Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die auch Jugendliche betreffen kann. Obwohl die meisten Menschen mit MS ihre Diagnose zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr erhalten, sind etwa drei bis fünf Prozent aller MS-Erkrankten unter 18 Jahre alt. Dies stellt die betroffenen Familien und Heranwachsenden vor besondere Herausforderungen. Die Erkrankung ist durch Entmarkungsherde und neuronale Zerstörung in Gehirn und Rückenmark gekennzeichnet, was zu vielfältigen neurologischen Beschwerden führt.
Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose (MS), auch Encephalomyelitis disseminata genannt, ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Bei MS wird die Myelinschicht, eine Schutzschicht der Nervenfasern, angegriffen, was zu Störungen in der Signalübertragung führt. Die neurologischen Beschwerden sind auf multiple Entmarkungsherde sowie auf eine diffuse neuronale Zerstörung der weißen und grauen Substanz zurückzuführen. MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das fehlgeleitete Immunsystem eigene Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark angreift.
Epidemiologie
Weltweit gibt es etwa 2,8 Millionen Multiple-Sklerose-Patienten. In Deutschland wird die Anzahl der MS-Erkrankten auf 252.000 geschätzt, wobei jährlich etwa 14.600 Patienten neu diagnostiziert werden. Die Verteilung der Erkrankung ist regional unterschiedlich; in den nördlichen Industrieländern ist die Prävalenz höher als in der Äquator-Zone. Interessanterweise sind 72 Prozent der in Deutschland lebenden MS-Patienten Frauen. Das Durchschnittsalter bei Diagnosestellung liegt bei 33 Jahren, kann aber in jedem Alter auftreten. Bei Kindern und Jugendlichen werden die gleichen Krankheitszeichen beobachtet wie bei Erwachsenen.
Ursachen und Risikofaktoren
Obwohl die exakte Ursache von MS noch nicht vollständig entschlüsselt ist, geht man von einer multifaktoriellen Pathogenese aus. Dabei spielen genetische Faktoren (30 Prozent) und Umwelteinflüsse (70 Prozent) eine Rolle.
Genetische Prädisposition
Trotz familiärer Häufung ist Multiple Sklerose keine Erbkrankheit im klassischen Sinn. Bislang wurden mehr als 110 genetische Variationen identifiziert, die bei MS-Erkrankten häufiger vorkommen. Diese Genvarianten stehen oft in direkter Beziehung zum Immunsystem, wie beispielsweise die Allele des humanen Leukozytenantigen-Systems (HLA-Typ HLA-DRB1*15:01).
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Umwelteinflüsse
Verschiedene Umwelteinflüsse werden in der Krankheitsentstehung von MS diskutiert:
- Vitamin-D-Stoffwechsel: Einige Mediziner glauben an den Einfluss der Sonneneinstrahlung und des Vitamin-D-Haushaltes. Studien zeigen, dass es weniger MS-Fälle in sonnenreichen Zonen gibt. Eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung könnte vor MS schützen, jedoch ist eine eindeutige Kausalität noch nicht ermittelt.
- Infektionen: Infektionen in der Kindheit, insbesondere mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) und dem Humanen Herpesvirus 6 (HHV-6), könnten das Risiko erhöhen. Es gibt eine auffällige Häufung von Immunreaktionen gegen EBV bei Kindern und Jugendlichen mit MS.
- Umweltgifte, Rauchen, Ernährung und Mikrobiom: Nikotin scheint ein Risikofaktor zu sein, und frühes Rauchen kann zu chronischen MS-Verläufen führen. Übergewicht, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, könnte ebenfalls die Entwicklung von MS begünstigen. Das Darm-Mikrobiom scheint ebenfalls eine Rolle zu spielen.
Pathophysiologie
Bei Multipler Sklerose finden sich fokale, chronisch-inflammatorische Entmarkungsläsionen von ZNS-Nervenfasern. Diese werden im weiteren Krankheitsverlauf von axonalen Schädigungen, persistierenden Gewebenarben (Gliose) und einer Hirnatrophie begleitet. Sehr wahrscheinlich wird die Demyelinisierung durch unterschiedliche zelluläre und humorale Faktoren des angeborenen und erworbenen Immunsystems initiiert.
Histologie
Histologisch konnten in aktiven MS-Herden vier Muster differenziert werden. Die Subtypen I und II sind insbesondere bei einer primären immunologisch-induzierten Demyelinisierung zu finden, Subtyp III und IV bei einer primären Schädigung der Oligodendrogliazellen.
Symptome
Die klinische Symptomatik bei Multipler Sklerose richtet sich nach Ausmaß und Lokalisation der Läsionen und variiert entsprechend stark bei MS-Patienten. Anfangs bilden sich die schubassoziierten Symptome meist vollständig zurück. Im weiteren Krankheitsverlauf persistieren die neurologischen Defizite.
