Das Kleinhirn, auch Cerebellum genannt, spielt eine entscheidende Rolle beim motorischen Lernen und der Koordination von Bewegungen. Es ist für die Feinabstimmung von Bewegungen, das Gleichgewicht und die Speicherung von Bewegungsmustern verantwortlich. Neueste Forschungen deuten darauf hin, dass das Kleinhirn auch an kognitiven Prozessen beteiligt sein könnte.
Die Rolle des Kleinhirns bei der Bewegungskontrolle
Bewegungen werden von den motorischen Arealen der Hirnrinde entworfen, geplant und zur Ausführung an die Muskeln geschickt. Kleinhirn und Basalganglien können zwar selbst keine Bewegungen auslösen, sind aber für deren Kontrolle und unsere Fähigkeit, komplexe Bewegungsabläufe auszuführen, unabdingbar. Das Kleinhirn vergleicht eine geplante Bewegung mit der gerade stattfindenden und führt Korrekturen aus. Ist das Kleinhirn geschädigt, schießen Bewegungen über, sind fahrig und verfehlen ihr Ziel.
Das Kleinhirn wacht bei allen Bewegungen ständig darüber, dass sich alles so abspielt, wie von den motorischen Zentren in der Hirnrinde geplant, und führt Feinkorrekturen aus - unbewusst natürlich. Es sorgt auch dafür, dass wir unser Gleichgewicht halten können. Heben wir plötzlich ein Bein an, koordiniert das Kleinhirn die Muskelaktivitäten neu, damit wir nicht umkippen.
Das Kleinhirn greift in der Hierarchie der Bewegungskontrolle eine Ebene tiefer an - bei der Ausführung. Mit seiner Hilfe werden initiierte Bewegungen in flüssige, präzise Handlungssequenzen übersetzt.
Anatomie und Struktur des Kleinhirns
Das Kleinhirn macht zwar nur ein Zehntel der Masse des gesamten Gehirns aus, aber es beherbergt über die Hälfte seiner Nervenzellen. Das zeigt schon, wie komplex seine neuronalen Verschaltungen sind. Es sieht aus wie eine abgewandelte Mini-Version des Großhirns und liegt in der hinteren Schädelgrube. Schneidet man es auf, erinnert die Struktur an einen Baum, der sich stark verästelt: Das Cerebellum ist extrem zerfurcht, was seine Oberfläche immens vergrößert.
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Wie das Großhirn unterteilt sich das Kleinhirn in eine äußere Rinde und das innenliegende Mark. Im Mark liegen die Kleinhirnkerne, Gebiete mit dichtgedrängten Nervenzellkörpern. An die Kleinhirnkerne treten unterschiedliche Varianten von Nervenfasern heran, die Informationen aus verschiedenen Teilen des Körpers bringen. Das ermöglicht es dem Kleinhirn, alles miteinander zu vergleichen. Die Kerne selbst senden ihre Signale zurück an die motorischen Bahnen im Rückenmark und über den Thalamus an die Großhirnrinde.
Alle Informationen aus dem Körper, welche die Kleinhirnkerne erreichen, gelangen minimal zeitverzögert auch zu speziellen Nervenzellen in der Kleinhirnrinde, den auffällig großen Purkinje-Zellen. Diese nach ihrem Entdecker, dem tschechischen Physiologen Jan Evangelista Purkyně (1787 - 1869), benannten Zellen hemmen ständig die Kleinhirnkerne und hindern sie daran, ihre Signale „nach außen“ weiterzuleiten. Nur wenn die Purkinje-Zellen selbst gehemmt werden, können die Kleinhirnkerne senden. So modifiziert die Kleinhirnrinde mit ihren Purkinje-Zellen den Informationsfluss, der über die Kleinhirnkerne läuft, und ermöglicht es, dass Bewegungen gezielt ablaufen und nicht überschießen.
Funktionelle Unterteilung des Kleinhirns
Funktionseinteilungen des Kleinhirns in anteriorer Ansicht: Das Vestibulozerebellum liegt im Lobus flocculonodularis, das Spinozerebellum in der intermediären Hemisphäre (IH) und das Pontocerebellum in der lateralen Hemisphäre (LH).
Viele Afferenzen gehen durch die drei Kleinhirnstiele zur Kleinhirnrinde. Input: N.
Lage der Kerne im Kleinhirn Von lateral nach medial: Nukleus dentatus, Nukleus interpositus (bestehend aus Ncl.
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Kleinhirnrinde und die drei Schichten, Stratum moleculare, Stratum ganglionare und Stratum granulosum. Man beachte die Körper der Purkinje-Zellen, die sich im Stratum ganglionare befinden, während ihre Dendriten ins Stratum moleculare hineinragen.
