Multiple Sklerose (MS), medizinisch als Encephalomyelitis disseminata bekannt, ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. Der Begriff "Encephalomyelitis disseminata" lässt sich mit "verstreuter Hirn- und Rückenmarksentzündung" übersetzen. Die Krankheit ist durch multiple (vielfache) Vernarbungen (Sklerosen) im ZNS gekennzeichnet, die durch Entzündungen entstehen und zu vielfältigen Symptomen führen können. MS ist nicht ansteckend, nicht zwangsläufig tödlich, kein Muskelschwund und keine psychische Erkrankung. Auch die häufig verbreiteten Vorurteile, dass MS in jedem Fall zu einem Leben im Rollstuhl führt, sind so nicht richtig.
Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinscheiden angreift, die die Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark umhüllen. Diese Myelinscheiden sind ähnlich wie die Isolierung von Stromkabeln und ermöglichen eine schnelle und effiziente Übertragung von Nervenimpulsen. Durch die Entzündung und Schädigung der Myelinscheiden werden die Nervenfasern beschädigt, was zu einer gestörten Signalübertragung führt. Die medizinische Fachwelt ist sich einig, dass die psychischen Beschwerden bei jedem MS-Patienten professionell erfasst und ganzheitlich beleuchtet werden müssen.
Ursachen und Risikofaktoren
Die genaue Ursache der MS ist bis heute nicht vollständig geklärt. Es wird vermutet, dass ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren für die Entstehung der Krankheit verantwortlich ist (multifaktorielle Entstehung). Dazu gehören:
- Genetische Veranlagung: MS ist keine klassische Erbkrankheit, aber das Risiko, an MS zu erkranken, ist bei Menschen mit einem Verwandten ersten Grades mit MS höher als in der Allgemeinbevölkerung. Vererbt wird eher eine "Neigung", die Erkrankung möglicherweise zu bekommen, eine sogenannte Prädisposition. Etwa 20 Prozent der MS-Betroffenen haben Familienmitglieder, die ebenfalls erkrankt waren oder sind. Es besteht jedoch keine direkte Vererbungslinie, das heißt die Kinder eines erkrankten Elternteils werden nicht automatisch an Multipler Sklerose erkranken. So liegt das Erkrankungsrisiko für die Nachkommen von an MS erkrankten Eltern bei den Söhnen unter einem Prozent, bei den Töchtern jedoch bei rund fünf Prozent. Erkrankt bei eineiigen weiblichen Zwillingen eines an MS, liegt das Risiko für die Zwillingsschwester zwischen 30 und 35 Prozent.
- Autoimmunreaktion: Das Immunsystem greift fälschlicherweise die Myelinscheiden der Nervenfasern an. So kommt es z.B. durch eine Fehlsteuerung innerhalb des Immunsystems zur Bildung von Abwehrelementen (Zellen und Eiweißstoffe/Antikörper, Entzündungsstoffe), die am Myelin, den Nervenzellen und ihren Nervenfasern Schädigungen und Störungen verursachen können.
- Umweltfaktoren: Es gibt Hinweise darauf, dass bestimmte Umweltfaktoren wie Infektionen (z.B. mit dem Epstein-Barr-Virus), Vitamin-D-Mangel, Rauchen und geografische Faktoren (häufiger in gemäßigten Klimazonen) eine Rolle spielen könnten. Wissenschaftler halten es für wahrscheinlich, dass bestimmte Viren und Bakterien an der Entstehung der MS beteiligt sein könnten. Dazu zählen Herpesviren, das Eppstein-Barr-Virus sowie Bakterien wie Campylobacter oder Chlamydia pneumoniae. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Betroffene - ähnlich wie bei einem Schnupfen oder einem Magen-Darm-Infekt - sofort nach dem Kontakt mit einem solchen Erreger an MS erkrankt. Vielmehr vermuten die Forscher, dass die Infektion schon viele Jahre zurückliegt. Zu jenem Zeitpunkt haben Entzündungsreaktionen zur Erregerabwehr stattgefunden.
