Das Gedächtnis ist ein hohes Gut. Viele Menschen, jung und alt, fürchten den Verlust ihrer Erinnerungen. Für Menschen mit Multipler Sklerose (MS) stellt sich diese Angst oft in verstärktem Maße, da kognitive Beeinträchtigungen, einschließlich Gedächtnisprobleme, bei MS-Patienten häufiger auftreten als in der Allgemeinbevölkerung.
Kognition und MS: Ein komplexes Zusammenspiel
Der Begriff "Kognition" umfasst Prozesse der Wahrnehmung und des Erkennens. Kognitive Leistungsstörungen bei MS sind vielfältig und hängen stark davon ab, welche Hirnareale durch die Erkrankung betroffen sind. Entzündungsherde in bestimmten Regionen des Gehirns können schon frühzeitig Gedächtnisprobleme verursachen. Die Ausprägung dieser Störungen ist von Patient zu Patient sehr unterschiedlich. Sie reichen von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen über Schwierigkeiten beim Handeln und der Eigenwahrnehmung bis hin zu Sprachproblemen. Besonders häufig betroffen ist die komplexe Aufmerksamkeit, auch bekannt als Multitasking.
Auswirkungen von Gedächtnisproblemen im Alltag
Das Gedächtnis ermöglicht es uns, Informationen zu speichern und Erlerntes wiederzugeben. Wenn diese Fähigkeit beeinträchtigt ist, kann dies erhebliche Schwierigkeiten im Alltag verursachen. Betroffene benötigen beispielsweise mehr Zeit, um sich eine Einkaufsliste einzuprägen, sich eine Telefonnummer zu merken oder Vokabeln zu lernen. Während die einfache Aufmerksamkeit für einzelne Aufgaben meist nicht eingeschränkt ist, erfordern alltägliche Tätigkeiten wie Fernsehen, Kochen, Lesen, Orientierung oder Kommunikation deutlich mehr Konzentration. Diese Schwierigkeiten verstärken sich, wenn mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigt werden müssen, beispielsweise ein Gespräch führen und Notizen machen oder Bügeln und Fernsehen.
Beispiele aus dem Alltag
Viele MS-Patienten berichten von Vergesslichkeit, die oft von anderen bemerkt wird oder selbst auffällt. Ein Beispiel ist das Anschalten der Waschmaschine und das anschließende Vergessen, dass sie läuft. In schwerwiegenderen Fällen kann es vorkommen, dass man beim Kochen etwas aufsetzt und es vergisst, selbst wenn man sich in der Nähe des Herdes befindet. Solche Erlebnisse können Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Wut, Scham und Verzweiflung auslösen.
Diagnose von kognitiven Störungen bei MS
Die Diagnose von kognitiven Störungen bei MS kann schwierig sein, da die Auswirkungen oft langsam und unbemerkt auftreten. Betroffene führen ihre Vergesslichkeit möglicherweise auf Ablenkung oder Schusseligkeit zurück und erkennen das Problem nicht als Störung. Eine gewisse Zerstreutheit kann jahrelang bestehen, ohne dass man sich einer beginnenden kognitiven Leistungsstörung bewusst wird.
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Besteht jedoch der Verdacht auf eine kognitive Störung, kann ein Neurologe mithilfe standardisierter Testverfahren die Leistungsfähigkeit beurteilen. Dabei werden verschiedene Leistungskomponenten wie Sprache, Flexibilität im Denken, Aufmerksamkeit und Problemlösefähigkeit untersucht, um Einschränkungen im Alltag der Betroffenen zu identifizieren.
Es ist wichtig zu betonen, dass kognitive Einschränkungen bei MS nicht mit Intelligenzminderung oder Erkrankungen wie Alzheimer oder psychischen Erkrankungen gleichzusetzen sind.
Umgang mit Gedächtnisproblemen: Strategien und Hilfsmittel
Nach der Diagnose können gezieltes Gehirntraining und Strategien für den Umgang mit Beeinträchtigungen im Alltag helfen. Dazu gehören:
- Listen: Erstellen Sie Listen für Aufgaben und Termine.
- Ruhige Umgebung: Führen Sie Gespräche an ruhigen Orten, um Ablenkungen zu vermeiden.
- Merkstrategien: Probieren Sie verschiedene Merkstrategien aus, wie z.B. die Loci-Methode (Verknüpfung von Informationen mit Orten).
