Schon in jungen Jahren lernen wir, dass Essen nur in der Pause erlaubt ist und dass Unruhe ein Zeichen von Hyperaktivität ist. Diese Konditionierung kann tiefgreifende Auswirkungen haben. Wer die Signale seines Körpers regelmäßig ignoriert, verliert den Kontakt zu seinen eigenen Bedürfnissen. Glücklicherweise gibt es Möglichkeiten, diese Verbindung wiederherzustellen und unser Nervensystem besser zu verstehen.
Eine Einführung in das Nervensystem
Dieser Artikel dient als Einführung in die faszinierende Welt des Nervensystems und seine Auswirkungen auf unser tägliches Leben. Kleine Übungen und Achtsamkeitspraktiken können bereits helfen, die Funktionsweise unseres Nervensystems besser zu verstehen und zu nutzen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass ein dysreguliertes Nervensystem auch ein Symptom psychischer Erkrankungen sein kann. In solchen Fällen ist es ratsam, sich an ausgebildete Therapeuten und Ärzte zu wenden.
Das Nervensystem ist ein komplexes Netzwerk aus Milliarden von Nerven, die alle Teile unseres Körpers miteinander verbinden und über Nervenbahnen mit unserem Gehirn kommunizieren. Es fungiert als Steuerungszentrum und reagiert auf Umwelt-, soziale und psychologische Veränderungen.
Man unterscheidet zwischen dem somatischen Nervensystem, das willkürliche Bewegungen steuert, und dem autonomen Nervensystem, das für unbewusste Prozesse und Körperfunktionen zuständig ist.
Das Autonome Nervensystem: Sympathikus und Parasympathikus
Die Hauptaufgabe des autonomen Nervensystems ist es, unser Überleben zu sichern. Es besteht aus zwei Teilen, die wie Gegenspieler agieren: dem Parasympathikus und dem Sympathikus.
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Der Parasympathikus ist in Phasen der Ruhe und Entspannung aktiv. Er verlangsamt Herzschlag und Atmung und ermöglicht es dem Körper, sich zu regenerieren.
Der Sympathikus hingegen reguliert unseren Körper bei Aktivität oder in Stresssituationen. In Gefahrensituationen beschleunigt er Herzschlag und Atmung, um unsere körperliche Leistungsfähigkeit für Flucht oder Verteidigung zu steigern. Der Sympathikus reagiert blitzschnell, oft bevor wir uns der Gefahr bewusst werden.
Ein reguliertes Nervensystem wechselt flexibel zwischen Aktivierung und Ruhe. Bei vielen Menschen ist der Sympathikus jedoch übermäßig oft aktiviert. Dies kann durch traumatische Erfahrungen verstärkt werden. Selbst scheinbar harmlose Gesten, wie das Hochziehen einer Augenbraue, können den Sympathikus aktivieren, wenn sie in der Vergangenheit mit negativen Erfahrungen verbunden waren.
Die Polyvagal-Theorie: Ein umstrittenes Modell
In den 1990er-Jahren entwickelte der US-amerikanische Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen Porges die Polyvagal-Theorie, die zwar als widerlegt gilt, allerdings oft Anwendung findet. Diese Theorie postuliert, dass der Vagusnerv, der vom Gehirn bis in den Brustkorb verläuft, in zwei Teile unterteilt ist: den ventralen und den dorsalen Vagus.
Demnach funktioniere der ventrale Vagus wie eine regulierbare Bremse, die uns in einen Zustand des Sicherheitsempfindens versetzt. Der dorsale Vagus hingegen wirke wie eine Vollbremsung und führe zu einem kompletten Shutdown.
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Obwohl die Polyvagal-Theorie in der Wissenschaft umstritten ist und kritisiert wird, dass sie andere wichtige Mechanismen ignoriert und den Vagusnerv überbetont, wird sie von vielen Therapeuten als nützlich empfunden, um die Beziehung zwischen Körper, Stress und Trauma zu verstehen.
