Multiple Sklerose: Ein umfassender Überblick über Maßnahmen und Therapieansätze

Die Multiple Sklerose (MS), auch Encephalomyelitis disseminata (ED) genannt, ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. Sie ist die häufigste neurologische Autoimmunerkrankung und betrifft weltweit etwa 2,8 Millionen Menschen. In Deutschland wird die Anzahl der MS-Erkrankten auf etwa 252.000 geschätzt, wobei jährlich etwa 14.600 Neuerkrankungen hinzukommen. Frauen sind etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Männer, insbesondere bei der schubförmig remittierenden MS (RRMS). Das Durchschnittsalter bei Diagnosestellung liegt bei etwa 33 Jahren.

Was ist Multiple Sklerose?

Multiple Sklerose ist eine autoimmune Erkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die Nervenscheiden (Myelin) im Gehirn und Rückenmark angreift. Diese Schädigung der Nervenscheiden führt zu einer gestörten Weiterleitung elektrischer Signale, was verschiedene neurologische Symptome auslösen kann. Die Erkrankung verläuft meist in Schüben, kann aber auch einen progredienten Verlauf nehmen. Aufgrund der vielfältigen Symptome und Verlaufsformen wird MS oft als die "Krankheit der 1000 Gesichter" bezeichnet.

Ursachen und Risikofaktoren

Die genauen Ursachen für die Entstehung von Multipler Sklerose sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren eine Rolle spielt. Dazu gehören:

  • Genetische Prädisposition: Es wurden über 110 genetische Variationen identifiziert, die bei MS-Erkrankten häufiger vorkommen. Allerdings ist MS keine Erbkrankheit im klassischen Sinne.
  • Umwelteinflüsse: Verschiedene Umwelteinflüsse werden diskutiert, darunter:
    • Vitamin-D-Mangel: Studien deuten darauf hin, dass eine unzureichende Vitamin-D-Versorgung das Risiko für MS erhöhen könnte. Es gibt weniger Krankheitsfälle in sonnenreichen Zonen.
    • Infektionen: Bestimmte Virusinfektionen, insbesondere mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) und dem Humanen Herpesvirus 6 (HHV-6), könnten das Risiko für MS erhöhen.
    • Rauchen: Nikotinkonsum scheint ein Risikofaktor für die Krankheitsentstehung zu sein.
    • Übergewicht: Insbesondere stark übergewichtige Kinder und Jugendliche scheinen ein erhöhtes Risiko zu haben, an MS zu erkranken.
    • Darm-Mikrobiom: Die im Darm lebenden Mikroorganismen könnten die Entwicklung einer Multiplen Sklerose beeinflussen.

Symptome und Verlauf

Multiple Sklerose kann sich durch eine Vielzahl von Symptomen äußern, die je nach betroffenem Hirnareal und Krankheitsverlauf variieren. Häufige Symptome sind:

  • Sehstörungen: Verschwommenes Sehen, Doppeltsehen, Sehausfall, Augenschmerzen (Optikusneuritis)
  • Sensibilitätsstörungen: Kribbeln, Taubheitsgefühl, Schmerzen
  • Motorische Störungen: Muskelschwäche, Spastik, Koordinationsstörungen, Zittern (Tremor)
  • Fatigue: Müdigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsstörungen
  • Kognitive Beeinträchtigungen: Gedächtnisprobleme, Aufmerksamkeitsdefizite
  • Blasen- und Darmfunktionsstörungen: Inkontinenz, Harnverhalt, Verstopfung
  • Sexuelle Funktionsstörungen: Nachlassende Libido, Erektile Dysfunktion

Der Krankheitsverlauf kann sehr unterschiedlich sein. Man unterscheidet hauptsächlich folgende Verlaufsformen:

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  • Schubförmig-remittierende MS (RRMS): Die häufigste Verlaufsform, bei der sich Schübe mit Phasen der teilweisen oder vollständigenRemission abwechseln.
  • Sekundär progrediente MS (SPMS): Entwickelt sich aus einer RRMS, wobei die Symptome nach einem Schub kaum noch oder gar nicht mehr zurückbilden und eine fortschreitende Behinderung resultiert.
  • Primär progrediente MS (PPMS): Seltenere Verlaufsform, bei der die Behinderung von Beginn an fortschreitet, ohne dass es zu deutlichen Schüben kommt.

Diagnose

Die Diagnose der Multiplen Sklerose basiert auf einer Kombination aus Anamnese, neurologischer Untersuchung, Magnetresonanztomographie (MRT) und Liquordiagnostik.