- Anpassungen im Tagesablauf: Nehmen Sie gezielte Veränderungen im Umfeld vor, um die kognitive Leistungsfähigkeit zu unterstützen.
- Offene Kommunikation: Sprechen Sie Vergesslichkeit oder Konzentrationsprobleme offen an, insbesondere im Arbeitsumfeld.
- Gedächtnistraining: Nutzen Sie spezielle Trainingsmethoden, um die Kognition zu verbessern.
- Zeitmanagementtraining: Erlernen Sie Strategien zum Ausgleich von Beeinträchtigungen und nutzen Sie Erinnerungshilfen.
- Günstige Bedingungen schaffen: Richten Sie z. B. Ihren Arbeitsplatz übersichtlich ein.
Die Angst vor dem Kontrollverlust
Neben der Angst vor Erblindung oder dem Rollstuhl ist die Furcht vor einem nachlassenden Gedächtnis eine große Belastung für MS-Patienten. Sie scheint all das zu prophezeien, was sowieso Angst macht, wenn man chronisch krank ist, nämlich in Abhängigkeit zu geraten. Man kann sich die Symptome nicht aussuchen und ist ihnen oft machtlos ausgeliefert.
Der Erhalt der kognitiven Leistungsfähigkeit
Der Erhalt der kognitiven Leistungsfähigkeit stellt eine der größten Herausforderungen bei MS dar. Immunmodulatorische Arzneimittel und nichtpharmakologische Maßnahmen können einen positiven Einfluss haben.
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Neben den physischen Symptomen existieren "verborgene Symptome" wie kognitive Veränderungen, Fatigue und emotional-affektive Aspekte wie Depression und Angststörungen. Diese Beeinträchtigungen sind für die Patienten oft zentral und deutlich sichtbar und wirken sich stark negativ auf die Lebensqualität und die Berufsfähigkeit aus. Studien haben gezeigt, dass die Arbeitsfähigkeit direkt mit der kognitiven Leistung zusammenhängt und dass kognitive Störungen und Fatigue einen wesentlichen Beitrag zur Kostenbelastung durch MS leisten, da sie die Produktivität der Patienten negativ beeinflussen und zu Arbeitsausfällen und Frühverrentung führen können.
Eine Sensibilisierung der behandelnden Ärzte für diese unsichtbaren Symptome ist daher dringend erforderlich, um durch frühzeitige Immun- und symptomatische Therapie das kognitive Netzwerk so lange wie möglich funktionstüchtig zu halten.
Arten von kognitiven Störungen bei MS
Die kognitiven Veränderungen bei MS konzentrieren sich auf drei wesentliche Bereiche:
- Kognitive Verlangsamung: Einschränkung in der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit.
- Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme.
- Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen: Eingeschränktes Multitasking, eingeschränkte mentale Flexibilität.
Die Einbuße in der Geschwindigkeit hat sich als "red flag" herausgestellt. Diese Verlangsamung lässt sich oft bereits zu Beginn der Erkrankung objektivieren und führt häufig dazu, dass auch andere kognitive Teilleistungen in Mitleidenschaft gezogen werden.
Neben der Verlangsamung treten Probleme der Aufmerksamkeit auf, und zwar dahingehend, dass die Aufmerksamkeit nicht anhaltend auf dem gleichen Niveau gehalten werden kann, sondern nach einer gewissen Zeit einbricht. Das eingeschränkte Multitasking wirkt sich zudem negativ auf die Leistungsfähigkeit im Alltag aus, da multiple Aufgaben nicht mehr parallel, sondern nur noch sequenziell abgearbeitet werden können.
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Verlauf der kognitiven Veränderungen
Es gibt Hinweise darauf, dass die kognitiven Veränderungen in den ersten fünf Jahren nach Krankheitsbeginn stärker fortschreiten und sich im weiteren Verlauf abschwächen. Der Verlauf unterscheidet sich deutlich von dem der klassischen neurodegenerativen Erkrankungen. Es ist wichtig, die Patienten darüber aufzuklären, um Ängste vor einer Demenz zu nehmen.
Pathophysiologie: Was sind die Ursachen?
Die konkreten Ursachen für kognitive Störungen bei MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es gibt jedoch Hypothesen, die sich aus Studienergebnissen ableiten lassen:
- Lokalisation der Läsionen: Es kommt nicht primär auf die Anzahl der Läsionen in der weißen und grauen Substanz an, sondern vielmehr auf die Lokalisation. Läsionen in strategischen Hirnregionen können ein kognitives Defizit verursachen.
