Multiple Sklerose im höheren Alter: Diagnose, Herausforderungen und Therapie

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmark betrifft. Obwohl die MS oft als eine Erkrankung des jungen Erwachsenenalters wahrgenommen wird, kann sie auch in höherem Lebensalter diagnostiziert werden. Die Diagnose und Behandlung von MS im Alter stellt jedoch besondere Herausforderungen dar.

Epidemiologie der MS im Alter

Die Prävalenz der MS bei älteren Menschen nimmt stetig zu. Dies liegt einerseits an verbesserten Diagnosemethoden und einer erhöhten Lebenserwartung von MS-Patienten. Andererseits gibt es auch Fälle von sogenannter "Late-Onset-MS" (LOMS), bei denen die ersten Symptome erst nach dem 50. Lebensjahr auftreten.

Daten aus dem Deutschen MS-Register zeigen, dass etwa 7 % der MS-Kranken 65 Jahre oder älter sind. Eine Erhebung des United Kingdom MS-Registers ergab, dass bei ca. 9 % der MS-Erkrankten die ersten Symptome erst nach dem 50. Lebensjahr auftraten.

Die steigende Prävalenz älterer Menschen mit MS führt dazu, dass Ärzte und Therapeuten zunehmend mit den spezifischen Herausforderungen dieser Patientengruppe konfrontiert werden.

Diagnose der MS im höheren Lebensalter

Die international verwendeten Diagnosekriterien der MS (McDonald-Kriterien) gelten für alle Altersstufen. Ein wichtiger Baustein ist die Magnetresonanztomographie (MRT) des Gehirns, um Entzündungsherde nachzuweisen.

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Im Alter stellt die Diagnose jedoch eine besondere Herausforderung dar. Die Abgrenzung zu anderen Erkrankungen, insbesondere Gefäßerkrankungen, kann schwierig sein, da das Risiko für gefäßbedingte Läsionen im Gehirn mit dem Alter steigt - unabhängig von der MS. Bei einer MRT-Verlaufsuntersuchung muss daher beachtet werden, ob es sich um neue MS- oder evtl. gefäßbedingte Läsionen handelt.

Differenzialdiagnostisch müssen Symptome eines Schlaganfalls von denen eines Schubes abgegrenzt werden. Eine Demenz muss von kognitiven Einschränkungen bei chronischer MS abgegrenzt werden. Bei Blasenentleerungsstörungen durch spinale Mitbeteiligung sollte eine neuro-urologische Mitbetreuung erfolgen, insbesondere bei Vorliegen einer Prostatahyperplasie. Die Differenzierung einer progredienten spastischen Gangstörung durch eine PPMS von einer Motoneuronerkrankung mit vorwiegender Beteiligung des 1. Motoneurons kann schwierig sein und muss bei den weitreichenden Konsequenzen gewissenhaft aufgearbeitet werden.

Was ist typisch für eine späte MS-Diagnose?

Beginnt die MS später, sind die Betroffenen häufiger männlich (Verhältnis Frauen zu Männern bei spät einsetzender MS 2:1 statt 3:1 bei allen MS-Betroffenen). Die Häufigkeit eines schubförmig-remittierenden Krankheitsverlaufs nimmt ab, die Personen haben häufiger eine primär progrediente MS, zeigen häufiger motorische Beschwerden und erreichen schneller eine Behinderung.

Zu den Faktoren für eine schlechtere Prognose gehören ein erhöhtes Vorkommen von Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) wie Fettstoffwechselstörungen, der seltenere Einsatz und eine geringere Wirksamkeit krankheitsmodifizierender Immuntherapien, altersbedingte Abbauprozesse sowie die sogenannte Immunoseneszenz.

Immunoseneszenz und MS

Unter der Immunoseneszenz versteht man die veränderte Aktivität von Komponenten des angeborenen und erworbenen Immunsystems im Alter. Die Funktion des Immunsystems ist beeinträchtigt, was ein erhöhtes Risiko für Infektionen, aber auch für Krebserkrankungen nach sich zieht. Andererseits ist das Altern auch mit einem gewissen Maß an kontinuierlicher Entzündung verbunden (Inflammaging). Gealterte Zellen des Immunsystems bewirken eine kontinuierliche Freisetzung von entzündungsfördernden Botenstoffen und ziehen somit weitere Immunzellen an. Dies wiederum führt zu Gewebeschäden, aber auch zu einer geringen Regenerationsfähigkeit im Krankheitsprozess.

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Therapie der MS im Alter

Die Therapie der MS stützt sich altersunabhängig auf die drei Säulen: Schubtherapie, symptombezogene Therapie sowie krankheitsmodifizierende Immuntherapie. Ziel ist idealerweise ein kompletter Stillstand der Krankheitsaktivität in Form von Krankheitsschüben, Behinderungszunahme sowie MRT-Aktivität.