Klinisch isoliertes Syndrom (CIS)
Zu Beginn dominiert häufig ein isoliertes klinisches Bild, das sogenannte clinically isolated syndrome (CIS). Die neurologischen Funktionsstörungen entwickeln sich akut oder subakut und bleiben über mindestens 24 Stunden bestehen. Typisch sind Augenschmerzen oder Sehstörungen infolge einer Optikusneuritis sowie sensible Ausfälle in Form von Parästhesien, Paresen und Koordinationsschwierigkeiten.
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MS-Schub
Ein MS-Schub ist definiert als das Auftreten von neuen oder reaktivierten, bereits bekannten neurologischen Defiziten, die mindestens 24 Stunden anhalten und mehr als 30 Tage nach Beginn eines vorausgegangenen Schubs auftreten. Die Beschwerden können von leichten Beeinträchtigungen der Beweglichkeit bis zu schweren neurologischen Funktionseinschränkungen reichen.
Typische Symptome
- Optikusneuritis: Zentralskotom, schmerzende Augenbewegung, Sehunschärfe, Visusminderung, Farbsinnstörung.
- Störungen der Okulomotorik: Augenmuskelparesen, Pupillenstörungen und Doppelbilder.
- Affektion anderer Hirnnerven: Fazialisparese, Trigeminusneuralgie.
- Motorische Störungen: Zentrale Paresen, spastische Tonuserhöhung, Spastizität, Kloni.
- Ataxie: Spastisches, ataktisches Gangbild.
- Sensibilitätsstörungen: Parästhesien, Hypästhesien, Dysästhesien.
- Zerebelläre Symptome: Intentionstremor, Nystagmus, skandierende Sprache, Blickdysmetrie, Dysphagie, Dysarthrie, Ataxie.
- Vegetative Symptome: Miktionsstörungen, Störungen der Sexualfunktion.
- Kognitive Veränderungen: Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Depressionen.
- Affektive Veränderungen: Inadäquate Euphorie, unkontrollierbares Weinen und Lachen.
- Uhthoff-Phänomen: Wärmeinduzierte Zunahme der Beschwerden.
- Schmerzen: Kopfschmerzen, neuropathische Schmerzen, muskuloskelettale Schmerzen.
- Spastik: Muskeltonuserhöhungen, verlangsamte Bewegungsabläufe, gesteigerte Muskeleigenereflexe.
- Fatigue: Hochgradige Erschöpfbarkeit, Müdigkeit und erhöhtes Schlafbedürfnis.
Verlaufsformen
Man unterscheidet die Multiple Sklerose in die schubförmig-remittierende MS sowie die primär und sekundär progrediente MS:
- Schubförmig remittierende MS (RRMS): Häufigste initiale Verlaufsform; Schübe sind mit einer kompletten oder inkompletten Symptomremission assoziiert.
- Sekundär progrediente Multiple Sklerose (SPMS): Entwickelt sich aus einer RRMS; charakterisiert durch Behinderungsprogression mit oder ohne repetitive Schübe.
- Primär progrediente Multiple Sklerose (PPMS): Behinderungsprogression von Beginn an, vereinzelte Schübe sind möglich.
Diagnose
Die Verdachtsdiagnose Multiple Sklerose ergibt sich primär aus der Anamnese und Klinik. Die Diagnose wird üblicherweise nach den international anerkannten McDonald-Kriterien gestellt.
Anamnese und körperliche Untersuchung
Zunächst sollten Hinweise auf zurückliegende Schübe und Symptome ermittelt werden. Fragen werden beispielsweise zu somatischen und psychischen Beschwerden, psychosozialen Belastungen sowie vorherigen oder bestehenden neuronalen Ausfällen und familiären MS-Diagnosen gestellt.
Klinische Untersuchung
Häufige Befunde bei der klinischen Untersuchung sind:
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- Marburg-Trias: Temporale Abblassung der Sehnervenpapillen, Paraspastik und das Fehlen von Bauchhautreflexen.
- Lhermitt’sches Zeichen: Elektrisierende Missempfindungen bei Vornüberbeugen des Kopfes entlang der Wirbelsäule.
- Sensibilitätsausfälle.
- Dysmetrische Zeigeversuche.
- Positives Babinski-Zeichen und gesteigerte Muskeleigenreflexe.
Bildgebende Verfahren
Neben der klinischen Symptomatik muss für die Diagnose MS der Nachweis einer zeitlichen und räumlichen Dissemination von Läsionen im ZNS erbracht werden. Das geeignetste Verfahren dafür ist die Magnetresonanztomographie (MRT).
Labordiagnostik
Eine Untersuchung der Liquorflüssigkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Differentialdiagnostik. Bei PPMS gilt die Liquordiagnostik nach den McDonald-Kriterien als obligat.