- Hirnatrophie: Das kortikale Gesamthirnvolumen ist bei kognitiv beeinträchtigten Patienten kleiner als bei Personen mit intakter Kognition. Eine frühzeitig auftretende atrophische Veränderung in den ersten beiden Jahren nach Diagnosestellung kann als Prädiktor für einen ungünstigen kognitiven Verlauf gewertet werden. Besonders der Thalamus scheint eine wichtige Rolle zu spielen.
Aus den kernspintomografisch gefundenen Resultaten lässt sich ableiten, dass sich ein struktureller und funktioneller Schaden negativ auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirkt und therapeutische Ansätze möglichst frühzeitig zum Einsatz kommen sollten, solange das Netzwerk noch Ressourcen zur Kompensation besitzt.
Monitoring der Kognition
Aufgrund der Bedeutsamkeit der kognitiven Leistungsfähigkeit für das Berufs- und Sozialleben der Patienten ist eine regelmäßige Erfassung des kognitiven Status einmal pro Jahr angeraten. Dies dient dazu, den Therapieerfolg zu dokumentieren und eine Verschlechterung frühzeitig zu erkennen.
Ein empfehlenswertes Instrument ist die BICAMS-Screeningbatterie, die aus dem SDMT (Symbol-Digit-Modalities-Test), dem VLMT (verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest) und dem BVMT-R (Brief Visual Memory Test Revised) besteht. Die Durchführungszeit beträgt ca. 20 Minuten. Alternativ kann zumindest der SDMT regelmäßig durchgeführt werden, da er eine hohe Aussagekraft hat.
Screeninginstrumente ersetzen keine elaborierte neuropsychologische Untersuchung, dienen aber dazu, eine Sensibilisierung für die Kognition zu entwickeln und können bei deutlich abfallender Leistung im Vergleich zum individuellen Vortest frühzeitig eine kognitive Verschlechterung aufzeigen.
Behandlungsansätze
Die Behandlung der kognitiven Störungen bei MS ist eine große Herausforderung, da es keine wirksame, evidenzbasierte symptomatische Therapie gibt, die jedem betroffenen Patienten empfohlen werden könnte.
- Immuntherapien: Interferone und Glatiramerazetat wirken sich nicht nachteilig auf die kognitive Leistungsfähigkeit aus. Natalizumab, Fingolimod und Dimetylfumarat wirken sich ebenfalls stabilisierend auf die Kognition aus. Für Daclizumab konnte eine deutliche Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit gezeigt werden.
- Symptomatische Behandlung: Es gibt keine hinreichende Evidenz für die Wirksamkeit von Medikamenten wie Modafinil, 4-Aminopyridin, Amantadin, L-Amphetamin, Methylphenidat oder Antidementiva wie Donepezil, Rivastigmin und Memantin.
- Nichtpharmakologische Interventionen: Moderates Ausdauertraining wirkt sich positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit aus. Auch Hirnleistungstraining kann für viele Patienten von Vorteil sein, sollte aber spezifisch auf die jeweiligen Defizite zugeschnitten sein.
Fazit
Kognitive Defizite sind ernst zu nehmende Symptome der MS mit hoher Relevanz für den Alltag und die Berufsfähigkeit der Betroffenen. Das Erheben des kognitiven Status sollte bereits im Rahmen der Diagnosestellung erfolgen, um einen Verlauf über die Zeit und einen Vergleich zu einem Ausgangswert bei deutlicher Verschlechterung dokumentieren zu können. Es gibt Evidenz dafür, dass eine frühzeitige Immuntherapie auch als Benefit im Hinblick auf die kognitive Leistungsfähigkeit über die Zeit zu werten ist. Eine deutliche kognitive Verschlechterung kann Anzeichen eines Schubes sein und sollte Anlass dazu geben, die bestehende Therapie kritisch zu überdenken.
Zusätzliche Tipps für den Alltag
- Seien Sie geduldig mit sich selbst, wenn Ihnen etwas nicht sofort einfällt.
- Informieren Sie Ihr Umfeld ehrlich, wenn Sie etwas vergessen haben.
- Notieren Sie sich wichtige Informationen gleich schriftlich.
- Passen Sie Ihren Tagesablauf an Ihre Bedürfnisse an.
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