Die Diagnose von Erkrankungen, die der Multiplen Sklerose (MS) ähneln, erfordert eine sorgfältige Abwägung verschiedener Faktoren, um eine korrekte Diagnose und eine angemessene Behandlung zu gewährleisten. Zu diesen Erkrankungen gehören unter anderem die Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD), MOG-Enzephalomyelitis (MOGAD), akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) und andere entzündliche sowie nicht-entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS).
Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD)
Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) sind eine Gruppe seltener Autoimmunerkrankungen, die vor allem das Rückenmark und die Sehnerven betreffen. Der Name der Erkrankung leitet sich von den betroffenen Strukturen ab: Neuro (Nerv), Myelitis (Entzündung des Rückenmarks) und Optica (Nervus opticus, Sehnerv). NMOSD betrifft etwa 1-3 von 100.000 Menschen.
Pathophysiologie der NMOSD
Bei NMOSD greifen fehlgeleitete Abwehrzellen des Immunsystems fälschlicherweise körpereigenes Gewebe an, was zu Entzündungen und Gewebeschäden führt. Diese Schädigung betrifft hauptsächlich die Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn. Das Immunsystem bildet Autoantikörper, die sich gegen körpereigene Strukturen richten und dort Entzündungen auslösen. Einer dieser Autoantikörper bindet an Aquaporin 4 (AQP4), ein Eiweiß, das auf bestimmten Stützzellen in Gehirn und Rückenmark vorkommt, den Astrozyten. Die Bindung des Autoantikörpers an AQP4 führt zur Schädigung der Astrozyten.
Die wichtigsten Mechanismen der Krankheitsentstehung bei NMOSD sind:
- AQP4-Autoantikörper (AQP4-AK): Diese werden von B-Zellen gebildet und finden sich bei einem Großteil der NMOSD-Patienten. Interleukin-6 (IL-6) trägt dazu bei, dass vermehrt AQP4-AK gebildet werden.
- Blut-Hirn-Schranke: IL-6 begünstigt die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke, wodurch die AQP4-AK in das ZNS gelangen können.
- Komplementsystem: AQP4-AK binden an das AQP4 der Astrozyten im ZNS, was zur Aktivierung des Komplementsystems führt.
Verlauf und Symptome der NMOSD
NMOSD verläuft schubförmig, wobei ein Schub das plötzliche Auftreten von Beschwerden oder die Verschlechterung von bestehenden Symptomen bezeichnet. Die Beschwerden bilden sich nach einem Schub häufig nicht mehr vollständig zurück. Daher ist eine frühzeitige und wirksame Therapie wichtig, um einem nächsten Schub vorzubeugen. In der schubfreien Phase schreitet die Erkrankung in der Regel nicht voran.
Lesen Sie auch: MS-Medikamente im Detail erklärt
Die Symptome der NMOSD entstehen durch die Schäden an den Nervenzellen und können vielfältig sein, da die Erkrankung vor allem die Sehnerven und/oder das Rückenmark betrifft. Häufige Symptome sind:
- Sehstörungen: Entzündung der Sehnerven führt zu einer Verschlechterung der Sehschärfe bis hin zur Erblindung.
- Mobilitätseinschränkungen: Entzündung im Rückenmark kann eine Schwäche in Armen und Beinen bis hin zu Lähmungen verursachen.
- Sensibilitätsstörungen: Missempfindungen wie Kribbeln oder Taubheit in den Armen, Beinen oder dem Rumpf.
- Störungen der Blasen- oder Darmfunktion: Ständiger Harndrang oder Harninkontinenz.
- Area-postrema-Syndrom: Übelkeit und Erbrechen aufgrund der Beteiligung der Area postrema im Gehirn.
- Fatigue oder erhöhte Tagesschläfrigkeit: Ausgeprägte Erschöpfung, die die Lebensqualität stark einschränken kann.
- Kognitive Beeinträchtigungen: Probleme mit dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit oder der Konzentration.
- Schmerzen: Nervenschmerzen (neuropathische Schmerzen) in Form von brennenden oder stechenden Schmerzen.
- Sprachstörungen und epileptische Anfälle: Beeinträchtigung der sprachlichen Kommunikation oder das Auftreten von Anfällen.
- Schwindel und Kopfschmerzen: Als Folgeerscheinung der Entzündung.
Diagnose der NMOSD
Die Diagnose der NMOSD erfolgt anhand verschiedener Untersuchungen:
- Ausführliches Gespräch (Anamnese): Überblick über die Beschwerden, Krankheitsgeschichte, Vorerkrankungen und Medikamente.
- Körperliche Untersuchung: Untersuchung der Augen und der Nervenfunktion, einschließlich Sehfähigkeit, Reflexe, Muskelkraft und Bewegungsabläufe.
- Blutuntersuchung: Analyse bestimmter Blutwerte, die den Verdacht auf NMOSD erhärten oder auf eine andere Erkrankung hindeuten können.
- Test auf AQP4-Autoantikörper: Nachweis von AQP4-Autoantikörpern im Blut. Bei positivem Befund gilt die Diagnose als gesichert, wenn gleichzeitig ein NMOSD-typisches Symptom vorliegt. Das Fehlen der Autoantikörper schließt die NMOSD jedoch nicht aus.
- MRT: Detaillierte Bilder von Gehirn und Rückenmark, um NMOSD-typische Entzündungsherde (Läsionen) festzustellen.
- Untersuchung des Nervenwassers (Liquor-Diagnostik): Analyse des Nervenwassers, das Gehirn und Rückenmark umspült.
