Multiple Sklerose (MS) und die Alzheimer-Krankheit sind zwei unterschiedliche Erkrankungen, die jedoch Gemeinsamkeiten aufweisen. Die frühzeitige effektive MS-Therapie und die Früherkennung der Demenzerkrankung rücken immer stärker in den Vordergrund. Während Multiple Sklerose (MS) vorwiegend in jüngeren Jahren auftritt, ist die Alzheimer-Demenz eher eine Erkrankung des Alters. Dieser Artikel beleuchtet aktuelle Forschungsansätze und Medikamente, die neue Perspektiven in der Behandlung dieser komplexen neurologischen Leiden eröffnen.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen MS und Alzheimer
Obwohl MS und Alzheimer auf den ersten Blick unterschiedliche Krankheiten sind, weisen sie doch einige Gemeinsamkeiten auf. Als Ursache der MS werden eine Autoimmun- und eine Neurodegenerationshypothese diskutiert. Bei Ersterer steht die Dysregulation von Entzündungszellen in der Peripherie im Vordergrund. Sie können in das ZNS eindringen und dort zu Läsionen führen. Letztere basiert auf einer genetisch determinierten Neurodegeneration mit Freisetzung von ZNS-Antigenen in die Peripherie. Die resultierende Aktivierung des Immunsystems führt zum Fortschreiten der Erkrankung. Dagegen ist die Alzheimer-Krankheit durch Proteinaggregate und eine sekundäre, vermutlich früh einsetzende Neuroinflammation geprägt.
Beiden Erkrankungen gemein ist eine lange Prodromalphase. Bei MS-Patienten wurden im Jahr vor dem ersten klinischen Schub eine 78 % höhere Hospitalisierungsrate, 88 % mehr Arztbesuche und ein Anstieg der Arzneimitteleinnahme um 49 % beobachtet. „Degenerative Prozesse bei MS könnten demnach wesentlich früher einsetzen, als wir denken“, so Prof. Dr. med. Mathias Mäurer, Chefarzt an der Klinik für Neurologie, Juliusspital Würzburg.
Bei der Alzheimer-Krankheit träten erste typische Veränderungen des Gehirns bis zu 20 Jahre vor der Demenz auf, erklärte Prof. Dr. med. Jörg Schulz, Direktor der Klinik für Neurologie, RWTH Aachen. Betroffene bemerken oft bereits Jahrzehnte vor Beginn der Demenz subjektive kognitive Beeinträchtigungen. An diese Phase schließt das Stadium der leichten kognitiven Störung mit Veränderungen im Kurzzeitgedächtnis an. Typischerweise im Alter zwischen 70 und 80 Jahren folgt der beschleunigte kognitive Abbau mit Alzheimer-Diagnose und Demenz.
MS-Patienten weisen initial meist eine schubförmig remittierende MS (RRMS) auf, die im Lauf der Zeit in eine sekundär progrediente MS (SPMS) übergehen kann. Dieser Übergang korreliert mit einem Shift vom adaptiven zum angeborenen Immunsystem. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass das adaptive spezifische Immunsystem mit höherem Alter nachlässt, was durch das angeborene unspezifische Immunsystem kompensiert wird. Bei RRMS stehen fokale, abgegrenzte Läsionen im Vordergrund, die auf die spezifische inflammatorische Aktivität von T- und B-Zellen hinweisen, während die SPMS durch eine diffuse Schädigung und Neurodegeneration charakterisiert ist. Dies wird auf die unspezifische Aktivität des angeborenen Immunsystems zurückgeführt.
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Aktuelle Therapieansätze bei Multipler Sklerose
Die verfügbaren Therapieoptionen für MS setzen zu unterschiedlichen Zeitpunkten dieser Kaskade an und adressieren vor allem das adaptive Immunsystem. So kann Dimethylfumarat (DMF) die Aktivierung der T-Zellen beeinflussen, die Krankheitskaskade frühzeitig unterdrücken und so modulierend in das Immunsystem eingreifen. Die pleiotropen Wirkmechanismen von DMF verändern die Komposition der Immunzellen.