  • Anamnese und neurologische Untersuchung: Erhebung der Krankheitsgeschichte und Untersuchung der neurologischen Funktionen, um Symptome und Anzeichen von MS festzustellen.
  • Magnetresonanztomographie (MRT): Bildgebendes Verfahren, um Entzündungsherde (Läsionen) im Gehirn und Rückenmark sichtbar zu machen und die räumliche und zeitliche Verteilung der Läsionen (Dissemination in Space und Dissemination in Time) nachzuweisen.
  • Liquordiagnostik: Untersuchung des Nervenwassers (Liquor) auf spezifische Entzündungsmarker, wie z.B. oligoklonale Banden, um eine Entzündung im ZNS nachzuweisen.

Die Diagnose wird in der Regel nach den international anerkannten McDonald-Kriterien gestellt. Da MS eine Ausschlussdiagnose ist, müssen andere mögliche Ursachen für die Symptome ausgeschlossen werden.

Therapie

Obwohl Multiple Sklerose nicht heilbar ist, gibt es verschiedene Therapieansätze, um den Krankheitsverlauf zu beeinflussen, Schübe zu reduzieren und die Symptome zu lindern. Die Therapie stützt sich auf mehrere Säulen:

1. Schubtherapie

Behandlung akuter Schübe, um die Entzündung im ZNS zu reduzieren und die Symptome schnellstmöglich zu verbessern. Mittel der Wahl ist die hochdosierte Cortison-Pulstherapie, bei der Glukokortikoide (Cortison) über mehrere Tage als Infusion verabreicht werden. In schweren Fällen, die nicht auf Cortison ansprechen, kann eine Plasmapherese (Blutwäsche) oder Immunadsorption in Betracht gezogen werden.

2. Verlaufsmodifizierende Therapie (Basistherapie)

Ziel ist es, die Häufigkeit und Schwere der Schübe zu reduzieren, das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen und die beschwerdefreie Zeit zu verlängern. Es gibt verschiedene Medikamente, die in die Immunprozesse eingreifen und das Immunsystem modulieren oder unterdrücken.

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Medikamente für schubförmige MS (RRMS):

  • Beta-Interferone (IFN-ß): Werden als Spritze verabreicht und können die Aktivität von Entzündungszellen einschränken und deren Durchtritt durch die Blut-Hirn-Schranke hemmen.
  • Glatirameracetat: Wird ebenfalls als Spritze verabreicht und beeinflusst die Funktion von Entzündungszellen, sodass diese weniger aktiv gegen körpereigenes Gewebe vorgehen.
  • Dimethylfumarat: Wird als Tablette eingenommen und beeinflusst die Funktion von Entzündungszellen. Es hat möglicherweise zusätzlich einen gewebeschützenden Effekt auf Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark.
  • Teriflunomid: Wird als Tablette eingenommen und reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Teilung und Vermehrung aktivierter weißer Blutkörperchen.
  • Fingolimod, Siponimod, Ponesimod, Ozanimod: Diese neueren Medikamente in Tablettenform verhindern die Freisetzung von T- und B-Lymphozyten aus den Lymphknoten, wodurch deren Eindringen ins ZNS reduziert wird.
  • Natalizumab: Ein monoklonaler Antikörper, der das Einwandern von Entzündungszellen in das Gehirn hemmt.
  • Ocrelizumab, Ofatumumab: Monoklonale Antikörper, die spezifisch die Zahl der B-Lymphozyten verringern.
  • Alemtuzumab: Ein monoklonaler Antikörper mit langandauernden immunsuppressiven Eigenschaften, der die Anzahl reifer Lymphozyten im Blut verringert.
  • Cladribin: Ein Wirkstoff in Tablettenform, der zu einer langandauernden Unterdrückung von Teilen des Immunsystems führt.

Medikamente für primär progrediente MS (PPMS):

  • Ocrelizumab: Das erste zugelassene Medikament für PPMS, das die Krankheitsaktivität dämpfen und das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen kann.

Medikamente für sekundär progrediente MS (SPMS):

  • Siponimod: Seit 2020 in der EU zugelassen gegen sekundär progrediente MS.
  • Mitoxantron: Ein Immunsuppressivum, das bei einem Verlauf mit drastischer Beschwerdezunahme in kurzer Zeit eingesetzt werden kann.