Epidemiologie
MS betrifft weltweit schätzungsweise 2,8 Millionen Menschen. Die meisten Menschen erkranken im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, wobei Frauen etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. In Deutschland sind über 200.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. Pro Jahr gibt es etwa 2.500 Neuerkrankungen.
Symptome der Multiplen Sklerose
Die Symptome der MS sind vielfältig und können von Person zu Person stark variieren, abhängig davon, welche Bereiche des ZNS betroffen sind. Die MS-Krankheit wird auch die ‚Krankheit mit den 1.000 Gesichtern‘ genannt. Einige häufige Symptome sind:
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- Motorische Störungen: Lähmungen (oft mit Steifigkeitsgefühl, Spastik genannt, vor allem in den Beinen), Koordinationsprobleme, Gleichgewichtsstörungen, Gangunsicherheit, Schwierigkeiten beim Greifen. Was bei MS mit Knieschmerzen anfängt kann sich zu Lähmungen der Beine weiterentwickeln.
- Sensibilitätsstörungen: Kribbeln, Taubheitsgefühl, Schmerzen, Missempfindungen auf der Haut (Sensibilitäts-Störungen). Viele Betroffene berichten zudem, dass sich ihre Arme oder Beine „pelzig“ anfühlen.
- Sehstörungen: Verschwommenes Sehen, Doppelbilder, Entzündung des Sehnervs (Optikusneuritis) mit Augenschmerzen und gestörtem Farbsehen, Augenbewegungsstörungen. Besonders im Frühstadium der Erkrankung entzündet sich häufig der Sehnerv von MS-Erkrankten.
- Blasen- und Darmstörungen: Häufiger Harndrang, imperativer Harndrang, Blasenentleerungsstörungen bis hin zur Inkontinenz, Verstopfung, Stuhlinkontinenz. Störungen der Blasenfunktion (Harninkontinenz) treten bei etwa 90 Prozent der MS-Patienten auf. Sie gehören gemeinsam mit Störungen der Darmkontrolle (Stuhlinkontinenz) und der Fatigue zu den MS-Symptomen, die die Lebensqualität am stärksten beeinträchtigen.
- Fatigue: Ausgeprägte Müdigkeit und Erschöpfung, die durch Ruhe oder Schlaf nicht besser wird. Fatigue (ausgesprochen: fatieg) - das Phänomen der Erschöpfung - haben viele Menschen mit Multipler Sklerose. Betroffene fühlen sich matt. Schon die kleinsten Anstrengungen fallen ihnen schwer. Ausruhen oder Schlaf wirken nicht erholsam. Viele Betroffene fühlen sich zusätzlich schuldig, weil sie nicht leistungsfähig sind.
- Kognitive Störungen: Konzentrationsschwierigkeiten, Gedächtnisprobleme, verlangsamte Informationsverarbeitung. Störungen des Denkens und der Merkfähigkeit werden häufig auch durch Medikamente ausgelöst oder verstärkt. Das ist z.B.
- Sprech- und Schluckstörungen: "Verwaschenes" Sprechen, Schwierigkeiten beim Schlucken (Dysphagie). Weil die Gesichts- und Halsmuskulatur nicht mehr jene exakten Nervenimpulse erhält, die sie für ein reibungsloses Funktionieren benötigt, gehen meist auch Sprech- und Schluckstörungen (Dysphagie) mit einer MS einher.
- Schmerzen: Häufig in Armen und Beinen, oft morgens nach dem Aufstehen. Multiple Sklerose verursacht vor allem Arm- und Beinschmerzen. Häufig kommen die Arm- oder Beinschmerzen morgens direkt nach dem Aufstehen.
- Weitere Symptome: Schwindel, Depressionen, sexuelle Funktionsstörungen, Wesensveränderungen.