Der Wirkstoff beeinflusst den Phänotyp unterschiedlicher Immunzellen und die Immunzellinfiltration. Nach DMF-Therapie zeigen sich unter anderem ein erhöhtes CD4+/CD8+-Verhältnis sowie die Induktion eines antiinflammatorischen Phänotyps in dendritischen und B-Zellen. Zudem wurde eine Suppression von Mikroglia und der Astrozytenaktivierung beobachtet.
Daten aus dem weltweiten Register MSBase zeigen im Vergleich zu keiner Behandlung bei frühzeitiger Therapie mit Glatirameracetat bzw. Interferon nach 11 Jahren eine relative Reduktion des Risikos einer Progression zu SPMS um 56 %. Bei frühzeitiger hochwirksamer Therapie mit Fingolimod (Gilenya®, Novartis), Alemtuzumab (Lemtrada®, Sanofi) oder Natalizumab (Tysabri®, Biogen) wurde zudem ein geringeres SPMS-Risiko im Vergleich zu Glatirameracetat und Interferon beobachtet. Sind die Patienten bereits progredient, ist die Therapie schwierig.
Antikörper-Therapie bei MS
Im Zentrum für Multiple Sklerose (MS) am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden wird nun erstmals ein Medikament getestet, das die Abwehrzellen des Körpers mithilfe von Antikörpern dort abtötet, wo sie Schaden anrichten: im Gehirn. Problematisch war bislang, die Antikörper über die natürliche Schutzbarriere des Gehirns hinweg direkt dorthin zu transportieren, wo die körpereigenen B-Zellen im Falle einer MS-Erkrankung für Entzündungen verantwortlich sind. Bei dem neuartigen Medikament macht sich die Forschung nun die Eigenschaften von speziellen Proteinen zunutze, wobei man den Antikörper mit einem Transport-„Shuttle“-Eiweiß verknüpft. Am Uniklinikum nimmt bereits die zweite MS-Patientin an einer Phase-I-Studie teil.
Bei dem neuen Medikament fungieren Protein-Moleküle als eine Art Shuttle, das - bestückt mit dem Antikörper - die Barriere zwischen Gefäß und Gehirn überwindet. Dort, wo die B-Zelle des eigenen Immunsystems an entzündlichen Prozessen im Gehirn beteiligt ist, hofft man, dass der Antikörper die B-Zelle gezielt ausschalten kann. Ob dies tatsächlich genauso funktioniert, wie sich das die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorstellen, muss mithilfe von an MS erkrankten Menschen getestet werden. Dafür wird nun zunächst in der Phase-I-Studie überprüft, wie verträglich das Medikament ist. Weil dabei eine geringe Dosis verabreicht wird, um die Patientinnen und Patienten nicht zu gefährden, entfaltet das Medikament mit großer Wahrscheinlichkeit noch nicht seine volle Wirkung. Verläuft diese Testphase erfolgreich, wird in den nächsten Phasen die Dosis erhöht, bis die passende Menge des Medikaments ermittelt ist. Danach erfolgt dann die mehrmalige Gabe des Medikaments im Rahmen der aktuellen Studie, für die in Dresden noch weitere Patientinnen und Patienten gesucht werden. Erst dann erfolgen Phase-II- und -III-Studien, die Basis für die Zulassung des Medikamentes sind.
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Mit der Zulassung des Anti-CD20-Antikörpers Ocrelizumab (OCREVUS®, Roche) bei schubförmiger MS (relapsing multiple sclerosis, RMS) hat sich gezeigt, dass dies die Chance bietet, die Situation von Patienten zu verbessern. Wie aktuelle Daten belegen, kann ein früher Therapiebeginn dazu beitragen, die Krankheitsprogression bei einer MS anhaltend zu verzögern.
