Ein schwerwiegender Fälschungsskandal erschüttert die Alzheimer-Forschung. Im Zentrum steht Eliezer Masliah, ein führender Hirnforscher und ehemaliger Direktor der Division of Neuroscience am National Institute on Aging (NIA) in den USA. Die US-Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH), die dem NIA übergeordnet ist, hat bereits 2023 eine Untersuchung eingeleitet und in mindestens zwei Fällen wissenschaftliches Fehlverhalten bestätigt. Die betroffenen Arbeiten erstrecken sich über den Zeitraum von 1997 bis 2023 und betreffen zentrale Forschungsbereiche zu Alzheimer und Parkinson. Das Wissenschaftsjournal »Science« veröffentlichte am 27. September ein News-Feature des Wissenschaftsjournalisten Charles Piller, in dem er die bisherigen Ergebnisse einer umfangreichen Untersuchung zu einem mutmaßlichen wissenschaftlichen Fehlverhalten eines führenden Forschers im Bereich Neurowissenschaften zusammenfasst.
Was wurde mutmaßlich gefälscht?
Masliah wird vorgeworfen, Aufnahmen von Hirngewebe und sogenannte Western Blots gefälscht zu haben. Ein Western Blot ist ein Verfahren, mit dem Forschende bestimmte Proteine in einer Probe nachweisen können. Dabei werden die Proteine nach ihrer Größe sortiert und durch eine spezielle Markierung sichtbar gemacht.
Die Untersuchung der wissenschaftlichen Arbeiten von Masliah ergab, dass zahlreiche der Laborstudien, die seine Gruppe sowohl an der University of California San Diego (UCSD) als auch am NIA durchgeführt hatte, offenbar Fälschungen von Proteinanalysen (Western Blots) und Mikroskopaufnahmen von Gehirnschnitten enthielten. Viele dieser Bilder wurden in und zwischen verschiedenen Artikeln publiziert. Nicht selten liegen die Erscheinungsdaten der Arbeiten Jahre auseinander.
Die Fälschungen betreffen zentrale Bereiche der Forschung zu den verklumpten Proteinen im Gehirn bei Alzheimer sowie zum alpha-Synuclein-Protein, das eine Schlüsselrolle bei Parkinson spielt. Besonders problematisch ist, dass manipulierte Bilder in mehreren wissenschaftlichen Studien verwendet wurden, obwohl die Bedingungen der Versuche in den einzelnen Studien unterschiedlich waren.
In einem 300-seitigen Dossier, das forensische Analysten »Science« zur Verfügung gestellt haben, sind offensichtliche Manipulationen vor allem in Abbildungen in 132 Arbeiten aufgeführt, die Masliah zwischen 1997 und 2023 veröffentlicht hat. Die elf Neurowissenschaftler, die das Dossier für »Science« geprüft haben, zeigten sich schockiert über das Ausmaß des angeblichen Fehlverhaltens.
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Auswirkungen auf die Alzheimer- und Parkinson-Forschung
Tatsächlich waren Masliahs Arbeiten grundlegend für die Alzheimer- und Parkinson-Forschung und wurden in den letzten fast drei Jahrzehnten mehr als 50.000 Mal zitiert. Christian Haass, der am deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen in München forscht, reagierte auf die Ergebnisse der Untersuchung mit den Worten: »Die schiere Masse der Auffälligkeiten hat mich umgehauen."
Die Ergebnisse der Studie wurden im August 2022 im »New England Journal of Medicine« publiziert. Es zeigten sich für den Antikörper, der gegen α-Synuclein-Aggregate gerichtet war, keine signifikanten Unterschiede zwischen den aktiven Behandlungsgruppen und der Placebogruppe bei den Dopamintransporter-Werten in der Einzelphotonen-Emissionscomputertomografie (SPECT) und auch die Ergebnisse für die meisten klinischen sekundären Endpunkte waren in den aktiven Behandlungsgruppen und in der Placebogruppe ähnlich.
Auch auf andere Arzneimittelentwicklungen hatten Masliahs Forschungen erhebliche Auswirkungen. So stützte sich das in Österreich ansässige Biopharmaunternehmen Ever Pharma bei der Entwicklung von Cerebrolysin (FPF-1070), einer Mischung aus kurzkettigen Peptiden, die aus Schweinehirnen gewonnen werden, stark auf Publikationen Masliahs. Acht Studien, darunter eine, die im Journal »BMC Neuroscience« publiziert wurde, bilden die Basis für die Entwicklung von Cerebrolysin und wurden teilweise von Ever Pharma finanziert. Neuropore Therapies ist ein weiteres Unternehmen, das auf Basis von Studien aus dem Masliah-Labor potenzielle Parkinson-Mittel entwickelt. Zwischenzeitlich wurden die Rechte zur Entwicklung und Vermarktung dieses und anderer Moleküle an das Pharmaunternehmen UCB für 63 Millionen US-Dollar (58,2 Millionen Euro) auslizenziert.