Die Entfremdung vom Körper in der modernen Gesellschaft
Viele Menschen fühlen sich unausgeglichen, überfordert und leiden unter körperlichen Symptomen wie schwitzenden Händen oder Magenschmerzen. Dies sind Anzeichen dafür, dass unser Nervensystem überlastet ist. Oft sind wir uns dessen bewusst, nehmen den Zustand unseres Nervensystems aber nicht bewusst wahr.
In unserer Gesellschaft steht der rationale Verstand im Vordergrund, während wir uns von unserem Körper entfremdet haben. Unser Verstand kann jedoch nur optimal funktionieren, wenn unser Nervensystem ausgeglichen ist.
Diese fehlende Achtsamkeit für Körperwahrnehmungen ist kein individuelles Problem, sondern ein Ergebnis der Industrialisierung. Wir arbeiten nicht mehr im Einklang mit unserem natürlichen Rhythmus, sondern in starren Zeiteinheiten in Fabriken oder Büros mit künstlichem Licht. Wir sitzen zu viel und bewegen uns zu wenig. Schon in der Schule wird uns beigebracht, unsere körperlichen Bedürfnisse zu ignorieren.
Dieser Kreislauf führt dazu, dass der Sympathikus aktiviert wird und Stress signalisiert. Bei ständiger Missachtung der eigenen Bedürfnisse kann das Nervensystem dysreguliert werden und die Funktionsfähigkeit des Verstandes beeinträchtigen.
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Auswirkungen eines dysregulierten Nervensystems
Ein dysreguliertes Nervensystem kann sich auf verschiedene Weise äußern:
- Kleineres Toleranzfenster: Wir reagieren stärker auf neutrale Signale.
- Flight-Modus: Wir ziehen uns zurück, auch wenn uns etwas wichtig ist.
- Schwierigkeiten bei der Einordnung des eigenen Verhaltens: Wir erkennen nicht, dass unser Nervensystem dysreguliert ist und suchen rationale Erklärungen für unser Verhalten.
Meetings sind besonders anfällig für die Auswirkungen eines dysregulierten Nervensystems, da wir unbewusst wahrnehmen, ob unser Gegenüber reguliert oder dysreguliert ist und uns daran anpassen. Wenn viele Teilnehmer mit dysregulierten Nervensystemen aufeinandertreffen, kann das Meeting unproduktiv oder sogar streitlustig verlaufen.
Wege zur Selbstregulation des Nervensystems
Wie können wir unser Nervensystem in seiner natürlichen Selbstregulation unterstützen? Eva Bakardjiev, eine somatische Coachin, beschreibt diesen Prozess als eine Praxis des Wieder- und Umlernens, bei der die bewusste Körperwahrnehmung schrittweise in den Alltag integriert wird.
Es erfordert, aus gewohnten Mustern auszubrechen und neue, unbekannte Wege zu beschreiten. Wer seine körperlichen Bedürfnisse wahrnimmt und ernst nimmt, kann sein Nervensystem besser regulieren.
Eine einfache Übung besteht darin, ein Bedürfnis auszuwählen, einen Merksatz zu formulieren und zu versuchen, dieses Bedürfnis radikal ernst zu nehmen: "Iss, wenn du Hunger hast", "Trink, wenn du durstig bist", "Schlafe, wenn du müde bist" oder "Geh aufs Klo, wenn du aufs Klo musst".
Es ist auch hilfreich, nach persönlichen Mustern zu suchen und zu erkennen, was zu einem dysregulierten Zustand geführt hat. Gemeinsam mit Freunden oder Kollegen kann man üben, körperliche Empfindungen als Ausdruck des Nervensystems zu erkennen.
Die Rolle der Organisationskultur
Die Organisationskultur spielt eine wichtige Rolle dabei, ob Menschen sich mit ihren Bedürfnissen und ihrem Nervensystem verbinden können. Unternehmen können beispielsweise standardmäßig kurze Pausen in Meetings einbauen, in denen die Teilnehmer ihren Bedürfnissen nachgehen können. Es sollte normalisiert werden, dass jemand aufsteht, sich dehnt oder sich ein Glas Wasser holt.