Bedeutung der Differenzialdiagnose
Zudem ist bedeutsam, die MS gegen Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) differenzialdiagnostisch abzugrenzen, da die meisten MS-Therapeutika bei NMOSD unwirksam sind oder die Symptome sogar verschlechtern, hieß es auf der Veranstaltung. Eine langfristige Schubprophylaxe mit Immuntherapeutika ist hier zum Beispiel mit der Substanz Satralizumab (Enspryng®, Roche) möglich.
Neue Hoffnung für Alzheimer-Patienten
Die Therapieoptionen der Alzheimer-Krankheit sind sehr limitiert. Sie adressieren die Acetylcholindefizienz, eine Behandlung der zugrundeliegenden Pathophysiologie ist nicht möglich. Ziel der Forschung ist es, Therapien zu entwickeln, die den Verlauf verzögern, aufhalten oder verhindern können.
Derzeit befinden sich mehrere monoklonale Antikörper in der Phase III der klinischen Prüfung, die vor allem das angeborene Immunsystem adressieren. Studiendaten sprechen dafür, dass eine frühe Diagnose und Behandlung den Verlauf der Krankheit positiv beeinflussen könnten. „Neurologen, die bisher bereits MS behandelt haben, haben das Instrumentarium, vielleicht in Zukunft Therapien in ähnlicher Weise auch bei Alzheimer durchzuführen“, so Schulz.
Antikörper-Wirkstoffe Donanemab und Lecanemab
Die neuen Antiköper stehen an der Spitze des Fortschrittes: die beiden Antikörper-Wirkstoffe Donanemab und Lecanemab. Sie richten sich unmittelbar gegen bestimmte Peptide im Gehirn von Alzheimerpatienten, die sogenannten B-Amyloide. Diese bilden die typischen Ablagerungen und sind damit wesentlich für Alzheimer-Krankheit verantwortlich.
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Prof. Frank Jessen zu BILD: „Diese Therapien, für die wir im neuen Jahr eine Zulassung für Deutschland erwarten, machen wirklich Hoffnung. Das ist ein absoluter Meilenstein, denn dahintersteckt ein ganz neuer Ansatz. Jetzt kommt endlich mal was bei den Menschen an, und nicht nur in Tierversuchen wie es in den letzten Jahrzehnten der Fall war.“
Beide Mittel sorgen für eine Reduktion der Ablagerung und sogar dafür, dass die Plaques gar nicht mehr nachweisbar sind. Prof. Jessen: „Das ist eine ganz neue Generation von Medikamenten. Der Effekt auf das Fortschreiten der Symptome ist zwar noch begrenzt, aber mittlerweile sind über 100 dieser Arzneien in der Entwicklung. Das ist der Beginn einer neuen Ära in der Alzheimer-Therapie.“
Bei Patienten, die Donanemab bekamen, verlangsamte sich die Verschlechterung der Krankheit durchschnittlich um 22 Prozent. Bei Patienten, die das Medikament in einem frühen Krankheits-Stadium zu sich nahmen, waren es sogar bis zu 60 Prozent.
Für das Mittel Lecanemab gilt Ähnliches! Frank Jessen: „Damit erzielen wir noch keine Heilung, aber eine deutliche Verzögerung von sechs Monaten, möglicherweise bei einzelnen sogar länger.“
MS-Medikament Fingolimod (FTY720) als Hoffnungsträger?
Mit Fingolimod (FTY720) steht ein seit mehr als 10 Jahren ein potentes Medikament zur Behandlung der Multiplen Sklerose zur Verfügung. FTY720 bindet an die fünf verschiedenen Isoformen von Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptoren (S1PRs), die in den menschlichen Organen weit verbreitet sind. Interessanterweise deuten jüngste Studien an fünf verschiedenen Mausmodellen von Alzheimer darauf hin, dass eine Behandlung mit FTY720, selbst wenn sie erst nach dem Auftreten von DAT-Symptomen beginnt, synaptische Defekte und kognitive Defizite in diesen DAT-Mausmodellen umkehren kann. Darüber hinaus wurden in einer kürzlich durchgeführten Multiomics-Studie Mutationen im Sphingosin-/Ceramid-Signalweg als Risikofaktor für eine DAT Erkrankung identifiziert, was darauf hindeutet, dass S1PRs ein vielversprechender Angriffspunkt für Medikamente bei Alzheimer-Patienten sein könnte.