Verlaufstypen der MS
Der Verlauf der MS ist sehr unterschiedlich und unvorhersagbar. Es gibt verschiedene Verlaufstypen:
- Schubförmig-remittierende MS (RRMS): Dies ist die häufigste Form, bei der die Symptome in Schüben auftreten, gefolgt von Phasen der teilweisen oder vollständigen Erholung (Remission). Zu Krankheitsbeginn überwiegt der schubförmige Verlaufstyp mit einer Häufigkeit von bis zu 90%. RRMS (engl. Relapsing Remitting Multiple Sclerosis) ist durch einen schubförmigen Verlauf gekennzeichnet.
- Sekundär-progrediente MS (SPMS): Bei manchen Patienten geht die RRMS nach einigen Jahren in eine SPMS über, bei der die Symptome kontinuierlich fortschreiten, unabhängig von Schüben. nach anfänglich schubförmigem Verlauf gehen nach 10 bis 15 Jahren etwa 30 bis 40% in einen sekundär-chronisch progredienten Verlauf über; nach mehr als 20 Jahren beträgt die Häufigkeit dieser Verlaufsform sogar bis zu 90% Etwa 90 Prozent der Fälle beginnen als sekundär-chronisch progredient. SPMS (engl. Secondary Progressive Multiple Sclerosis) kann sich aus einer RRMS entwickeln.
- Primär-progrediente MS (PPMS): Diese Form ist durch einen kontinuierlichen Fortschritt der Symptome von Beginn an gekennzeichnet, ohne klare Schübe oder Remissionen. Etwa 10% der Patienten haben von Beginn an einen primär-chronisch progredienten Verlauf, d.h. von Beginn an eine langsame Verschlechterung ohne klare Schübe. PPMS (engl. Primary Progressive Multiple Sclerosis) ist von Anfang an durch einen allmählich fortschreitenden Verlauf gekennzeichnet.
Diagnose der Multiplen Sklerose
Die Diagnose der MS kann eine Herausforderung sein, da es keinen einzelnen Test gibt, der die Krankheit eindeutig nachweisen kann. Die Diagnose basiert auf einer Kombination von Faktoren:
- Anamnese: Erhebung der Krankheitsgeschichte und der aktuellen Symptome. Unter dem Fachbegriff Anamnese ist die Krankengeschichte zu verstehen.
- Neurologische Untersuchung: Beurteilung der neurologischen Funktionen wie Reflexe, Muskelkraft, Koordination, Sensibilität und Sehkraft.
- Magnetresonanztomographie (MRT): Bildgebung des Gehirns und Rückenmarks, um Läsionen (Entzündungsherde) nachzuweisen. Eine viel detailgetreuere Abbildung von Gehirnstrukturen gelingt, seit die Magnetresonanztomographie (MRT) in die MS-Diagnostik Einzug gehalten hat.
- Lumbalpunktion: Entnahme von Nervenwasser (Liquor) zur Analyse auf bestimmte Entzündungsmarker und oligoklonale Banden. Oligoklonale Banden sind sogenannte Immunglobuline, das heißt: Antikörper. Sie liefern Hinweise auf entzündliche Prozesse im Körper. Bei rund 95 Prozent aller MS-Patienten liegen sie vor.(2) Weil sie aufgrund ihrer Größe die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden können, befinden sie sich nur in der Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit (Liquor) und nicht im Blut. Dies spricht für eine Entzündung, die ihren Ausgangspunkt im Gehirn hat. Allerdings liegen die oligoklonalen Banden erst im späteren Verlauf einer MS-Erkrankung vor, selten schon zu Anfang.
- Evozierte Potentiale: Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, um Funktionsstörungen der Nervenbahnen festzustellen.
Die Diagnosekriterien nach McDonald werden international zur Unterstützung der Diagnosestellung verwendet. Dennoch kann es manchmal Wochen, Monate, zuweilen sogar Jahre dauern, bis die Diagnose eindeutig feststeht.
Behandlung der Multiplen Sklerose
Obwohl MS nicht heilbar ist, gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, die darauf abzielen, die Symptome zu lindern, das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen und die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Die Therapie umfasst in der Regel:
- Schubtherapie: Behandlung akuter Schübe mit Kortikosteroiden (Methylprednisolon), um die Entzündung zu reduzieren. Für die Schubtherapie ist das wichtigste MS Medikament hochdosiertes Methylprednisolon. Es ist ein Cortisol, das die Entzündung im Gehirn unterdrückt. Methylprednisolon wird in der Regel im Krankenhaus stationär intravenös verabreicht, so dass eine Überwachung der Symptome erfolgen kann.