Die heute verfügbaren Immuntherapien können die größten Effekte entfalten, wenn Zeichen entzündlicher Krankheitsaktivität, also Schübe und / oder MRT-Aktivität nachweisbar sind. Ältere Menschen mit MS haben jedoch häufig einen chronisch fortschreitenden Krankheitsverlauf, für den nur wenige Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen.

In vielen Zulassungsstudien wurden Probanden mit einem Alter über 55 Jahren nicht oder nur zu einem geringen Anteil eingeschlossen. Daher liegen nur wenige Daten zu Behandlung und zu Effekten, aber auch Nebenwirkungen der verschiedenen krankheitsmodifizierenden Therapien bei MS-Erkrankten über 55 Jahre bzw. keine Daten zu Personen über 65 Jahre vor.

Trotz der daher geringen bis zum Teil fehlenden Evidenz für Immuntherapien im Alter aus Zulassungsstudien gibt es kaum Altersbeschränkungen. Der Einsatz von Immuntherapien im Alter stellt daher eine Herausforderung dar und erfordert eine sorgfältige Abwägung des wahrscheinlichen Nutzens gegenüber den Risiken durch die Therapie.

Wichtig zu beachten ist, dass bei MS-Erkrankten im Alter auch zunehmend andere Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) wie Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes vorkommen, von denen z.B. Fettstoffwechselstörungen und Übergewicht mit einem schlechteren Verlauf der MS verbunden sein können. Da es im Alter zu Veränderungen kommt, wie der Körper ein Medikament aufnimmt, verteilt, verstoffwechselt und schließlich ausscheidet, können andere Unverträglichkeiten, Risiken und Nebenwirkungen auftreten. Daher ist eine engmaschigere Überwachung im Alter notwendig.

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Trotz all dieser Fakten und Überlegungen ist es sehr wichtig zu betonen, dass der Umstand eines höheren Alters bei Auftreten der Erkrankung nicht dazu führen darf, dass bei einer aktiven MS keine Immuntherapie begonnen wird. Bei aktivem Verlauf der Erkrankung ist eine Immuntherapie unabhängig vom Alter anzuraten, die Auswahl muss neben der Aktivität der Erkrankung oben genannte Aspekte berücksichtigen. Hierbei handelt es sich immer um sehr individuelle Entscheidungen, in die MS-Kranke nach sehr ausführlicher und ggf. wiederholter Aufklärung mit einbezogen werden müssen.

Bei MS-Kranken im Alter mit rein schleichendem Fortschreiten der Behinderung nach schubförmigem Beginn (sekundär progrediente MS), jedoch fehlenden Hinweisen für eine entzündliche Aktivität in Form von Schüben und MRT-Aktivität ist eine Immuntherapie sehr kritisch zu sehen. Zugelassene Therapien stehen in dieser Konstellation nicht zur Verfügung.

Wie lange soll eine Immuntherapie im Alter fortgesetzt werden?

Zur Beendigung einer krankheitsmodifizierenden Immuntherapie im Alter gibt es keine allgemeingültigen Empfehlungen. Aufgrund der genannten Aspekte (Nutzen versus Risiken einer Immuntherapie, Besonderheiten im Alter) stellt diese Frage eine große Herausforderung dar.

Prinzipiell sind Immuntherapien im Falle einer guten Verträglichkeit und bei Stabilität der MS als Langzeittherapien zu sehen. Unabhängig vom Alter findet sich in der Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose die Empfehlung, dass bei Personen, die vor Einleiten der Immuntherapie eine geringe Krankheitsaktivität aufwiesen und unter der bisherigen Therapie mit einem Medikament der Wirksamkeitskategorie 1 keine Krankheitsaktivität zeigen, bei entsprechendem Wunsch des Behandelten nach einem Zeitraum von mindestens fünf Jahren eine Therapiepause erwogen werden kann. Eine Therapiepause setzt immer den Wunsch des Patienten voraus.

Anders sieht es für MS-Kranke aus, die höher wirksame Präparate der Wirksamkeitskategorie 2 oder 3 erhalten. Vor allem dann, wenn eine hohe Krankheitsaktivität vor Therapiebeginn vorlag. Die Therapiedauer bei Patienten ohne Krankheitsaktivität unter sogenannten S1P-Modulatoren (z.B. Fingolimod), Natalizumab oder B-Zell-Antikörpern muss individuell entschieden werden, da hierzu bisher keine Studien vorliegen. Beim Absetzen einiger Substanzen wie beispielsweise Natalizumab ist besondere Vorsicht geboten, da häufig eine frühe Rückkehr entzündlicher Aktivität beobachtet wird.

Je nach Wirkmechanismus kann bei höher effektiven Substanzen (Wirksamkeitskategorie 2 oder 3) und langjähriger Krankheitsstabilisierung bei Menschen im höheren Alter ein Wechsel auf eine Therapie der Wirksamkeitskategorie 1 erwogen werden. Hiernach sind engmaschige Kontrollen der Krankheitsaktivität, wie im Übrigen auch nach Absetzen einer Substanz, verpflichtend. Jegliche Entscheidung hinsichtlich einer Therapieunterbrechung oder einer Präparate-Änderung muss nach ausführlicher Aufklärung der Patienten unter ihrer Einbeziehung getroffen werden.