Therapie
Die Therapie der Multiplen Sklerose hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Vor allem die Immuntherapie bei MS zielt darauf ab, die Entzündungsaktivität zu verringern.
Therapie des akuten Schubs
Bei einem MS-Schub ist schnelle Behandlung entscheidend. Meist werden hochdosierte Kortikosteroide über 3-5 Tage intravenös oder oral verabreicht, um Entzündungen zu lindern. In schweren Fällen kann eine Plasmapherese (Blutwäsche) helfen, schädliche Antikörper zu entfernen.
Langzeitbehandlung mit Immuntherapien
Die Langzeitbehandlung mit Immuntherapien ist zentral bei MS. Sie kann den Verlauf positiv beeinflussen und Schübe bei schubförmiger MS (RRMS) reduzieren. Häufig genutzte Therapien wie Interferone, Glatirameracetat und Natalizumab zielen auf die Reduktion von Entzündungen und die Modulation des Immunsystems.
Medikamentöse Therapie bei Jugendlichen
Es gibt derzeit nur wenige kontrollierte prospektive klinische Studien für die Behandlung der pädiatrischen MS. Die Therapie erfolgt daher weitgehend in Anlehnung an die Leitlinien der MS im Erwachsenenalter, wobei bei Kindern und Jugendlichen verschiedene Besonderheiten zu beachten sind. Generell gilt: Je früher eine verlaufsmodifizierende Therapie bei Kindern und Jugendlichen beginnt, desto besser die Prognose.
- Interferone und Glatirameracetat: Empfohlen zur Behandlung bei mildem MS-Verlauf.
- Fingolimod, Natalizumab oder Rituximab: Bei neuen Schüben, MRT-Herden oder hochaktivem Verlauf. Fingolimod ist ab dem Alter von zehn Jahren zugelassen.
Symptomatische Therapie
Die symptomatische Therapie zielt darauf ab, verbleibende Symptome nach Schüben oder im Krankheitsverlauf zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Dazu zählen Medikamente wie Schmerzmittel, Muskelrelaxantien und Mittel gegen Fatigue sowie nicht-medikamentöse Ansätze wie Physiotherapie, Ergotherapie und psychologische Unterstützung.
Rehabilitation und Nachsorge
Die Rehabilitation und Nachsorge sind wesentliche Bestandteile der Therapie der Multiplen Sklerose. Die MS-Rehabilitation kann ambulant, tagesklinisch oder stationär erfolgen und umfasst Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie zur Förderung von Mobilität und Selbstständigkeit.
Alternative und komplementäre Therapien
Einige Patienten nutzen alternative Therapien zur Schmerzlinderung und Verbesserung der Lebensqualität:
- Akupunktur: Zur Schmerzlinderung und Entzündungsreduktion.
- Yoga und Meditation: Fördern Entspannung, reduzieren Stress und verbessern die allgemeine Lebensqualität.
- Pflanzliche Präparate: Einige Patienten setzen auf pflanzliche Heilmittel, wie Kurkuma oder Ginkgo, zur Unterstützung der Gesundheit.
MS-Management im Alltag
Das Alltagsmanagement bei MS erfordert Anpassungen, um Selbstständigkeit zu bewahren. Mobilitätshilfen, individuelle Therapien und eine feste Routine mit Ruhephasen helfen, Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern.
Leben mit MS im Jugendalter
An MS erkrankte Kinder sind am besten in MS-erfahrenen kinderneurologischen Krankenhäusern aufgehoben, in denen die ganzheitliche Betreuung auch den individuellen Blick auf die Lebenssituation, die Familie, den Berufswunsch und das soziale Umfeld richtet. Jugendliche mit MS sollten idealerweise in einer spezialisierten Klinik betreut werden, die sowohl Minderjährige als auch Erwachsene mit MS behandelt.
Aufgrund der Komplexität der MS-Erkrankung ist ein multidisziplinäres Team, bestehend aus Ärzten, Psychologen, Physio- und Ergotherapeuten sowie Sozialpädagogen erforderlich, das bei der pädiatrischen MS behandelt und unterstützt. Neben der medikamentösen Therapie sollte das Augenmerk auf den kognitiven Beeinträchtigungen und der Krankheitsverarbeitung liegen, damit rechtzeitig reagiert werden kann, wenn die schulische Leistung beeinträchtigt wird.
Forschung und Zukunftsperspektiven
Die MS-Forschung macht Fortschritte, besonders bei Immuntherapien, die Entzündungen hemmen und Schübe reduzieren. Neue DMTs verlangsamen das Fortschreiten der Krankheit. Zukünftige Ansätze wie genetische Studien, personalisierte Therapien und Stammzellbehandlungen bieten Hoffnung auf bessere Behandlungen und mögliche Heilung.
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