Der AQP4-Autoantikörper-Status wird im Serum bestimmt und ist entscheidend für die Diagnose und die anschließende medikamentöse Langzeittherapie. Betroffene mit nachweisbaren Autoantikörpern werden als "AQP4-Ak-Serostatus-positiv" oder "seropositiv" bezeichnet, während Betroffene ohne diese Autoantikörper als "Serostatus-negativ" oder "seronegativ" gelten.
Therapie der NMOSD
Die Therapie der NMOSD zielt darauf ab, akute Schübe zu behandeln und das Auftreten weiterer Schübe zu verhindern.
- Schubtherapie: Hochdosierte Kortisontherapie (intravenös), Plasmapherese oder Immunadsorption bei schweren Schüben.
- Dauertherapie: Immunsuppressiva wie Rituximab, Eculizumab, Satralizumab, Inebilizumab oder Ravulizumab, um das Immunsystem zu regulieren und Schübe zu verhindern.
Zusätzlich können symptomatische Therapien eingesetzt werden, um die bleibenden Symptome der NMOSD zu lindern. Dazu gehören Physio- und Ergotherapie, Logopädie und neuropsychologische Therapie.
Lesen Sie auch: Wie man MS vorbeugen kann
Multiple Sklerose (MS)
Die Multiple Sklerose (MS) ist ebenfalls eine Autoimmunerkrankung, die Gehirn und Rückenmark betrifft und ähnliche Symptome wie NMOSD verursachen kann. Die Abgrenzung der NMOSD von der MS ist wichtig, da einige MS-Medikamente bei NMOSD unwirksam oder schädlich sein können.
Unterscheidungsmerkmale zwischen NMOSD und MS
- Autoantikörper gegen AQP4: Während 80 Prozent der Patientinnen und Patienten mit NMOSD diese aufweisen, fehlen sie bei MS-Patientinnen und Patienten.
- MRT-Befunde: NMOSD-typische Entzündungsherde sind größer und zusammenhängender, vor allem in den Sehnerven und dem Rückenmark. Bei MS finden sich eher viele kleine Entzündungsherde in Gehirn und Rückenmark.
- Nervenwasseruntersuchung: Bei der NMOSD befinden sich vermehrt Zellen im Nervenwasser, während es bei der MS bestimmte Eiweiße (oligoklonale Banden) sind.
Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)
ADEM tritt bevorzugt bei Kindern im Alter von 5-8 Jahren auf. Mehr als 90 % der Patienten haben zuvor eine Infektion durchgemacht, etwa 5 % sind im Monat zuvor geimpft worden. Bei Patienten mit ADEM tritt häufig vor Krankheitsbeginn eine Prodromalphase mit Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen und starkem Krankheitsgefühl auf. Über Stunden bis wenige Tage entwickelt sich dann ein multifokales neurologisches Krankheitsbild abhängig von der Lokalisation der Läsionen im ZNS. Häufige klinische Symptome sind Hemiparese, Ataxie, Hirnnervenlähmungen und Optikusneuritiden, seltener auch Krampfanfälle und Aphasie. Im Unterschied zur MS gehört zur ADEM eine Enzephalopathie mit Verwirrtheit, Irritabilität, Lethargie oder Koma. Eine sichere Unterscheidung zwischen MS und ADEM erlaubt dieses Kriterium aber nicht.
In der zerebralen MRT findet sich ein vielgestaltiges Muster von hyperintensen T2-Läsionen, die alle Regionen des ZNS einschließlich der Basalganglien und des Rückenmarks betreffen können. Im Gegensatz zu den MS-Läsionen sind diese meist großflächig, und schlecht begrenzt. Während bei der MS typischerweise nur einzelne Läsionen Gadolinium aufnehmen, ist dies bei der ADEM meist entweder bei allen oder keinen der Läsionen der Fall. Im Liquor findet sich häufig eine lymphozytäre Pleozytose und Eiweißerhöhung, oligoklonale Banden sind nur selten nachweisbar.
Weitere Differentialdiagnosen
Neben NMOSD, MS und ADEM gibt es weitere Krankheiten, die für eine sichere Diagnose der NMOSD ausgeschlossen werden müssen:
- Infektionen
- Andere Autoimmunerkrankungen
- Zerebrale Vaskulitiden
- Metabolische Erkrankungen
- Neoplastische Ursachen
- Traumatische Ursachen
- Hereditäre Erkrankungen
- Raumforderungen mit Druck auf den Nervus opticus
Bedeutung der Differentialdiagnose
Die Differentialdiagnose von Multipler Sklerose-ähnlichen Erkrankungen ist von großer Bedeutung, da die verschiedenen Erkrankungen unterschiedliche Therapieansätze erfordern. Eine genaue Diagnose ermöglicht eine gezielte Behandlung, die den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern kann.
Lesen Sie auch: MS und Rückenschmerzen: Ein Überblick
Umgang mit der Diagnose
Die Diagnose einer chronisch-entzündlichen Erkrankung des ZNS kann die Lebensqualität deutlich einschränken. Betroffene stellen häufig schon früh ihre Lebens- und Familienplanung sowie ihre berufliche Zukunft infrage. Familie, Freundeskreis und das Behandlungsteam bilden in dieser unsicheren Zeit ein tatkräftiges Netzwerk, um Sorgen und Nöte aufzufangen. Es ist wichtig, aktiv zu bleiben, Bewegung in den Alltag einzubauen und eine ausgewogene Ernährung sicherzustellen.
tags: #Multiple #Sklerose #ähnliche #Krankheiten #Differentialdiagnose