Multiple Sklerose und Blasenentzündung: Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn, Rückenmark und Sehnerven umfasst. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der der Körper die Nervenhüllen (Myelin) angreift, was zu Entzündungen und Vernarbungen führt. Die Nervensignale werden dadurch verlangsamt oder blockiert, was zu vielfältigen Symptomen führen kann. Blasenfunktionsstörungen sind ein häufiges und oft unterschätztes Symptom von MS, das die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen kann.

Blasenfunktionsstörungen bei MS: Ein Überblick

Blasenfunktionsstörungen treten bei bis zu 80 % der MS-Patienten im Laufe ihrer Erkrankung auf. Ursächlich sind meist Schädigungen im Rückenmark, die die Steuerung der Blase beeinträchtigen. Diese Schädigungen führen zu neurogenen Blasenstörungen, bei denen die Zusammenarbeit zwischen Nerven und Blasenmuskulatur gestört ist.

Die Blase kann bei MS-Patienten sogar das erste Organ sein, an dem sich die Erkrankung bemerkbar macht. In etwa 2 % der Fälle sind neurogene Blasenfunktionsstörungen das alleinige Erstsymptom und in etwa 10 % ein wesentlicher Teil der Erstsymptomatik. Nach etwa zehn Jahren Erkrankungsdauer haben mehr als zwei Drittel der MS-Patienten mit Blasenfunktionsstörungen zu kämpfen.

Ursachen von Blasenentzündungen bei MS

Harninkontinenz oder eine erschwerte bzw. unvollständige Entleerung der Blase sind Risikofaktoren für wiederkehrende Harnwegsinfekte. Das liegt daran, dass die Blase nicht vollständig entleert wird und Urin für einen längeren Zeitraum in der Blase verbleibt. Daher wird ein ideales Umfeld geschaffen, in dem Bakterien wachsen und eine Infektion des Harntrakts verursachen können.

Neurogene Blasenstörung

Bei MS können verschiedene neurogene Blasenstörungen auftreten. Am häufigsten ist die überaktive Blase (30 bis 90 %). Eine Beeinträchtigung der Nerven kann dazu führen, dass sich die Blase bereits bei kleinsten Urinmengen übermäßig anspannt und verkrampft. Betroffene müssen dann häufiger nachts zur Toilette, scheiden jedoch immer nur kleine Mengen Urin aus. Ist der Blasenschließmuskel betroffen, entleert sich die Blase unwillkürlich.

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Eine gestörte Blasenentleerung ist seltener (5 bis 20 %). Durch eine verminderte Kontraktion der Blase kann es dabei zu einer verzögerten und inkompletten Entleerung der Blase kommen. Wird die Blase schließlich zu voll, kann sie „überlaufen“. Bereits ein leichter Husten verursacht dann möglicherweise einen unkontrollierten Urinverlust (Inkontinenz). Durch die ständige Überdehnung der Blase nehmen Harndrang, Inkontinenz oder Harnverhalt immer weiter zu.

Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie

Mit bis zu 30 Prozent kommt es häufig zur sogenannten Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie. Diese neuromuskuläre Funktionsstörung wird durch Entmarkungsherde im Rückenmark verursacht, die zu einer mangelnden Koordination der Austreibermuskulatur der Blase und dem Schließmuskel führen. Der Schließmuskel hindert den Urin normalerweise am unerwünschten Austritt. Anstatt sich zu entspannen, treten beim äußeren Schließmuskel spastische Kontraktionen auf. Mit der gleichzeitigen Kontraktion der Blasenmuskulatur führt das zu einem gestörten Harnabfluss und die Blase kann nicht vollständig entleert werden. Eine andauernde Überdehnung der Blase kann zum Verlust der Elastizität und Kontraktionsfähigkeit führen.

Weitere Risikofaktoren

Neben den neurogenen Blasenstörungen gibt es weitere Faktoren, die das Risiko für Harnwegsinfekte bei MS-Patienten erhöhen können:

  • Restharn: Verbleibt nach dem Wasserlassen Urin in der Blase (Restharnbildung), bietet dies einen idealen Nährboden für Bakterien.
  • Stuhlinkontinenz: Unkontrollierter Stuhlabgang kann das Risiko für Harnwegsinfekte erhöhen.
  • Mangelnde Hygiene: Falsches Abwischen nach dem Toilettengang (von hinten nach vorne) kann Bakterien in die Harnröhre transportieren.
  • Dehydration: Eine unzureichende Flüssigkeitszufuhr kann zu konzentriertem Urin führen, der das Wachstum von Bakterien begünstigt.
  • Voller Darm: Ein voller Darm kann auf die Blase drücken und die vollständige Entleerung erschweren.

