Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die Markscheiden der Nervenfasern im Zentralnervensystem (ZNS) angreift. Die Ursachen für diese fehlgeleitete Immunreaktion sind komplex und noch nicht vollständig verstanden. Die Darmbakterienforschung in Bochum hat in den letzten Jahren jedoch vielversprechende Erkenntnisse geliefert, die neue Therapieansätze eröffnen.
Die Rolle des Darm-Mikrobioms bei Multipler Sklerose
Das Darm-Mikrobiom, die Gesamtheit aller Mikroorganismen im Darm, spielt eine entscheidende Rolle für die Gesundheit des Menschen. Es beeinflusst nicht nur die Verdauung und die Aufnahme von Nährstoffen, sondern auch das Immunsystem. Veränderungen in der Zusammensetzung und Funktion des Darm-Mikrobioms können daherAutoimmunerkrankungen wie MS beeinflussen.
Die Interaktion zwischen der Nahrung, den Darmbakterien, deren Stoffwechselprodukten und dem Immunsystem in der Darmwand ist von zentraler Bedeutung. "So können die Darmbakterien direkt und indirekt Einfluss auf anatomisch entfernte Strukturen wie das Gehirn nehmen", erklärt Aiden Haghikia, Leitender Oberarzt in der Neurologie.
Veränderungen des Darm-Mikrobioms bei MS-Patienten
Studien haben gezeigt, dass die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms bei MS-Patienten im Vergleich zu gesunden Menschen verändert ist. Insbesondere wurde ein Mangel an bestimmten Bakterien festgestellt, die kurzkettige Fettsäuren (SCFAs) produzieren.
Kurzkettige Fettsäuren und ihre Bedeutung für das Immunsystem
Kurzkettige Fettsäuren wie Propionsäure, Buttersäure und Essigsäure sind Stoffwechselprodukte von Darmbakterien, die durch die Fermentation von Ballaststoffen entstehen. Sie dienen nicht nur als Energiequelle für die Darmzellen, sondern haben auch immunmodulatorische Eigenschaften.
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Propionsäure beispielsweise kann die Bildung und Funktion von regulatorischen T-Zellen (Tregs) fördern. Tregs sind eine Untergruppe von Immunzellen, die überschießende Entzündungsreaktionen unterdrücken und Autoimmunreaktionen verhindern können. "Diese Zellen beenden überschießende Entzündungsreaktionen und reduzieren im Kontext von Autoimmun-Erkrankungen wie der MS auto-immune Zellen", so Prof. Dr. Ralf Gold, Direktor der Neurologie im St. Josef Hospital.
Propionsäuremangel bei MS-Patienten
Die Forscherinnen und Forscher der Ruhr-Universität Bochum konnten erstmals einen Mangel an Propionsäure im Stuhl und Serum von MS-Patienten nachweisen. Dieser Mangel war in der frühesten Phase der Erkrankung am stärksten ausgeprägt. Die Ergebnisse wurden in Kooperation mit dem Max-Delbrück-Centrum (MDC) Berlin und den Ernährungswissenschaften der Universität Halle-Wittenberg erzielt.
Therapieansätze mit Propionsäure
Die Erkenntnisse über die Bedeutung von SCFAs, insbesondere Propionsäure, für das Immunsystem bei MS haben zu neuen Therapieansätzen geführt.
Propionat-Gabe zur Förderung regulatorischer T-Zellen
In einer Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Bar-Ilan University in Israel, die ein Darm-Modell zur funktionellen Analyse des Mikrobioms entwickelt hatten, zeigte sich, dass die Veränderung der Funktion der Bakterien im Darm als Folge der Propionat-Gabe die entscheidende Rolle bei der Entstehung von neuen regulatorischen Zellen spielt.
Die Verabreichung von Propionsäure oder ihrem Salz Propionat führte in Studien zur vermehrten Entstehung und gesteigerten Funktion von regulatorischen Zellen des Immunsystems. "Das Ergebnis unserer Studien zeigt: Wir können mit relativ einfachen Maßnahmen Einfluss nehmen", erklärt Aiden Haghikia.
