Multiple Sklerose und Durchblutungsstörungen: Ein komplexer Zusammenhang

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die durch Entzündung, Demyelinisierung und Neurodegeneration gekennzeichnet ist. Während lange Zeit das Immunsystem im Fokus der Forschung stand, rückt zunehmend die Bedeutung von Gefäßstörungen für den Krankheitsverlauf in den Vordergrund. Dieser Artikel beleuchtet den Zusammenhang zwischen MS und Durchblutungsstörungen und geht auf mögliche Ursachen, Auswirkungen und Therapieansätze ein.

Was ist Multiple Sklerose?

Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinscheiden angreift, die die Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark umgeben. Diese Schädigung der Myelinscheiden stört die Reizweiterleitung und kann zu einer Vielzahl von neurologischen Symptomen führen. Die Symptome und der Verlauf von MS können sehr unterschiedlich sein und hängen davon ab, wo genau Entzündungen im Nervensystem auftreten. Zu den häufigsten Symptomen gehören Müdigkeit, Sehstörungen, Muskelschwäche, Koordinationsprobleme, Taubheitsgefühle, Konzentrationsschwierigkeiten und Schwindel. Typisch für MS ist, dass die Krankheit in Schüben verläuft. Da die genauen Ursachen bisher nicht bekannt sind, gibt es leider noch keine Heilungsmöglichkeiten - allerdings zahlreiche Möglichkeiten, um die Erkrankung einzudämmen oder zumindest zu lindern.

Durchblutungsstörungen bei Multipler Sklerose

Das Raynaud-Syndrom

Ein bekanntes Beispiel für Durchblutungsstörungen im Zusammenhang mit MS ist das Raynaud-Syndrom. Beim Raynaud-Syndrom kommt es zu einer anfallsartigen Verengung der Blutgefäße, meist in den Fingern oder Zehen, seltener auch an den Zehen. Dies führt zu einer vorübergehenden Unterbrechung der Blutzufuhr, was eine Verfärbung der betroffenen Körperteile verursacht. Die Finger oder Zehen verfärben sich zunächst weiß, dann aufgrund des Sauerstoffmangels blau und schließlich, wenn sich die Blutgefäße wieder erweitern, rot. Auf Grund der Farben, die denen der französischen Nationalflagge entsprechen, spricht man auch vom „Tricolore-Phänomen“. Dieses schnelle Zusammenziehen der Blutgefäße kann Sekunden, aber auch Stunden andauern und zu starken Schmerzen führen.

Das Raynaud-Syndrom kann primär oder sekundär auftreten. Das primäre Raynaud-Syndrom ist nicht mit einer anderen Erkrankung verbunden, während das sekundäre Raynaud-Syndrom durch eine Grunderkrankung wie systemische Sklerose oder eben auch Multiple Sklerose verursacht wird.

Systemische Sklerose (SSc)

Die systemische Sklerose (SSc) ist eine Autoimmunerkrankung, die das Bindegewebe im ganzen Körper betrifft. Kennzeichnend für SSc ist die Beteiligung der Haut im Sinne einer Verdickung und Verhärtung. Diese ist in Lokalisation und Intensität allerdings unterschiedlich ausgeprägt. Üblicherweise beginnen die Hautveränderungen an den Fingern. Diese sind geschwollen und gerötet (puffy fingers). Im weiteren Verlauf kann die Schwellung zwar wieder abnehmen, die Haut wird aber aufgrund der entzündungsbedingten Fibrose möglicherweise verdicken und verhärten, und die Finger können letztlich versteifen. Durch die Verdickung und Verhärtung der Haut im Gesicht kann es zu einem maskenhaften Gesichtsausdruck mit reduzierter Mimik, verschmälerten Lippen, verkleinerter Mundöffnung (Mikrostomie) und der damit einhergehenden Hautfältelung um den Mund (Tabaksbeutelmund) kommen. Neben Haut und Schleimhäuten sind bei nahezu allen SSc-Patienten auch Blutgefäße betroffen. Da die SSc eine systemische Erkrankung ist, können zwar im Prinzip alle Blutgefäße befallen werden, im Regelfall sind es aber eher die kleinen Blutgefäße. Im Allgemeinen ist das erste SSc-Anzeichen das „Raynaud-Syndrom“.

