Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die durch Entzündung, Demyelinisierung und neuroaxonale Degeneration gekennzeichnet ist. Virusinfektionen werden schon seit Längerem als mögliche Auslöser der Autoimmunerkrankung MS diskutiert. In den letzten Jahren haben Studien den Verdacht erhärtet, dass Herpesviren eine Rolle bei der Entstehung von MS spielen könnten.
Herpesviren als mögliche MS-Auslöser
Herpesviren sind eine Familie von DNA-Viren, die beim Menschen eine Vielzahl von Krankheiten verursachen können, darunter Lippenherpes, Genitalherpes, Windpocken und Gürtelrose. Sie haben die bemerkenswerte Fähigkeit, in den Zellen des Wirts latent zu persistieren und unter bestimmten Bedingungen reaktiviert zu werden. Virusinfektionen werden schon seit Längerem als mögliche Auslöser der Autoimmunerkrankung MS diskutiert. Im Verdacht steht dabei meist das Epstein-Barr-Virus (EBV), der Erreger des Pfeifferschen Drüsenfiebers, das zu den Herpesviren gehört.
Das Epstein-Barr-Virus (EBV) und MS
Das Epstein-Barr-Virus (EBV) ist eines der am weitesten verbreiteten Herpesviren beim Menschen. Mehr als 90 % der Menschen infizieren sich im Laufe ihres Lebens mit EBV, meist ohne Symptome zu entwickeln. Bei Jugendlichen und Erwachsenen kann die Erstinfektion mit EBV das Pfeiffersche Drüsenfieber verursachen.
Eine große Längsschnittstudie, die den Gesundheitsstatus von zehn Millionen jungen Erwachsenen über einen Zeitraum von 20 Jahren verfolgte, ergab, dass vor fast jeder MS-Erkrankung eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus auftrat. Mit einer Epstein-Barr-Virus-Infektion ging ein 32-fach erhöhtes Risiko einher, an multipler Sklerose zu erkranken, während andere Viren, wie das zum Vergleich herangezogene Zytomegalievirus, keinen Einfluss hatten.
Humanes Herpesvirus 6 (HHV-6) und MS
Neben EBV wird auch das humane Herpesvirus 6 (HHV-6) als möglicher MS-Auslöser diskutiert. Von HHV-6 gibt es verschiedene Spezies, nämlich HHV-6A und HHV-6B. Letzteres ist der Erreger des Dreitagefiebers, einer sehr ansteckenden, aber harmlosen Kinderkrankheit, die mit Fieber und Hautausschlag einhergeht.
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Forscher um Dr. Elin Engdahl vom Karolinska Institut konnten zeigen, dass HHV-6A höchstwahrscheinlich das MS-Erkrankungsrisiko erhöht, nicht aber HHV-6B. Sie untersuchten Blutproben von MS-Patienten und Gesunden auf Antikörper gegen das Immediate Early Protein 1A (IE1A) beziehungsweise 1B (IE1B), die der Körper als Reaktion auf Infektionen mit HHV6A- beziehungsweise HHV6B-Viren bildet. Antikörper gegen IE1A wurden bei MS-Patienten deutlich häufiger gefunden als bei den Kontrollpersonen (Odds Ratio 1,55). In einer Subgruppe von knapp 500 Personen, deren Blutproben vor Krankheitsbeginn gewonnen worden waren, war das Risiko einer künftigen MS-Erkrankung mehr als verdoppelt, wenn sie IE1A-Antikörper aufwiesen (OR 2,22). Je jünger die Personen waren, wenn sie sich mit dem Virus infizierten, umso höher war das Risiko, dass sie später an MS erkrankten. Antikörper gegen IE1B, also der indirekte Nachweis einer durchgemachten HHV6B-Infektion, waren dagegen nicht mit einem erhöhten MS-Erkrankungsrisiko assoziiert.
Fanden sich im Blut zusätzlich zu Anti-IE1A-Antikörpern auch Antikörper gegen das Epstein-Barr-Virus, bedeutete das einen zusätzlichen Anstieg des MS-Risikos. Die Forscher werten dies als Hinweis darauf, dass eine MS-Erkrankung das Resultat des Zusammentreffens mehrerer Virusinfektionen sein könnte.
Wie könnten Herpesviren MS auslösen?
Der genaue Mechanismus, wie Herpesviren MS auslösen könnten, ist noch nicht vollständig geklärt. Es gibt verschiedene Hypothesen, die derzeit untersucht werden:
- Molekulare Mimikry: Eine fehlgeleitete Immunantwort gegen das Virus könnte dazu führen, dass sich die Körperabwehr gegen Bestandteile von Nervenbahnen richtet.
- Infektion von B-Zellen: EBV infiziert B-Zellen und verbleibt dort lebenslang. Diese infizierten B-Zellen könnten im Gehirn von MS-Patienten eine zentrale Rolle bei der Pathophysiologie der Erkrankung spielen.
- Schwächung der Blut-Hirn-Schranke: Herpesviren könnten die Blut-Hirn-Schranke schwächen und eine Autoimmunität auslösen.
- Eiweißablagerungen: Herpesviren könnten der Keim für die Entstehung von Eiweißablagerungen sein, die bei Alzheimer eine Rolle spielen.
Weitere Risikofaktoren für MS
Neben Virusinfektionen gibt es weitere Faktoren, die das Risiko für MS erhöhen können:
- Genetische Prädisposition: Bestimmte Genvarianten, wie z. B. HLA-DR15, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, an MS zu erkranken.
- Geringe Sonnenexposition: Ein niedriger Vitamin-D-Spiegel, der durch geringe Sonnenexposition verursacht werden kann, wird mit einem erhöhten MS-Risiko in Verbindung gebracht.
- Hohe Cholesterinwerte: Hohe Cholesterinwerte und Rauchen können das Risiko für MS erhöhen.
- Weitere Viren: Neben EBV und HHV-6 könnten auch andere Viren eine Rolle bei der Entstehung von MS spielen.
Man geht heute davon aus, dass nicht ein Faktor alleine eine Multiple Sklerose auslöst. Vielmehr scheint es immer eine Kombination aus genetischer Prädisposition und mindestens einem weiteren im späteren Leben erworbenen Umweltfaktor zu sein.
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Prävention und Therapie
Da der genaue Mechanismus, wie Herpesviren MS auslösen, noch nicht vollständig geklärt ist, gibt es derzeit keine spezifischen Präventions- oder Therapiemaßnahmen, die auf Herpesviren abzielen. Eine Impfung gegen EBV wäre zwar die ultimative Lösung, um Multiple Sklerose zu verhindern - aber nur dann, wenn sie zuverlässig und zudem dauerhaft vor einer Infektion schützt. Selbst in diesem Fall würde es Jahrzehnte dauern, bis abschließend klar wäre, ob ein solcher Impfstoff tatsächlich einen Schutz vor MS bewirke.
Sich gegen Gürtelrose impfen zu lassen - die STIKO empfiehlt den Totimpfstoff Shingrix für alle Personen ab 60 Jahren -, ist trotzdem sinnvoll. »Aber nicht wegen der Demenz, sondern weil die Erkrankung richtig unangenehm sein kann«, erklärt Oliver Goldhardt.
Es gibt derzeit keine Belege, dass eine Impfung oder antivirale Medikamente gegen Alzheimerdemenz wirken.
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