch von Information. Gabriel kritisiert, der Mensch flüchte sich heute in eine falsche Ideenwelt, die nahe lege, dass wir als Inforgs, Informationscyborgs, von unserer Animalität befreit in weitem Abstand zur Wirklichkeit seien, wenn wir vor unseren Bildschirmen sitzen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wir verändern das Wirkliche, indem wir es digitalisieren und auf diese Weise neue Medien schaffen, die keineswegs unwirklich sind.
Wir als Lebewesen sind mit einer weitgehend nicht intentionalen bzw. bedeutungslosen Umgebung konfrontiert. Wir statten nun die Wirklichkeit mit einer Bedeutung aus, die sie ohne uns nicht hätte. Wir reagieren als denkende Lebewesen auf die Abwesenheit von Bedeutung in der uns umgebenden Wirklichkeit, indem wir eine Infosphäre schaffen. Diese ist sozusagen unsere geistige Atmosphäre. Mittlerweile verbringen wir längst mehr Zeit in der Informationswelt als in der Natur. Tagein, tagaus begegnen wir Zeichen, die nur deswegen etwas bedeuten, weil wir ihnen Bedeutung verleihen.
Philosophie des Geistes vs. Bewusstseinsphilosophie
In der Philosophie des Geistes geht es ganz offensichtlich um den Geist. Doch dies ist weniger selbstverständlich, als es auf den ersten Blick scheint. Im letzten Jahrhundert entstand nämlich eine neuartige Herangehensweise an die Philosophie des Geistes, die auf Englisch so genannte "philosophy of mind". Das problematische Neue an diesem Ansatz liegt nicht so sehr im Inhalt, sondern vielmehr darin, dass der Philosophie des Geistes nun in der bewusstseinsphilosophischen Ausrichtung die Aufgabe zugewiesen wird, die Antwort auf eine präzise gestellte Frage zu suchen: Was ist das Merkmal dafür, dass etwas ein mentaler Zustand oder ein mentales Ereignis ist? Diesem heute weitverbreiteten Verständnis zufolge soll die Philosophie des Geistes zunächst ein "Merkmal des Mentalen" ("mark of the mental") erarbeiten. Das von den meisten akzeptierte Merkmal ist dabei das Bewusstsein, weshalb die Philosophie des Geistes sich allzu einseitig auf ein einziges Vermögen des menschlichen Geistes, das Bewusstsein, konzentriert hat.
Verteidigung der geistigen Freiheit
Markus Gabriel verteidigt in seinem Buch die geistige Freiheit des Menschen. Er kritisiert den Neurozentrismus, der den Menschen auf sein Gehirn reduziert und ihm die Fähigkeit zur Selbstbestimmung abspricht. Gabriel plädiert für eine Philosophie des Geistes, die den Menschen als ein freies, selbstbewusstes und verantwortliches Wesen begreift. Er knüpft an alte Einsichten der Philosophie an und eröffnet neue Perspektiven für die Philosophie des Geistes.
Gabriel betont die Bedeutung der Geistesgeschichte für die Selbsterkenntnis. Die Begriffe und Schöpfungen einer jahrtausendelangen Geistes-, Kultur- und Sprachgeschichte lassen sich nicht im Hirnscan ‚naturalisieren‘, das heißt auflösen. Besonders der Existenzialismus hat die Freiheit des Menschen, sich selbst zu entwerfen, bedacht. Der Mensch entwirft (wahre und falsche) Selbstbilder von sich und seiner Umwelt.
Kritik am Naturalismus und Neurozentrismus
Gabriel wendet sich entschieden gegen einen Naturalismus, der alles, was es gibt, naturwissenschaftlich erklären will. De facto verbindet sich der Naturalismus mit einem Materialismus, der per definitionem ausschließt, dass es eigenständige immaterielle Wirklichkeiten gibt wie Kunst, Religion, Moral und alltägliche Gegebenheiten wie Freundschaft und Liebe. Im heute virulenten „Neurozentrismus“ erkennt Gabriel eine irregeleitete „Allmachtsphantasie“, die davon ausgeht, „ein geistiges Lebewesen zu sein, bestehe in nichts weiterem als in dem Vorhandensein eines geeigneten Gehirns …: Ich ist Gehirn.“. Dagegen Gabriel: „Ich verneine dies und komme so zur kritischen Leitthese dieses Buchs: Ich ist nicht Gehirn!“