Kleinhirnlappen: anterior in violett, posterior in grün und L. flocculonodularis in orange. Das linke Bild zeigt den mediosagittalen Anschnitt des Kleinhirns und das rechte Bild zeigt eine obere Ansicht eines „abgerollten“ Kleinhirns, so dass sich der Vermis cerebelli in einer Ebene befindet.
Motorisches Lernen und das Kleinhirn
Heute weiß man: Das Cerebellum gewährleistet, dass wir erlernte Bewegungen richtig ausführen können. Und mehr noch: In seinen Schaltkreisen werden auch neue Bewegungsabläufe eingespeichert und automatisiert, beispielsweise wenn jemand das Schlittschuhlaufen lernt.
Erstmals formuliert wurde die Hypothese, dass das Kleinhirn auch an motorischen Lernvorgängen entscheidend beteiligt ist, in den 1970er Jahren. Wie man aus einem der berühmtesten Versuche der Verhaltensforschung wusste, lernt der Pawlow‘sche Hund das Sabbern auf das Läuten einer Glocke hin − auch wenn gar kein Futter in Sichtweite war. Analog dazu lernt ein Mensch zu blinzeln, wenn ein Ton ertönt − vorausgesetzt, man hat ihm oft genug einen Luftstoß zeitgleich mit dem Ton präsentiert. Im Kleinhirn bilden sich wie Untersuchungen zeigen dann neue Nervenzellverbindungen aus, beziehungsweise die bestehenden werden verstärkt. Durch diesen synaptische Plastizität genannten Prozess, der nach heutigem Kenntnisstand die Grundlage der Gedächtnisbildung darstellt, ist nach einiger Zeit der neue Reflex dann in den Tiefen des Kleinhirns verankert.
Eine wichtige Aufgabe bei der Koordinierung von erlernten Bewegungen übernehmen auch die Basalganglien, eine Ansammlung von miteinander verbundenen Kerngebieten im Gehirn, die alle Informationen über eine geplante Handlung erhalten. Sie bewerten mögliche Bewegungsmuster und treffen eine Auswahl zwischen passend und unpassend. So steuern sie Kraft, Ausmaß, Geschwindigkeit und Richtung einer Bewegung. Das Ergebnis senden sie an den Thalamus, einen Teil des Großhirns, der als „Tor zum Bewusstsein“ bezeichnet wird. Der Thalamus leitet die relevanten Informationen an die Großhirnrinde weiter, welche die Impulse zur Bewegung gibt. Basalganglien und Thalamus bilden gemeinsam den Filter, der dafür sorgt, dass genau die richtigen Bewegungsmuster bis zur Großhirnrinde durchkommen und zur Ausführung an Rückenmark und Muskeln weitergegeben werden.
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Auswirkungen von Stress auf das Kleinhirn
In zwei thematisch verwandten Studien haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München herausgefunden, wie sich Stress auf die Motorik sowie auf das Lernen auswirken kann. Sie untersuchten die Rolle des CRF (Corticotropin freisetzenden Faktor)-Systems für die Funktion des Kleinhirns.
In der ersten Studie haben die Forscher das Stress-Neuropeptid CRF in einer Gehirnregion untersucht, die Teil der sogenannten Olivenkerne und für die Koordination von Bewegungen zuständig ist. Sie befindet sich im Hirnstamm und leistet einen wesentlichen Beitrag zum Funktionieren des Kleinhirns, indem sie über sogenannte Kletterfasern die Signalübertragung zur anderen Hirnhälfte steuert. Man weiß, dass CRF sowohl bei Mäusen als auch bei Menschen in Nervenzellen im Bereich der Olivenkerne verstärkt vorkommt. Den Wissenschaftlern ist es nun mithilfe von Tierversuchen an Mäusen gelungen, das CRF-Niveau in Zellen der Olivenkerne gezielt zu reduzieren. So konnten sie dessen spezifische Rolle dort untersuchen.
In der zweiten Studie haben die Forscher den CRF Typ 1-Rezeptor (CRFR1) im Kleinhirn untersucht. Auch von diesem wusste man, dass er im Kleinhirn vorkommt, über seine Funktion war aber nur wenig bekannt. In einem weiteren Mausmodell schalteten die Wissenschaftler CRFR1 in Körnerzellen, den häufigsten Zellen des Kleinhirns, ab und untersuchten die Folgen für die Nervenzellen und für das Verhalten der Tiere. Sie stellten starke Auswirkungen auf das Lernen auf beiden Ebenen fest während motorische Fähigkeiten nicht beeinträchtigt wurden. Alon Chen, Institutsdirektor und Leiter beider Projekte, fasst zusammen: “Diese Studien unterstreichen die zentrale Rolle des CRF-Systems für die Funktionsfähigkeit des Kleinhirns. Patienten mit stressbedingten Erkrankungen zeigen veränderte Verbindungen zwischen den Zellen des Kleinhirns.