Konsequenzen für laufende Forschungsprojekte
„Dennoch müssen heute nicht alle Ergebnisse, die auf Masliahs Arbeiten basieren, in Frage gestellt werden", sagt Dr. Linda Thienpont, stellvertretende Geschäftsführerin der AFI. „Forscher*innen im Labor erkennen in der Regel schnell, ob eine Eingangshypothese stimmt oder nicht. Dennoch stellt sich die Frage, warum viele Arbeitsgruppen lange nicht bemerkt haben, dass einige von Masliahs Ergebnissen fragwürdig sind. Jetzt gibt es sicherlich Ergebnisse, die revidiert werden müssen, was für die betroffenen Arbeitsgruppen sehr bedauerlich ist und zusätzliche Arbeit bedeutet."
Glaubwürdigkeitsverlust und Vertrauenswiederherstellung
Darüber hinaus erschüttert der Fall massiv die Glaubwürdigkeit eines bedeutenden Teils der Neurowissenschaften. Thienpont: "Es ist enttäuschend, dass ein renommierter Wissenschaftler so eklatant gegen die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis verstößt und damit Vertrauen missbraucht. Der Imageschaden für die Neurowissenschaften ist beträchtlich, aber die Demenzforschung steht weiterhin auf einem soliden Fundament".
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Dr. Linda Thienpont betont, dass nun viel Vertrauen wiederhergestellt werden muss. Haass erklärt: »Man müsste jetzt eigentlich in allen Arbeiten von Masliah nachkontrollieren, ob die Ergebnisse stimmen. Aber das ist eine riesige Aufgabe, die eine offizielle Untersuchungskommission übernehmen muss«. Allerdings breche mit den Zweifeln an Masliahs Arbeit nicht gleich das gesamte Forschungsfeld zusammen, so der Experte. Denn die entscheidenden Experimente würden immer von anderen Forschungsgruppen wiederholt.
Parallelen zu anderen Forschungsskandalen
Dass Spitzenforschung in Verdacht gerät, ist kein neues Phänomen. Gerade im Bereich der neurodegenerativen Erkrankungen gab es schon Forschungsskandale. So nahm im Jahr 2022 die Karriere des Neurowissenschaftlers Professor Dr. Sylvain Lesné ein jähes Ende. Lesné wies damals als Leitautor der im Fachjournal »Nature« publizierten Studie ein bestimmtes β-Amyloid-Molekül nach, das einer der »Hauptverdächtigen« für die Ursachen von Alzheimer sein sollte. Die Studie wurde in den folgenden Jahren tausendfach zitiert und machte die Amyloid-Hypothese populär, bis ein US-Neurowissenschaftler der Vanderbilt University Verdacht schöpfte. Auch damals trugen die Forschungsergebnisse dazu bei, dass Millioneninvestitionen in die Entwicklung von Medikamenten flossen, die sich letztlich als unwirksam erwiesen.
Der Fall Sylvain Lesné und die Amyloid-Hypothese
Dem Neurowissenschaftler Sylvain Lesné von der Universität in Minnesota (USA) wird vorgeworfen, in Studien aus dem Jahr 2006 Forschungsergebnisse zum Peptid Beta-Amyloid gefälscht zu haben. Lesné wies damals als Leitautor der »Nature«-Studie ein Molekül nach, das einer der »Hauptverdächtigen« für die Ursachen von Alzheimer sei, wie es in einem begleitenden Beitrag hieß. Es steht angeblich am Anfang einer tödlichen Kettenreaktion im Gehirn. Mit seiner »Entdeckung« stützt er die sogenannte Amyloid-Hypothese, wonach bestimmten Proteinstückchen, sogenanntes Beta-Amyloid, der Auslöser für die Krankheit sind. Sie finden sich in geringen Mengen auch im Gehirn gesunder Menschen. Doch mit dem Alter kann der Stoff verklumpen und Plaques bilden. Diese führen demnach zu einem Massensterben der Nervenzellen und lassen das Gehirn schrumpfen.
Das Fachmagazin »Science« engagierte daraufhin mehrere Alzheimer-Forscher, um die Grafiken und Studien von Lesné zu prüfen. Ihr einstimmiger Befund: Hunderte von Bildern seien manipuliert und das in mehr als 70 Lensé-Veröffentlichungen. Einige sehen demnach aus wie »schockierend offensichtliche« Beispiele für Bildmanipulationen, zitiert das Magazin Donna Wilcock, Alzheimer-Expertin an der University of Kentucky.
Laut einigen Forschern könnte man Lesné und seine mutmaßlichen Bildmanipulationen aber auch nicht für alle Fehlinvestitionen verantwortlich machen. Giovanni Frisoni vom Neurocenter der Universität Genf kommentierte gegenüber der »Neue Züricher Zeitung«, dass er den Namen Lesné vor dem Skandal noch nie gehört habe.