Symptome einer Blasenentzündung

Eine Blasenentzündung äußert sich durch folgende Symptome:

  • Schmerzen und Brennen beim Wasserlassen
  • Häufiger Harndrang
  • Schmerzen im Unterbauch durch Verkrampfung der Blasenmuskulatur
  • Trüber oder übelriechender Urin
  • Fieber (in manchen Fällen)

Bleiben die Blasenentzündungen unbehandelt, können sie andere MS-Symptome wie Spastiken oder Fatigue negativ beeinflussen. Immer wieder auftretende Harnwegsinfekte gelten - wie andere Infektionen auch - als mögliche Auslöser für eine Verschlechterung bzw. für einen Schub der Multiplen Sklerose. Blasenentzündungen, die mit Fieber einhergehen, können das Risiko erhöhen, dass sich die MS über einen längeren Zeitraum hinweg verschlechtert.

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Diagnose von Blasenfunktionsstörungen und Harnwegsinfekten

Eine frühzeitige und sorgfältige Abklärung von Blasenfunktionsstörungen ist bei MS-Patienten entscheidend. Es ist wichtig, dass MS-Patienten sich schon im Frühstadium fachärztlich betreuen lassen. Um die Ursache der Blasenprobleme zu ermitteln, können verschiedene Untersuchungen durchgeführt werden:

  • Anamnese: Der Arzt erfragt die Krankengeschichte und die aktuellen Beschwerden des Patienten.
  • Körperliche Untersuchung: Der Arzt untersucht den Patienten, um mögliche Ursachen für die Blasenprobleme zu finden.
  • Urinuntersuchung: Der Urin wird auf Bakterien und andere Anzeichen einer Infektion untersucht.
  • Urodynamische Untersuchung: Diese Untersuchung misst die Funktion der Blase und des Schließmuskels.
  • Tagebuch: Führen Sie ein Tagebuch darüber, wann und wie oft Sie zur Toilette müssen und welche Symptome auftreten. Anhand dieser Fragen können Sie Abweichungen in der Häufigkeit und Art des Wasserlassens erkennen.

Besteht aufgrund der Antworten der betroffenen Person der Verdacht auf eine Blasenstörung, sollte diese am besten eine:n Urolog:in aufsuchen. Auch eine MS-Pflegekraft kann hier einen guten ersten Anlaufpunkt bieten.

Behandlung von Blasenfunktionsstörungen und Harnwegsinfekten

Die Behandlung von Blasenfunktionsstörungen bei MS zielt darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Es gibt verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, die je nach Art der Blasenstörung und der individuellen Bedürfnisse des Patienten eingesetzt werden können:

Medikamentöse Therapie

  • Anticholinergika: Diese Medikamente hemmen die Kontraktion des Blasenmuskels und reduzieren die Überaktivität der Blase. Sie unterdrücken die Wirkung des Botenstoffs Acetylcholin im parasympathischen Nervensystem, das u.a. für die Kontraktion des Blasenmuskels verantwortlich ist. Da diese Medikamente nicht selektiv auf das parasympathische Nervensystem der Blase wirken, verursachen sie allerdings oft Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit.
  • Antibiotika: Bei einer bakteriellen Blasenentzündung werden Antibiotika zur Bekämpfung der Infektion eingesetzt.
  • Andere Medikamente: Je nach Art der Funktionsstörung können weitere Wirkstoffe zum Einsatz kommen, z. B. Alphablocker und gegebenenfalls Hormone.

Invasive Therapieverfahren

  • Injektionsbehandlungen mit Botox: Botox kann in die Blasenmuskulatur injiziert werden, um die Überaktivität der Blase zu reduzieren.
  • Sakrale Neuromodulation: Dabei handelt es sich um eine Art Blasenschrittmacher bzw. ein Schrittmachersystem, das die Sakralnerven bzw. die Nerven, die die Blase steuern, stimuliert.
  • Selbstkatheterisierung: Bei einer Blasenentleerungsstörung kann die Selbstkatheterisierung helfen, die Blase vollständig zu entleeren und Restharn zu vermeiden. Der intermittierende Selbstkatheterismus (ISK) ist in vielen Fällen das Mittel der Wahl für Blasenmanagement und die Behandlung von Restharn.