Optogenetische Werkzeuge zur Untersuchung des Kleinhirns
An verschiedenen Erkrankungen, die das motorische Lernen betreffen, sind Prozesse im Kleinhirn beteiligt. Diese besser zu untersuchen, hilft ein neues Werkzeug, das eine Bochumer Arbeitsgruppe entwickelt hat: ein lichtaktivierbares Protein, das mit einem Teil eines erregenden Rezeptors gekoppelt ist. Durch Licht lässt sich dank dieses optogenetischen Werkzeugs ein Signalweg in den Nervenzellen des Kleinhirns aktivieren und seine Auswirkungen beobachten. So konnte die Gruppe um Dr. Ida Siveke aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Stefan Herlitze an der Ruhr-Universität Bochum zeigen, dass der Signalweg am kleinhirngesteuerten motorischen Lernen beteiligt ist.
Für die neuronale Plastizität des Kleinhirns spielt der sogenannte metabotrope Glutamatrezeptor des Typ 1 - kurz mGluR1 - eine wichtige Rolle. „Um die Plastizität im Kleinhirn zu untersuchen und zu modulieren, haben wir zusammen ein optogenetisches Werkzeug entwickelt, mit dem wir durch Licht die mGluR1-Signalkaskade ansteuern können“, berichten Ida Siveke und Tatjana Surdin. Dieses Werkzeug namens OPN4-mGluR1 besteht aus einem lichtempfindlichen Protein, dem Melanopsin oder auch OPN4, das mit einem Teil des mGluR1-Rezeptors gekoppelt ist und in verschiedene Zellen eingebracht und dort hergestellt werden kann. „Damit konnten wir den Signalweg genauso aktivieren, wie es auf natürliche Weise geschieht.
Störungen der Kleinhirnfunktion
Störungen der Kleinhirnfunktion beeinträchtigen die Koordination so sehr, dass gezielte Bewegungen unmöglich werden. Das dazugehörige Krankheitsbild wird abgeleitet vom griechischen Wort ataxia - Unordnung - Ataxie genannt. Ist das Kleinhirn geschädigt, werden Schulter, Ellenbogen und Handgelenk nicht gleichzeitig bewegt, um den Finger in einem Zug zur Nase zu führen, sondern hintereinander. Der Finger zittert zick-zackförmig hin und her, und landet am Ende im Auge oder auf der Wange, weil die Bewegungen sich nicht mehr richtig abmessen lassen und übers Ziel hinausschießen.
Größere Mengen Alkohol stören die Funktion des Kleinhirns. Daher gleichen die Symptome eines kleinhirnerkrankten Menschen denen eines Betrunkenen: Er leidet unter Gleichgewichtsstörungen, geht breitbeinig und torkelnd. Außerdem spricht er abgehackt, seine Bewegungen sind fahrig und schießen übers Ziel hinaus. Hält man seinen Arm fest und fordert ihn auf, Widerstand zu leisten, woraufhin man seinen Arm plötzlich loslässt, dann kann er nicht rechtzeitig abbremsen: Seine Faust schlägt ihm ins Gesicht.
Andere Ursachen für Kleinhirnstörungen sind:
- Friedreich-Ataxie: tritt aufgrund der Expansion des GAA-Repeats im FXN-Gen auf.
- Ataxie-Teleangiektasien, Schwäche, fehlenden Reflexen und Dorsalflexion der Zehen.
- Chiari Malformationen.
Kognitive Funktionen des Kleinhirns
Während vor wenigen Jahren noch angenommen wurde, dass das Kleinhirn allein in motorische Prozesse eingebunden ist, weisen neueste Forschungen darauf hin, dass auch wichtige kognitive Fähigkeiten von unserem Kleinhirn gesteuert oder zumindest mit gelenkt werden. Neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge finden aber auch kognitive Prozesse in diesem Teil ihren Ursprung. Durchgeführte Tests sollen diese Thesen belegen - so hätten diese vor allem bei sprachorientierten Untersuchungen messbare Ausgangspunkte im Kleinhirn ergeben. Der Wissenschaftszweig der Neuropsychologie ist jedoch noch ein sehr junger, so verwundert es auch nicht weiter, dass unser Gehirn noch bei weitem nicht vollständig erforscht ist. Dies gilt natürlich auch für unser Kleingehirn, weshalb die genauen kognitiven Einflüsse bis dato noch nicht ohne Zweifel geklärt sind. Es liegt aber nahe, dass mehrere kognitive Bereiche von der zweitgrößten Schaltzentrale in unserem Gehirn gesteuert werden.
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