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Klinische Studien mit Propionsäure bei MS-Patienten
In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass die Gabe von Propionsäure zusätzlich zu MS-Medikamenten langfristig die Schubrate und das Risiko einer Behinderungszunahme reduzieren kann. Zudem weisen erste Kernspin-Untersuchungen im Verlauf darauf hin, dass die Propionsäure möglicherweise den Gehirnschwund als Zeichen eines Nervenzell-Untergangs reduziert. Die Ergebnisse wurden in der renommierten Fachzeitschrift "Cell" veröffentlicht.
Ernährungsempfehlungen für MS-Patienten
Aus den Ergebnissen der Studien lassen sich auch Ernährungsempfehlungen für MS-Patienten ableiten. Eine überwiegend vegetarische, ballaststoffreiche Diät, die reich an Hülsenfrüchten und Gemüse ist und auf Ei und Fisch als Proteinquellen setzt, kann die Produktion von SCFAs im Darm fördern und somit das Immunsystem positiv beeinflussen.
Weitere Forschungsansätze
Neben der Propionsäure werden auch andere Faktoren untersucht, die das Immunsystem bei MS beeinflussen können.
Einfluss von langkettigen Fettsäuren und Kochsalz
In einer engen Kooperation zwischen den Neurologischen Kliniken der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen und der Ruhr-Universität Bochum (St. Josef-Hospital) wird die Rolle von Fettsäuren für die Entstehung von autoreaktiven Zellen bei MS untersucht. Prof. Dr. med. Ralf Linker aus Erlangen: „Nach unseren Ergebnissen, nach denen höhere Kochsalzgehalte in der Nahrung die Multiple Sklerose befördern, fokussieren wir uns jetzt auf den Einfluss von langkettigen Fettsäuren aus der Nahrung.“
Das Protein Smad7 als potenzielles Therapieziel
Ein Forschungsteam der Ruhr-Universität Bochum hat in der Zeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) einen weiteren potenziellen Faktor beschrieben, der das Immunsystem bei MS beeinflussen kann. Die Mediziner zeigten im Tiermodell, dass das Protein Smad7 Immunzellen im Darm mobilisiert, welche dann Entzündungen im Nervensystem auslösen. Analysen von Darmgewebeproben von MS-Patienten bestätigten die Ergebnisse. "Für andere Autoimmunerkrankungen wie Morbus Crohn und weitere entzündliche Darmerkrankungen ist bereits bekannt, dass Smad7 ein vielversprechendes Therapieziel darstellt; unsere Ergebnisse legen nahe, dass das auch bei Multipler Sklerose so ist", sagt Ingo Kleiter.
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Propionat bei Polyneuropathie
Propionat schützt die Nervenzellen und baut sie auf. Diese positive Wirkung tritt nicht nur im Gehirn ein, wie Forschungsergebnisse der Universitätsklinik für Neurologie im St. Josef-Hospital bereits früher im Zusammenhang mit Multipler Sklerose gezeigt haben, sondern auch in den Nerven der Arme und Beine. Schäden können dort beispielsweise durch CIDP hervorgerufen werden, einer chronisch entzündlichen Polyneuropathie. Eine Forschergruppe um Dr. Thomas Grüter und Priv. Doz. Dr. CIDP gehört zu den seltenen Erkrankungen und führt durch eine fehlgeleitete Reaktion des Immunsystems zu Entzündungen im Nervensystem. Gefühlsstörungen, Schmerzen und Muskelschwäche in den Armen und Beinen sind die Folge davon. Die Ummantelung der Nerven wird abgebaut, sodass die Nervenfasern absterben. Propionsäure entsteht im Darm beim Abbau von Ballaststoffen. Die Versuche ergaben nun, dass die Gabe von Propionat einerseits zu einem deutlich geringeren Absterben von Nervenscheiden führte, andererseits die Regeneration geschädigter Nervenzellen begünstigte. Aufbauend darauf hat nun im St. Josef-Hospital (Katholisches Klinikum Bochum) eine klinische Studie unter der Koordination von Priv. Doz. Dr.
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