Seit über einem Jahrhundert widmen sich Neurowissenschaftler der Erforschung der Eigenschaften von Neuronen im Gehirn. Eine der zentralen Fragen ist, wie sich die verschiedenen Nervenzelltypen voneinander unterscheiden und welchen Einfluss dies auf die Hirnaktivität hat. Dank internationaler Forschungskooperationen wie dem BRAIN Initiative Cell Census Network (BICCN) und den Bemühungen einzelner Forschungsgruppen ist es nun möglich, einen umfassenden Überblick über die Vielfalt der Nervenzellen zu gewinnen.
Der BRAIN Initiative Cell Census Network (BICCN) und seine Ziele
Das BICCN hat sich zum Ziel gesetzt, die Neuronentypen im motorischen Kortex so umfassend wie möglich zu beschreiben und einen Katalog auf Grundlage eines „Zellzensus“ zu erstellen. Dieser Zellzensus soll, ähnlich wie ein Bevölkerungszensus, die verschiedenen Neuronentypen definieren, einschliesslich ihrer spezifischen Merkmale und ihrer Verteilung im Gehirn.
Fortschritte durch neue Technologien und Analyseverfahren
Mithilfe neuer experimenteller Techniken und Datenanalyseverfahren ist es Wissenschaftlern gelungen, genetische Informationen über mehr als eine Million Zellen zu sammeln. Sie erfassten für einen Teil der Zellen ihre räumliche Lage, Form und elektrischen Eigenschaften und ermittelten ihre Verbindungen zu weiteren Neuronen in anderen Gehirnbereichen. Da die Forschenden die Zellen von Mäusen, Weißbüschelaffen und Menschen analysierten, konnten sie sogar die evolutionäre Entwicklung der verschiedenen Nervenzelltypen nachzeichnen.
Tübinger Beitrag zur Erforschung des motorischen Kortex der Maus
Wissenschaftler der Universität Tübingen haben zu dieser Gemeinschaftsleistung eine Studie beigesteuert, in der sie die verschiedenen Zelltypen im motorischen Kortex der Maus aufgrund mehrerer Datentypen charakterisieren. Die Arbeit unter der Leitung von Philipp Berens, Professor am Forschungsinstitut für Augenheilkunde der Universität Tübingen und Sprecher des Exzellenzclusters „Maschinelles Lernen“, Prof. Andreas Tolias vom Baylor College of Medicine in Houston, Texas (USA), und Prof. Rickard Sandberg vom Karolinska Institutet in Stockholm (Schweden) liefert eine der bisher vollständigsten Beschreibungen der Vielfalt verschiedener Neuronentypen im Maushirn.
Methodische Ansätze zur Charakterisierung von Neuronen
Neurowissenschaftler beschreiben Neuronen in der Regel anhand drei grundlegender Merkmale: ihre Anatomie oder wie sie unter dem Mikroskop aussehen, ihre Physiologie oder wie sie auf Reize reagieren, und ihr Transkriptom, das heisst die genetische Information, die in der Zelle tatsächlich abgelesen wird. Dass die Forschenden die drei grundlegenden Eigenschaften bei über 1000 Zellen gleichzeitig messen konnten, ermöglichte ihnen ein tiefes Verständnis dafür, wie die Neuronen im motorischen Kortex miteinander in Beziehung stehen. Mit Verfahren aus dem maschinellen Lernen führten sie die anatomischen, physiologischen und genetischen Informationen zusammen und entdeckten so Beziehungen zwischen den Neuronen, die zuvor nicht bekannt waren.
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Ergebnisse und Erkenntnisse der Tübinger Studie
"Die großen genetischen Neuronenfamilien haben unterschiedliche anatomische und physiologische Eigenschaften. Aber innerhalb jeder Familie zeigen die Neuronen eine sich graduell verändernde anatomische und physiologische Vielfalt", erklärt Dr. In Analogie zum „Baum des Lebens“, der die Beziehungen zwischen den verschiedenen Spezies beschreibt, kamen die Forschenden zu folgendem Schluss: Die Neuronen unterliegen einer Ordnung, die auf Ebene der Familien aus verschiedenen, sich nicht überschneidenden Zweigen besteht. Innerhalb jeder Familie weisen sie jedoch mit Blick auf ihre genetischen, anatomischen und physiologischen Eigenschaften fortlaufende Veränderungen auf, so dass der „Baum der Zelltypen“ eher einem Bananenbaum als einem Olivenbaum ähnelt.