- Verlaufsmodifizierende Therapie: Langfristige Behandlung mit Medikamenten, die das Immunsystem modulieren, um die Häufigkeit und Schwere von Schüben zu reduzieren und das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen (z.B. Interferone, Glatirameracetat). Für die langfristige MS Behandlung ist die Immunmodulation von Bedeutung: MS Medikamente zur Verbesserung des Verlaufs verändern die Funktionsweise des Immunsystems. Dadurch kann die Häufigkeit von Schüben abnehmen und das Fortschreiten der Erkrankung langsamer werden. Die wichtigsten MS Medikamente sind Interferone und Glatirameracetat.
- Symptomatische Therapie: Behandlung spezifischer Symptome wie Schmerzen, Spastik, Fatigue, Blasenstörungen oder Depressionen mit entsprechenden Medikamenten und Therapien. Die dritte Therapiesäule umfasst alles, was die Symptome von MS gezielt verbessert. Die symptomorientierte Behandlung von MS Patient:innen beinhaltet unter anderem Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie und Psychotherapie sein. Außerdem werden Medikamente, die Verkrampfungen der Muskulatur lösen und die Gehfähigkeit verbessern, verschrieben.
- Rehabilitation: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und neuropsychologische Therapie, um dieFunktionsfähigkeit zu verbessern und dieAlltagsbewältigung zu erleichtern. Mit der Rehabilitation in der MEDICLIN Fachklinik Rhein/Ruhr wollen wir die Regeneration Ihres gesamten Körpers unterstützen, die Krankheit sowie deren Folgen lindern, Hilfsmittel anpassen und Ihre Teilhabe fördern.
- Weitere Maßnahmen: Anpassung des Lebensstils, gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung, Stressmanagement und soziale Unterstützung. Wer an Multipler Sklerose leidet, kann seinen Krankheitsverlauf zusätzlich positiv beeinflussen.
Leben mit Multipler Sklerose
Ein selbstbestimmtes Leben mit MS ist möglich. Die Diagnose MS kann eine große Herausforderung darstellen, aber viele Menschen mit MS führen ein erfülltes und aktives Leben. Wichtig ist, sich gut über die Krankheit zu informieren, sich von einem erfahrenen Arzt behandeln zu lassen und sich ein starkes soziales Netzwerk aufzubauen. Es gibt viele Selbsthilfegruppen und Organisationen, die Unterstützung und Informationen für Menschen mit MS und ihre Familien anbieten.
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Prognose
Die Prognose der MS ist sehr unterschiedlich. Einige Menschen haben einen milden Verlauf mit wenigen oder keinen Behinderungen, während andere im Laufe der Zeit schwerere Behinderungen entwickeln. Allerdings muss betont werden, dass die MS nicht zwangsläufig schwer verlaufen muss. Im Gegenteil, gerade zu Beginn der Erkrankung kann es zu einer weitgehenden Abheilung der entzündlichen Herde und damit zur Rückbildung der auftretenden Krankheitszeichen kommen. Nur in wenigen Fällen (unter 5%) führt die Krankheit innerhalb weniger Jahre zu schwerer Behinderung. Dank verbesserter Früherkennung und Fortschritten in der Behandlung von Multipler Sklerose nähert sich die Lebenserwartung von MS-Patienten mittlerweile der von gesunden Menschen an.
Forschung
Die Forschung zur MS ist sehr aktiv und es werden ständig neue Erkenntnisse über die Ursachen, den Verlauf und die Behandlung der Krankheit gewonnen. Es gibt Hoffnung, dass in Zukunft noch wirksamere Therapien entwickelt werden können, die das Fortschreiten der MS aufhalten oder sogar heilen können. Um das Rätsel Multiple Sklerose zu lösen, wird weltweit intensiv geforscht.
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