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Zerebrale Durchblutungsstörungen

Neben peripheren Durchblutungsstörungen wie dem Raynaud-Syndrom können auch zerebrale Durchblutungsstörungen bei MS auftreten. Diese können durch verschiedene Mechanismen verursacht werden, darunter:

  • Entzündungen der Blutgefäße: Die Entzündungsprozesse, die bei MS auftreten, können auch die Blutgefäße im Gehirn betreffen und zu einer Verengung oder Schädigung der Gefäße führen.
  • Veränderungen der Blut-Hirn-Schranke: Die Blut-Hirn-Schranke (BHS) ist eine Schutzbarriere, die das Gehirn vor schädlichen Substanzen im Blut schützt. Bei MS kann die BHS gestört sein, wodurch Entzündungszellen und andere schädliche Substanzen ins Gehirn gelangen und die Durchblutung beeinträchtigen können.
  • Thromboembolien: Studien haben gezeigt, dass MS-Patienten ein erhöhtes Risiko für Thromboembolien haben, was zu ischämischen Hirninfarkten führen kann.

Auswirkungen von Durchblutungsstörungen auf den MS-Verlauf

Durchblutungsstörungen können den Verlauf der MS auf verschiedene Weise beeinflussen:

  • Verstärkung der Entzündung: Eine beeinträchtigte Durchblutung kann die Entzündungsprozesse im Gehirn verstärken, da weniger Sauerstoff und Nährstoffe zu den Nervenzellen gelangen und gleichzeitig Entzündungsmediatoren schlechter abtransportiert werden können.
  • Schädigung von Nervenzellen: Eine Minderversorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen kann zu einer Schädigung und zum Absterben von Nervenzellen führen, was die neurologischen Symptome der MS verschlimmern kann.
  • Beeinträchtigung der Remyelinisierung: Die Remyelinisierung, also die Reparatur der Myelinscheiden, ist ein wichtiger Prozess, um die Nervenfunktion wiederherzustellen. Durchblutungsstörungen können die Remyelinisierung beeinträchtigen und somit die Erholung von MS-Schüben erschweren.

Schwindel bei Multipler Sklerose

Schwindel ist eine häufige und belastende Begleiterscheinung der Multiplen Sklerose, die den Alltag stark einschränken kann. Ein Hauptgrund für Schwindel bei Multipler Sklerose ist, dass die Nervenverbindungen zwischen dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr und dem Gehirn entzündet oder beschädigt sind. Dadurch erhält das Gehirn falsche Signale über unsere Körperhaltung und Bewegungen, was Schwindel entstehen lässt. Da die Ursache für die Schwindelgefühle im Gehirn liegt, handelt es sich bei Multipler Sklerose um sogenannten zentralen Schwindel. Zusätzlich können auch die für das Gehen verantwortlichen Muskeln keine Informationen mehr von den Nerven erhalten. So eine Muskelschwäche in den Beinen tritt dann oft einseitig auf. Dadurch entstehen Gangstörungen und Fehlhaltungen, die die Betroffenen schnell ins Schwanken geraten lassen. Das Risiko von Stürzen erhöht sich und das tägliche Leben wird stark beeinträchtigt. Neben dem zentralen Schwindel durch die Schädigung von Nervenbahnen infolge von MS, können Schwindelgefühle auch durch die Einnahme von Medikamenten hervorgerufen werden, die für die Therapie bei Multipler Sklerose notwendig sind.

Diagnose von Durchblutungsstörungen bei MS

Die Diagnose von Durchblutungsstörungen bei MS kann schwierig sein, da die Symptome oft unspezifisch sind und auch durch andere Faktoren verursacht werden können. Zu den diagnostischen Verfahren gehören:

  • Klinische Untersuchung: Eine sorgfältige neurologische Untersuchung kann Hinweise auf Durchblutungsstörungen liefern.
  • Bildgebende Verfahren: Magnetresonanztomografie (MRT) und andere bildgebende Verfahren können Veränderungen der Blutgefäße im Gehirn und Rückenmark sichtbar machen.
  • Doppler-Sonographie: Diese Ultraschalluntersuchung kann die Blutflussgeschwindigkeit in den Gefäßen messen und somit Durchblutungsstörungen aufdecken.
  • Kälteprovokationstest: Für die Diagnose des Raynaud-Syndroms wird zunächst ein sogenannter Kälteprovokationstest durchgeführt. Eine Durchblutungsstörung lässt sich mithilfe von Lichtimpulsen (akrale Oszillografie) sichern. Weitere Hinweise kann die sogenannte Kapillarmikroskopie geben: Spezielles Kaltlicht durchdringt die Haut, sodass kleinste Veränderungen der Gefäße sichtbar werden.