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Beta-Amyloid und seine Rolle in der Alzheimer-Forschung
Für die Alzheimer-Krankheit sind Ablagerungen im Gehirn von zwei Proteinen charakteristisch: Beta-Amyloid und Tau. Beta-Amyloid lagert sich zu Plaques zusammen, welche dann die Kommunikation zwischen den Nervenzellen stören. Bei den Anschuldigungen, die von der Universität in Minnesota derzeit untersucht werden, geht es um Forschungsergebnisse zu einem ganz speziellen Molekül namens Beta-Amyloid*-56. Das ist nur ein Beta-Amyloid Peptid von vielen. Dem Forscher Sylvain Lesné wird vorgeworfen, Abbildungen manipuliert zu haben. Es könnte daher sein, dass es das von ihm beschriebene Molekül gar nicht gibt.
Thomas Arendt, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der AFI, betont, dass Lesnés Arbeiten keinen nennenswerten Einfluss auf die Alzheimer-Forschung gehabt hätten und keine aktuelle oder vergangene Medikamenten-Studie sich auf Beta-Amyloid*-56 beziehe. Zudem werden neben der Beta-Amyloid-Hypothese, die versucht, eine mögliche Erklärung für das Fortschreiten der Krankheit zu bieten, auch noch zahlreiche andere Forschungsansätze verfolgt, um den Ursachen der Alzheimer-Krankheit auf den Grund zu gehen. Die Forschungen reichen von der Darm-Hirn-Achse über Lebensstilfaktoren bis hin zur Zellforschung.
Muster in Forschungsskandalen
Ulrich Dirnagl, Professor für Klinische Neurowissenschaften an der Berliner Charité und Direktor des QUEST Centers for Responsible Research am Berlin Institute of Health (BIH), erinnert der Fall an weitere Skandale führender US-amerikanischer Neurowissenschaftler.„In jeweils 20 bis 70 Publikationen dieser Wissenschaftler wurden hochgradig fragwürdige oder eindeutig manipulierte Abbildungen entdeckt“, schreibt Dirnagl in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel. Die Affären folgten dabei einem wiederkehrenden Muster.In Publikationen prominenter Wissenschaftler werden oft Jahre nach ihrer Veröffentlichung in namhaften Fachzeitschriften manipulierte Abbildungen entdeckt. Zunächst passiere dann entweder gar nichts, so Dirnagl.
Die Rolle der National Institutes of Health (NIH)
Die US-Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH), die dem NIA übergeordnet ist, veröffentlichte am 26. September 2024 eine Erklärung, in der sie ein wissenschaftliches Fehlverhalten in zwei Publikationen von Masliah bestätigte. Zudem wurde Masliah die Leitung der Abteilung für Neurowissenschaften des NIA entzogen. Die NIH teilten Ende September relativ knapp mit, dass Masliah Fälle von Fehlverhalten in der Forschung vorgeworfen würden.Dabei gehe es um zwei Publikationen, bei denen „Fälschungen und/oder Erfindungen, die das Wiederverwenden und die Neubezeichnung von Abbildungen einschließen“, aufgefallen seien. „Derzeit ist Dr. Masliah nicht als Direktor des NIA DN tätig“, teilten die NIH mit. Und weiter: „Über diese Informationen hinaus werden sich die NIH nicht zu Personalangelegenheiten äußern.“
Erfolgsdruck und Konkurrenzkampf in der Neurowissenschaft
Anne Pfitzer-Bilsing, Leiterin Wissenschaft bei der Alzheimer Forschung Initiative e.V., betont, dass die neurologische Forschung ein stark umkämpftes Feld ist, in dem es noch viel zu holen gibt, da es bisher keine Heilung für neurodegenerative Erkrankungen gibt. Daher herrscht ein gewisser Erfolgsdruck.
Konsequenzen für die Forschung und Patienten
Ulrich Dirnagl betont, dass der Schaden, der durch solche Fälschungen angerichtet wird, potenziell sehr groß ist. Auf Basis vieler dieser Arbeiten wurden Therapiestudien an Patienten entwickelt und durchgeführt, die umsonst waren, wenn die Grundlage dafür nicht gehalten werden kann. Solche Studien könnten dann auch Patienten unnötig gefährdet haben. Außerdem würden viele andere Forscher auf die falsche Fährte gelockt und so weitere Forschungsgelder verschwendet.
Prasinezumab: Ein Beispiel für die Auswirkungen gefälschter Forschung
Unter den auffälligen Arbeiten sind laut Science auch welche, die einen Teil des wissenschaftlichen Unterbaus von klinische Medikamentenstudien mit Hunderten Probanden darstellen. Ein Beispiel ist demnach der Antikörper Prasinezumab. Er soll angeblich gegen Parkinson helfen, in dem er im Gehirn an das Protein Alpha-Synuclein bindet, das für die Zerstörung der dopaminergen Neurone verantwortlich gemacht wird.Im Jahr 2022 zeigte dann eine Phase-2-Studie im New England Journal of Medicine (NEJM 2022; DOI: 10.1056/NEJMoa2202867), dass Prasinezumab unwirksam ist.
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