Die Wahl des geeigneten Medikaments hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie z.B. dem Krankheitsverlauf, der Krankheitsaktivität, Begleiterkrankungen und den individuellen Wünschen des Patienten.

3. Symptomatische Therapie

Linderung von MS-bedingten Beschwerden und Vorbeugung möglicher Komplikationen. Die symptomatische Therapie umfasst verschiedene nicht-medikamentöse und medikamentöse Maßnahmen:

  • Physiotherapie: Zur Verbesserung von Kraft, Koordination, Gleichgewicht und Beweglichkeit.
  • Ergotherapie: Zur Verbesserung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) und zur Anpassung des Arbeitsplatzes.
  • Logopädie: Zur Behandlung von Sprech- und Schluckstörungen.
  • Psychotherapie: Zur Bewältigung von psychischen Belastungen, Depressionen und Ängsten.
  • Medikamentöse Behandlung von spezifischen Symptomen: z.B. Spastik, Schmerzen, Fatigue, Blasenfunktionsstörungen.

Weitere Maßnahmen:

  • Funktionstraining: Regelmäßige bewegungstherapeutische Übungen in der Gruppe unter fachkundiger Anleitung.
  • Hippotherapie: Physiotherapeutische Behandlung auf neurophysiologischer Basis mit und auf dem Pferd.
  • Physikalische Therapie: Verschiedene Behandlungen zur Verringerung von Schmerzen und zur Regulierung der Muskelspannung.
  • Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse, Obst undBallaststoffen kann sich positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken. Bestimmte Ernährungsformen (paläolithisch, mediterran, low-fat) könnten helfen, Fatigue zu verringern.
  • Vitamin D: Eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung ist wichtig. MS-Patienten mit normalen Vitamin-D-Spiegeln können, nach Rücksprache mit ihrem Arzt, Vitamin D ergänzend einnehmen.
  • Stressbewältigung: Methoden zur Stressbewältigung, wie z.B. Achtsamkeitstraining, Meditation, Yoga oder autogenes Training, können helfen, Stress abzubauen und Schübe zu vermeiden.
  • Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen kann Halt geben und die Lebensqualität verbessern.
  • Patientenverfügung: Eine Patientenverfügung stellt sicher, dass die medizinischen Wünsche des Patienten auch in unerwarteten Situationen respektiert werden.

MS-Forschung und neue Medikamente

Die Forschung im Bereich der Multiplen Sklerose ist sehr aktiv. Es werden kontinuierlich neue Medikamente und Therapieansätze entwickelt, um die Behandlung der MS zu verbessern. Ein wichtiger Schwerpunkt liegt auf der Weiterentwicklung von immunmodulatorischen Substanzen, die das Voranschreiten der Behinderung effektiver unterbinden sollen. Auch die Erforschung der Rolle von T-Zellen und B-Zellen im Autoimmunprozess steht im Fokus. Darüber hinaus wird an Medikamenten geforscht, die den Anwendungskomfort durch längere Anwendungsintervalle oder eine orale Verabreichung erhöhen.

Einige Wirkstoffe in Erprobung oder im Zulassungsverfahren:

  • Siponimod (BAF-312): Mayzent ist in der EU seit 01/2020 gegen sekundär progrediente MS zugelassen.
  • Ozanimod: OCREVUS ist in der EU seit 05/2020 gegen schubförmige MS zugelassen.
  • Ponesimod: In klinischer Erprobung, Phase III.
  • Immunoglobulin Octagam: In klinischer Erprobung.

Leben mit Multipler Sklerose

Die Diagnose Multiple Sklerose kann zunächst Angst und Unsicherheit auslösen. Es ist wichtig, die Erkrankung anzunehmen und das Leben aktiv mit der MS zu gestalten. Eine positive Einstellung, eine gute Selbstpflege und die Unterstützung durch Familie, Freunde und Therapeuten können die Lebensqualität erheblich verbessern.

Tipps für den Alltag:

  • Rauchen aufgeben.
  • Auf eine ausgewogene Ernährung achten.
  • Sich ausreichend bewegen.
  • Auf die mentale Gesundheit achten.
  • Vitamin-D-Spiegel bestimmen lassen und ggf. ergänzen.
  • Hitze vermeiden.
  • Stress reduzieren.
  • Sich über die Erkrankung informieren und aktiv an der Therapie teilnehmen.
  • Hilfe annehmen und sich Unterstützung suchen.
  • Reisen gut planen und auf die eigenen Grenzen achten.

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