Therapie von Durchblutungsstörungen bei MS

Die Therapie von Durchblutungsstörungen bei MS zielt darauf ab, die Durchblutung zu verbessern, Entzündungen zu reduzieren und die Nervenzellen zu schützen. Zu den möglichen Therapieansätzen gehören:

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  • Medikamentöse Therapie:
    • Gefäßerweiternde Medikamente: Diese Medikamente können die Blutgefäße erweitern und die Durchblutung verbessern.
    • Entzündungshemmende Medikamente: Kortikosteroide und andere entzündungshemmende Medikamente können die Entzündungsprozesse im Gehirn reduzieren.
    • Thrombozytenaggregationshemmer: Acetylsalicylsäure (ASS) und andere Thrombozytenaggregationshemmer können das Risiko von Thromboembolien verringern.
    • Antidepressiva: Moderne Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI) machen weder süchtig noch schränken sie das Reaktionsvermögen ein.
  • Physiotherapie: Spezielles Gleichgewichtstraining mit einem Physiotherapeuten ist wichtig, um wieder stabil auf den Beinen zu stehen. Anschließend kann mit Übungen für zuhause das Gleichgewicht weiter verbessert werden, zum Beispiel mit Fixationsübungen. Dabei wird mit den Augen ein Gegenstand fokussiert und der Kopf gedreht.
  • Nicht-medikamentöse Maßnahmen:
    • Regelmäßige Bewegung: Körperliche Aktivität kann die Durchblutung verbessern und das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verringern.
    • Gesunde Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst, Gemüse und Vollkornprodukten kann die Gefäßgesundheit fördern.
    • Vermeidung von Risikofaktoren: Rauchen, Übergewicht und hoher Blutdruck können die Gefäßgesundheit beeinträchtigen und sollten vermieden werden.
    • Wärme: Beim primären Raynaud-Syndrom ist Wärme die wichtigste Sofortmaßnahme, zum Beispiel durch Handschuhe, Taschenofen oder beheizbare Gelkissen. Da Nikotin die Gefäße verengt, ist Rauchen für Betroffene tabu.

Rolle der Mikroglia

Mikroglia sind spezielle Immunzellen im zentralen Nervensystem, die im Gehirn regulierende und entzündungsfördernde Aufgaben übernehmen und sowohl als Beschützer als auch als potenzielle Angreifer fungieren. Im Grunde genommen sind sie die „Polizei“ des Gehirns, die Zelltrümmer beseitigt und Reparaturprozesse anstößt. Sie können jedoch auch außer Kontrolle geraten, und ihre Überaktivierung führt zur abnormen Freisetzung von entzündungsfördernden Zellgiften, sogenannten Zytokinen, und Chemokinen. Dies führt zu Entzündungen und Gewebeschäden in frühen Stadien der MS. Bei progredienten Formen der MS fördern Mikroglia chronische Entzündungen, beispielsweise durch die Produktion von Zytokinen und oxidativen Stress, was zum Absterben von Nervenzellen und anderen neurodegenerativen Mechanismen beiträgt. Es ist wichtig zu beachten, dass Mikroglia eng mit dem Gefäßsystem und der Dysfunktion der Blut-Hirn-Schranke bei MS verbunden sind. Diese Beziehung schafft ein komplexes Zusammenspiel, bei dem die Aktivierung der Mikroglia die Gefäßintegrität beeinflussen kann und umgekehrt. Das Verständnis dieser miteinander verbundenen Mechanismen ist entscheidend für die Entwicklung gezielter Therapien, insbesondere angesichts der unterschiedlichen Ausprägungen von MS, bei denen die Behandlung sowohl von Mikroglia- als auch von Gefäßfunktionsstörungen die Lebensqualität von Menschen mit MS erheblich verbessern kann.

Genetische Aspekte

Je mehr wir über die genetischen Grundlagen von MS lernen, desto mehr spannende Möglichkeiten für neue Behandlungsstrategien entdecken wir. Wenn wir diese Infos klug nutzen, können wir die Behandlungsergebnisse definitiv verbessern und die Lebensqualität von MS-Betroffenen steigern. HLA-DRB115 ist zum Beispiel ein bekannter Risikofaktor, der es uns schon jetzt ermöglicht, Behandlungen speziell auf einzelne Patient:innen aufgrund ihres genetischen Profils zuzuschneiden. Trotzdem ist es wichtig, dass wir einen systematischen und gezielten Ansatz verfolgen und diese Infos vorsichtig interpretieren. Das wachsende Wissen über die Genetik von MS - mit Fokus auf wichtige Marker wie HLA-DRB115 oder andere wie Dysferlin-SNPs und AQP4 - verspricht, unsere Behandlungsstrategien zu verändern.

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