Bedeutung des Zellatlas für die Neurowissenschaft
„Die Daten aus dem neuen Zellatlas unserer Forschungskooperation werden für die Neurowissenschaft eine unschätzbar wertvolle Ressource sein“, sagt Philipp Berens. „Indem wir unser Wissen aus dem maschinellen Lernen einbringen, stellen wir die Verbindung von der Genetik zur Physiologie und zur Anatomie der Neuronen her.“
Der Allen Brain Atlas: Ein weiterer Meilenstein in der Hirnforschung
Neben dem BICCN ist der Allen Brain Atlas (ABA) ein weiteres bedeutendes Projekt zur Kartierung des Gehirns. Der ABA ist das Ergebnis eines umfangreichen Forschungsprojektes, dessen Vorarbeiten bereits in den 1990er-Jahren angestoßen wurden. Er wird von Fachleuten als ähnlich wichtig angesehen wie die Entschlüsselung des menschlichen Genoms.
Methodische Grundlagen des Allen Brain Atlas
Die zur Erstellung des ABA eingesetzte Methode beruht auf der Analyse und anschliessenden Kartographierung der in Nervenzellen vorliegenden Gentranskripte (mRNAs) mit markierten Sonden. Die automatisierte Technik ermöglicht den Nachweis von nur wenigen mRNA-Molekülen in den "Dendriten" der Nervenzellen. Diese feinen Verästelungen bilden Synapsen mit anderen Nervenzellen, die oft in weiter Entfernung liegen.
Nutzen des Allen Brain Atlas für die Forschung
Der ABA dient als Atlas zur Orientierung in einer komplexen Umgebung. Einzelne, zum Teil sehr kleine Gehirnbereiche sind durch eine Handvoll dort exprimierter Gene genau definiert. Diese Markierungen sind von großem Nutzen bei der Untersuchung von abnormalen Gehirnen, denn man könnte mit verschiedenen Markern herausfinden, welche Gehirnregionen beeinträchtigt sind.
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Der Zellatlas des Hypothalamus: Fokus auf Stoffwechselregulation
Ein weiteres wichtiges Projekt ist die Erstellung eines umfassenden Atlas aller Zelltypen des Hypothalamus, einer Gehirnregion mit zentraler Bedeutung für die Regulation des Stoffwechsels. Dieser Atlas basiert auf bereits publizierten und neu gewonnenen Daten und umfasst die Genexpression von 384.925 einzelnen Zellen, davon 219.030 Neurone. Über ein einheitliches clustering wurden bis zu 465 verschiedene Zelltypen identifiziert, was die erstaunliche Vielfalt von Zellen im Hypothalamus verdeutlicht.
Bedeutung für das Verständnis der Stoffwechselregulation
Der Referenzatlas kann als Basis dazu dienen, unter sehr geringem Aufwand neu generierte scRNA-seq Daten mit existierenden Datensätzen zu vergleichen und Zelltypen zu bestimmen.
Vergleich von Gehirnen: Maus vs. Mensch
Abgesehen von seiner Größe ist das Gehirn der Maus dem Gehirn des Menschen in vielen Dingen sehr ähnlich. Die Teilstrukturen sind identisch und selbst die Großhirnrinden der beiden Säuger weisen eine überraschend ähnliche Architektur auf. Bei beiden sind die miteinander verbundenen Nervenzellen in Schichten angeordnet. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die Funktion des Gehirns auf dieser Architektur und der vielfältigen Verknüpfung der Nervenzellen über sogenannte Synapsen beruht.
Anwendung der Erkenntnisse für die Behandlung von Krankheiten
Die Ergebnisse der Studien sollen auch bestehende Vorhaben stützen, etwa jenes, das Gehirn des Menschen zu kartieren. Ein Ziel all dieser Forschungen ist nach Ansicht von Hongkui Zeng, neurodegenerative Krankheiten und neurologische Störungen besser behandeln zu können. So ist bekannt, dass viele Erkrankungen in bestimmten Regionen des Gehirns entstehen - womöglich, weil spezifische Zelltypen sich verändert haben. Mit einem Hirnatlas ließen sich Gentherapien oder Medikamente entwickeln, um Zellen direkt anzusteuern und so etwaige Nebenwirkungen von Präparaten zu verringern.
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