Weitere Therapieansätze und Medikamente in der Entwicklung
Neben den bereits genannten Medikamenten gibt es weitere vielversprechende Ansätze in der Entwicklung. Hierzu gehören unter anderem:
- Monoklonale Antikörper gegen Amyloid-Beta (Abeta [Aß]): Diese Antikörper sollen einerseits dem Immunsystem helfen, das Aß abzubauen, andererseits können sie die Aggregationstendenz von Amyloid beeinflussen.
- Diabetes-Mittel Metformin: Studien zeigten jetzt: Bei Patienten, die das Medikament nicht mehr einnahmen, trat eine Demenz-Erkrankung viel häufiger auf. Im Vergleich: die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken war bei der Gruppe, die das Medikament weiterhin nahm, um 21 Prozent geringer.
- MS-Medikament Ponvory: Antikörper mit dem Namen Ponvory, die bereits als Medikament gegen Schuppenflechte und Multiple Sklerose eingesetzt werden, versprechen Hoffnung. Denn sie blockieren bestimmte Botenstoffe des Immunsystems, die der Körper bei einer Entzündungsreaktion benutzt.
Die Rolle von Studien und Früherkennung
Die Degeneration der Nervenzellen beginnt bei der Alzheimer-Erkrankung bereits Jahre oder Jahrzehnte vor den ersten klinischen Symptomen. Je früher die Erkrankung diagnostiziert wird, desto eher kann der Verlauf verlangsamt werden. Sekundärpräventive Maßnahmen können die Progression einer Alzheimer-bedingten Gedächtnisstörung hin zu einer Demenz bei bis zu 40 % der Fälle verhindern oder zumindest verlangsamen.
Prof. Dr. med. Thomas Duning, Chefarzt der Klinik für Neurologie, Klinikum Bremen-Ost, empfahl dazu, auf ein mild cognitive impairment (MCI) zu achten - denn bereits leichte kognitive Beeinträchtigungen können Symptome einer Alzheimer-Erkrankung sein. Bei einem Verdacht auf MCI helfen inzwischen digitale Medizinprodukte wie neotivCare, die Diagnose zu verifizieren, so der Expertenrat.
Herausforderungen und Ausblick
Die Neurowissenschaften stehen vor vielfältigen Herausforderungen. Der medizinische Bedarf ist groß, da das Risiko, eine neurodegenerative Diagnose wie Morbus Parkinson oder Alzheimer zu erhalten, mit dem Alter drastisch ansteigt. Angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung gehen Fachleute davon aus, dass die Zahl der neurodegenerativen Krankheitsfälle in die Höhe schnellen wird.
Trotz der Fortschritte gibt es noch viele Hürden zu überwinden. Von 1998 bis Mai 2021 hat PhRMA 198 Arzneimittelkandidaten in klinischen Studien gezählt, die letztlich kein grünes Licht bekommen haben. „Während derselben Zeit wurden nur vier Medikamente zugelassen, um die Symptome der Erkrankung zu behandeln.“
Pharmajahr 2024: Was erwartet uns?
Zahlreiche kürzlich erteilte Zulassungen und laufende Zulassungsverfahren zeigen: Im Jahr 2024 dürften mehr als 40 neue Medikamente gegen unterschiedlichste Krankheiten für einen Markteintritt in EU-Ländern in Betracht kommen. Alzheimer-Demenz, Krebs- und Autoimmunerkrankungen könnten von diesen Fortschritten profitieren.
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