Die DISCOMS-Studie untersuchte MS-Patienten, die mindestens 55 Jahre alt waren und unter einer kontinuierlichen Immuntherapie keinen Schub in den letzten fünf Jahren und keine MRT-Aktivität in den letzten 3 Jahren gehabt hatten. Studienteilnehmer, die die Therapie beendet hatten, zeigten häufiger eine Krankheits-Aktivität als diejenigen, die die Therapie fortgeführt hatten.

Wann eine Therapie im Alter abgesetzt werden sollte, dafür gibt es kein definiertes Alter und auch keinen allgemeinen Konsens. Nach Meinung des Autors dieses Artikels kann dies bei einem stabilen Krankheitsverlauf von über fünf Jahren unter einer Therapie der Wirksamkeitskategorie 1 ab dem etwa 60. Lebensjahr zusammen mit dem Patienten in Betracht gezogen werden. Dieses Alter ist eine nur sehr grobe Orientierung, viele individuelle Faktoren können eine Rolle spielen, die die Entscheidung beeinflussen.

Rehabilitation und nichtmedikamentöse Therapieansätze

Bei einem zumindest nicht endgültig bewiesenen Stellenwert der Immuntherapie im Alter nimmt die Rehabilitationstherapie in dieser Patientengruppe einen besonderen Stellenwert ein, um Resilienz zu stärken, schleichender Progression entgegenzuwirken oder der spontan schlechteren Rückbildungstendenz nach Schüben besonders aktiv zu begegnen.

Herausforderungen und Anpassungen in Diagnostik, Therapie und Rehabilitation

Die klinische Präsentation einer LOMS ist häufiger von motorischen Defiziten geprägt. An 2. Stelle kommen sensible, dann Hirnstamm- und in nur 5-23 % der Fälle visuelle Symptome. Damit unterscheidet sich die Erstmanifestation deutlich von AOMS, die sich meist mit visuellen und sensiblen Symptomen erstmanifestiert. Ebenfalls distinkt zur AOMS ist das weibliche Geschlecht mit 65 % zwar immer noch häufiger betroffen. Es zeigt sich aber eine Verschiebung zuungunsten des männlichen Geschlechts. In nur knapp 50 % der Fälle (zum Vergleich 80-85 % bei AOMS) liegt eine schubförmige Verlaufsform (RRMS) vor, entsprechend häufiger eine primär progrediente (PPMS) oder sekundär progrediente (SPMS) Form. Schübe zeigen bei älteren Menschen mit MS eine deutlich schlechtere Rückbildung als bei jungen. Als Faustformel gilt, dass je 10 Jahre Alterszunahme das Risiko einer anhaltenden Verschlechterung nach einem Schub um das 1,3-Fache steigt.

Bei älteren Patientinnen und Patienten mit einer Zunahme von Medikamentenunverträglichkeit und aufgrund Polypharmazie von vermehrten Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln auszugehen. Bei älteren Patienten sollte daher ein ganzheitlicher Ansatz der Gesundheit im Blick behalten werden. Die bei der MS eingesetzten Medikamente können Komplikationen hervorrufen und eine Anpassung der Therapie von Begleiterkrankungen wie zum Beispiel Hypertonie oder Diabetes erfordern.

Ratschläge für ältere Menschen mit MS zur Verbesserung der Lebensqualität

Für Menschen, die mit Multipler Sklerose alt werden, gibt es viele Möglichkeiten, um Vorkehrungen zu treffen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Eine Möglichkeit könnte im beruflichen Bereich liegen, wo ein Berufswechsel sowohl hilfreich als auch existenzsichernd sein kann. Eine frühzeitige Behandlung der Erkrankung ist ebenso wichtig und kann durch verschiedene Therapien ergänzt werden. Sport, Physiotherapie und Schwimmen sind einige Beispiele für Aktivitäten, die das Immunsystem stärken können. Eine gesunde Ernährung spielt ebenfalls eine wesentliche Rolle bei der Stärkung des Immunsystems. Es ist auch wichtig, familiäre Strukturen entsprechend aufzubauen und Umbauten im Wohnbereich vorzunehmen. Dies ermöglicht es den Betroffenen, trotz der Progression der Erkrankung, in ihrem häuslichen Umfeld weiterleben zu können. Mit der Zeit lernen viele Menschen mit MS, mit ihrer Erkrankung umzugehen. Dies betrifft nicht nur sie selbst, sondern auch ihr Umfeld. Insgesamt führt dies zur Aufrechterhaltung der Teilhabe am Leben und zu einer entsprechenden Lebensqualität.

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