Es ist absurd, körperliche Bedürfnisse zu unterdrücken und gleichzeitig einwandfreie Arbeit vom Verstand zu erwarten.
Die Vagusnervstimulation: Ein Trend mit Potenzial
Die Stimulation des Vagusnervs liegt im Trend. Professor Kroemer betont, dass die Vagusnervstimulation großes Potenzial hat, da der Vagusnerv wichtige Informationen von Organen und Systemen an Gehirn und Hirnstamm weiterleitet.
Bei bestimmten Symptomen oder Erkrankungen kann es sinnvoll sein, diese Verbindung entweder zu verstärken oder zu hemmen. Es ist jedoch wichtig, den Versprechungen im Internet und in den sozialen Medien kritisch gegenüberzustehen, da die Forschung noch zu wenig darüber weiß, wie und wann man die Vagusnervstimulation bei gesunden Menschen gezielt einsetzen kann, um das Wohlbefinden zu steigern.
Der Vagusnerv fungiert als "Datenautobahn" im Körper und verbindet unter anderem Verdauungstrakt, Lunge und Herz mit dem Gehirn. Er hilft uns, schnell das passende Verhalten auszuwählen, z.B. zu essen, wenn wir Hunger haben, oder das Immunsystem hochzufahren bei bestimmten Krankheiten.
Die Aktivierung des Vagusnervs soll Entspannung fördern und den Parasympathikus aktivieren. Die Wirkung hängt jedoch vom gesundheitlichen Zustand und der Situation ab.
Möglichkeiten der Vagusnervstimulation
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Vagusnerv zu stimulieren:
- Kontrollierte Atemübungen: Tiefes Atmen oder progressive Muskelentspannung können entspannend wirken.
- Mechanische Stimulation: Massagen am Hals, Bienensummen oder Gurgeln. Die Wirksamkeit dieser Methoden ist jedoch wissenschaftlich nicht ausreichend belegt.
- Elektronische Stimulation: Freiverkäufliche Geräte, die elektrische Impulse abgeben. Die Wirksamkeit dieser Geräte ist umstritten und es gibt keine Garantie, dass sie den Vagusnerv tatsächlich stimulieren.
Am Uniklinikum Tübingen wird die Vagusnervstimulation in Studien erforscht und für die Behandlung von Antriebslosigkeit, Depressionen, Epilepsie oder Störungen im Stoffwechsel oder der Verdauung eingesetzt.
Hochsensibilität und das Nervensystem
Hochsensible Menschen (HSP) haben ein empfindlicheres Nervensystem und nehmen Reize intensiver wahr. Dies kann zu schnellerer Überreizung und Stress führen.
Elaine Aron, die Entwicklerin des Modells der Hochsensibilität, nennt vier grundlegende Merkmale:
- Tiefe Verarbeitung von Informationen
- Leichtere Überreizbarkeit des Nervensystems
- Starke Gefühlswelt
- Evolutionäre Vorteile durch gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit
Hochsensible benötigen mehr Ruhepausen, schätzen Arbeitsphasen, in denen sie allein arbeiten können, und meiden reizstarke Umgebungen. Sie können zu Furien werden, wenn ihre Überreizung zu stark wird und in den Angriffs- oder Fluchtmodus wechseln.
Es ist wichtig, dass HSP lernen, sich bei Stress zu regulieren, um nicht in eine permanente nervliche Überforderung und Dauerstress zu geraten.
Die Rolle des Nervensystems bei der persönlichen und spirituellen Weiterentwicklung
Das Nervensystem spielt eine entscheidende Rolle bei unserer persönlichen und spirituellen Weiterentwicklung. Ein entspanntes Nervensystem ermöglicht es uns, uns sicher und geborgen zu fühlen und unseren Fokus auf unsere Wünsche zu richten.
Nicole Davidow, Live- und Beziehungscoach, betont, dass das Erlernen der Sprache unseres Nervensystems uns ein leichteres Leben ermöglicht und uns hilft, uns im Vertrauen zu verankern und unsere Bedürfnisse zu stillen.