Weitere Maßnahmen

  • Beckenbodentraining: Beckenbodentraining kann die Muskulatur stärken und die Blasenfunktion verbessern. Forscher aus Brasilien belegen, dass Beckenbodentraining die Behandlung einer neurogenen Blasenstörung unterstützen kann.
  • Regelmäßige Toilettengänge: Regelmäßige Toilettengänge und das Nicht-Unterdrücken des Harndrangs sind wichtig, um die Blase gut zu spülen.
  • Flüssigkeitszufuhr: Ausreichende Flüssigkeitszufuhr (mindestens 1,5 Liter pro Tag) ist wichtig, um die Blase zu spülen und einer Dehydration vorzubeugen.
  • Ernährung: Eine ballaststoffreiche Ernährung mit Vollkornprodukten, Obst und Gemüse kann Verstopfung vorbeugen, die sich negativ auf die Blasenfunktion auswirken kann.
  • Hygienemaßnahmen: Achten Sie auf gute Hygienepraktiken, insbesondere beim Abwischen nach dem Toilettengang (von vorne nach hinten).
  • Inkontinenzhilfsmittel: Inkontinenzhilfsmittel wie Vorlagen, spezielle Slips oder Tropfenfänger können Urin auffangen und speichern. Zudem stehen ableitende Inkontinenzprodukte zur Verfügung wie Kondom-Urinale oder Einmal- sowie Dauer-Katheter.

Hilfsmittel und Unterstützung

  • Euro-WC-Schlüssel: Der Euro-WC-Schlüssel öffnet über 12.000 Behindertentoiletten in Europa, beispielsweise auf Autobahn-Rastplätzen, in Fußgängerzonen, Museen, Bahnhöfen und Behörden. Menschen mit MS können den Schlüssel mit einem ärztlichen Nachweis u. a. beim Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e. V.
  • MS-Schwester: Eine MS-Schwester kann Patienten nicht nur über ihre Gedanken und Sorgen im Umgang mit diesen schambesetzten Themen sprechen. Eine qualifizierte Beratung und Behandlung durch Experten auf diesem Gebiet unterstützen dabei, die Lebensqualität und Selbstständigkeit zu erhalten.

Prävention von Harnwegsinfekten

Um Harnwegsinfekten vorzubeugen, können MS-Patienten folgende Maßnahmen ergreifen:

  • Ausreichend trinken: Eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr beugt Dehydrierung vor, die zu einem konzentrierteren Urin führen kann - und der wiederum bietet ein gutes Umfeld für Infektionen und sollte vermieden werden.
  • Regelmäßige Blasenentleerung: Vermeiden Sie es, den Harndrang zu unterdrücken und entleeren Sie die Blase regelmäßig.
  • Gute Hygiene: Achten Sie auf eine sorgfältige Intimhygiene.
  • Behandlung von Verstopfung: Verstopfung kann die Blasenfunktion beeinträchtigen und das Risiko für Harnwegsinfekte erhöhen.
  • Intermittierender Selbstkatheterismus (ISK): Bei Restharnbildung kann der ISK helfen, die Blase vollständig zu entleeren.
  • Vermeidung von übervoller Blase: Vermeiden Sie Situationen, in denen die Blase übervoll wird.

Die Rolle des Darms

Blasen- und Darmgesundheit hängen zusammen. Unkontrollierter Verlust von Stuhl (Stuhlinkontinenz) erhöht das Risiko für HWIs. Darüber hinaus kann ein voller Darm auf die Blase drücken. Das heißt, die Blase kann weniger Urin speichern und lässt sich nur schwerer vollständig entleeren.

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Die Hinweise mehren sich, dass zwischen MS und Darmbakterien ein Zusammenhang bestehen kann. Die Bakterien-Mischung im Darm heißt Mikrobiom oder Darmflora. Dass Darmflora und Immunsystem generell zusammenhängen, gilt als sehr wahrscheinlich. Allerdings befindet sich die Forschung speziell bei der Frage vom Verhältnis Mikrobiom - Multiple Sklerose noch sehr am Anfang. Und bevor Sie Nahrungsergänzungsmittel einnehmen oder eine Diät machen, sprechen Sie bitte unbedingt mit Ihren Behandler:innen. Niemand kann zurzeit zuverlässig einschätzen, ob bestimmte Substanzen oder Diäten das Verhältnis Darmflora - MS in eine günstige oder eher ungünstige Richtung verändern.

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