Das autonome Nervensystem: Ein stiller Helfer
Das autonome Nervensystem (ANS) ist ein stiller Helfer, der rund um die Uhr für uns arbeitet. Es steuert lebenswichtige Körperfunktionen wie Herzschlag, Atmung, Verdauung und Körpertemperatur, ohne dass wir bewusst darüber nachdenken müssen.
Das ANS besteht aus drei Systemen:
- Sympathikus: Bringt den Körper auf Touren und bereitet ihn auf "Kampf oder Flucht" vor.
- Parasympathikus: Sorgt für Ruhe und Regeneration.
- Enterisches Nervensystem (ENS): Steuert die Verdauung weitgehend eigenständig.
Diese Systeme arbeiten eng zusammen, um den Körper in Balance zu halten.
Ein gestörtes autonomes Nervensystem kann vielfältige Beschwerden verursachen, wie innere Unruhe, Schlafprobleme, Verdauungsbeschwerden oder Herzklopfen.
Was tun bei einem überreizten Nervensystem?
Ein überreiztes Nervensystem braucht Zeit, um sich zu regulieren. Folgende Maßnahmen können helfen:
- Regelmäßige Bewegung: Baut Stresshormone ab und stärkt den Parasympathikus.
- Bewusste Atmung: Aktiviert den Parasympathikus.
- Ausgewogene Ernährung: Liefert dem Nervensystem wichtige Nährstoffe.
- Ausreichend Schlaf: Ermöglicht dem Nervensystem, sich zu regenerieren.
- Entspannungstechniken: Meditation, Body Scan oder progressive Muskelentspannung.
- Polyvagal-Übungen: Stimulieren gezielt den Nervus vagus.
- Biohacking und Body Awareness: Gezielte Reize und achtsamer Zugang zur Selbstregulation.
Ursachen und Behandlung einer akuten Belastungsreaktion
Ein Nervenzusammenbruch, in der Fachsprache als akute Belastungsreaktion bezeichnet, ist eine vorübergehende, aber extreme Reaktion auf ein ebenso extremes Ereignis.
Ursachen können traumatische Erlebnisse wie Unfälle, Krieg, Gewalt oder Naturkatastrophen sein. Symptome sind Sprachlosigkeit, veränderte Wahrnehmung, Nacherleben der Situation, Überreizung, Stimmungsschwankungen und körperliche Reaktionen wie Schweißausbrüche oder Herzrasen.
Wichtig ist schnelle, professionelle Unterstützung. Anlaufstellen sind psychiatrische Praxen oder Kliniken, der bundesweite Bereitschaftsdienst, die Telefonseelsorge oder die Nummer gegen Kummer für Jugendliche und Kinder.
Nervenzusammenbruch durch Stress
Ein akuter Zusammenbruch in einer Stresskrise kann das Resultat von langanhaltendem psychischem Stress sein. Stressfaktoren sind beruflicher Druck, Konflikte, Mehrfachbelastungen, Termindruck, kritische Lebensereignisse, eigene Ansprüche und das Fehlen sozialer Unterstützung.
Typische Symptome sind Zittern, Weinkrämpfe, Schwitzen, Übelkeit, Herzklopfen, Kopfschmerzen, Nervosität, innere Unruhe, Niedergeschlagenheit, Kraftlosigkeit, Schlafprobleme, Schwindel, Muskelverspannungen, Atembeschwerden und Konzentrations- und Gedächtnisstörungen.
Ärztliche Hilfsangebote
Bei anhaltenden Symptomen sollte ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden. Erste Anlaufstelle ist der Hausarzt, der bei Bedarf an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie überweisen kann.
Vorbeugung und langfristige Strategien
Begleitend zu einer Therapie können eigene Maßnahmen helfen, Stress zu regulieren oder ihm vorzubeugen:
- Kürzer treten, um Leistungsfähigkeit zu erhalten
- Warnzeichen Ernst nehmen
- "Nein" sagen lernen
- Selbstfürsorge
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