Multiple Sklerose (MS) und Schilddrüsenerkrankungen, insbesondere die Hashimoto-Thyreoiditis, treten häufiger gemeinsam auf als erwartet. Dieser Artikel beleuchtet die komplexen Zusammenhänge zwischen diesen beiden Autoimmunerkrankungen und gibt Einblicke in Diagnose, Behandlung und die Bedeutung einer ganzheitlichen Betrachtungsweise.
Hashimoto-Thyreoiditis und ihre möglichen Begleiterkrankungen
Bei etwa 25 % der Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis treten weitere Erkrankungen auf. Wegen der Vielzahl möglicher Begleit- und Folgeerkrankungen sollte bei Kontrolluntersuchungen von Hashimoto-Patienten nicht nur die Schilddrüse isoliert betrachtet werden, sondern im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung auch andere Organe wie z.B. Herz, Gefäße, Leber und Niere mit untersucht werden. Nahezu alle potentiellen Begleiterkrankungen einer Hashimoto-Thyreoiditis lassen sich durch die Bestimmung von spezifische Laborwerten in Kombination mit Ultraschalluntersuchungen ausschließen bzw. frühzeitig diagnostizieren.
Liste möglicher Begleit- & Folgeerkrankungen bei Hashimoto-Thyreoiditis:
(Die Auflistung ist ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Nicht bei allen ist eine Autoimmunreaktion die Ursache.)
- Auge: Endokrine Orbitopathie
- Bindegewebe: Sarkoidose, Sklerodermie, Lupus erythematodes
- Muskulatur: Polymyositis, Myasthenia gravis
- Blut: Perniziöse Anämie, Morbus Werlhof, Kälteagglutininkrankheit
- Darm: Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Zöliakie
- Eierstöcke: Polcystisches Ovar (PCO), Endometriose
- Gefäße: Arteriosklerose, Takayasu-Arteriitis, Churge-Strauss-Syndrom, Morbus Wegener, Panarteriitis nodosa, Riesenzellarteriitis
- Gelenke: Rheumatoide Arthritis, Fibromyalgie, Morbus Bechterew, Sjögren-Syndrom, Polymyalgia rheumatica, Dermatomyositis, Kälteagglutinkrankheit
- Haut: Vitiligo, Alopecia areata (Haarausfall), Psoriasis, Lupus erythematodes, Urticaria, Lichen sclerosus, Morbus Behcet, Pemphigus vulgaris
- Leber: Chronische Autoimmunhepatitis, Primär biliäre Zirrhose, Primär sklerosierende Cholangitis, IgG4-assoziierte Cholangitis
- Magen: Chronische Autoimmungastritis
- Muskeln: Dermatomyositis, Fibromyalgie, Myasthenia gravis
- Nahrungsmittelunverträglichkeiten: Histaminintoleranz, Mastzellenaktivierungssyndrom, Laktoseintoleranz, Fruktosemalabsorption
- Nebenniere: Morbus Addison (Nebennierenschwäche)
- Nerven: Multiple Sklerose, Polyneuropathie, Myasthenia gravis, Guillain-Barre-Syndrom
- Gehirn: Autoimmun-Encephalitis, Hashimoto-Encephalopathie
- Niere: Goodpasture-Syndrom, Glomerulonephritis, Lupus erythematodes, Retroperitonealfibrose
- Thrombosen/Lungenembolie: Antiphospholipid-Syndrom
- Blutungen: Morbus Werlhof
- Schilddrüse: Morbus Basedow, Schilddrüsenkrebs (Papilläres Schilddrüsenkarzinom)
Die Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen bei MS-Patienten
Eine von Prof. Pul vorgestellte Auswertung zeigte, dass 16,1 % der MS-Patient*innen mindestens eine weitere Autoimmunerkrankung haben - in der Allgemeinbevölkerung sind es nur 4 %. Besonders häufig tritt die autoimmune Thyreoiditis (Hashimoto), eine Erkrankung der Schilddrüse, auf.
Multiple Sklerose (MS): Eine Übersicht
Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der das Immunsystem die Myelinscheiden der Nervenfasern angreift. Dies führt zu vielfältigen neurologischen Symptomen, deren Schweregrad und Verlauf individuell sehr unterschiedlich sein können.
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Verlaufsformen der MS
Es gibt verschiedene Verlaufsformen der MS:
- Schubförmig remittierende Multiple Sklerose
- Sekundär chronisch progrediente Multiple Sklerose
- Sekundär chronisch progrediente Multiple Sklerose mit aufgesetzten Schüben
- Primär chronisch progrediente Multiple Sklerose
Die Einteilung ist rein klinisch zu sehen. Inzwischen geht man davon aus, dass auch z.B: bei schubförmigen Verläufen chronisch entzündliche Prozesse im ZNS parallel ablaufen.
- Schub: Auftreten von neurologischen Ausfällen, die mindestens 24h anhalten und ohne Einfluß äußerer Faktoren wie Infektion, Temperaturschwankungen o.ä. auftreten
- Chronische Progredienz: Zunehmende Verschlechterung neurologischer Defizite, die chronisch fortschreiten, ohne Nachweis akuter Verschlechterungen und ohne Remissionen
Diagnostische Kriterien und Befunde
Die Diagnose der MS stützt sich auf verschiedene Kriterien, darunter:
- Klinische Symptome: Neurologische Ausfälle, die zeitlich und räumlichMultiple Sklerose verteilt auftreten.
- MRT-Befunde: Läsionen im Gehirn und Rückenmark, die typisch für MS sind.
- Lokalisation und Form der Herde: periventrikulär, juxtakortikal, periaquaeduktal, infratentoriell, kortikal, faszikuläre Hirnstamm-Fasern, mediales longitudinale Faszikel (MLF) asymmetrisch
- Form typischerweise (rundlich)-oval
- Black-Holes : Nachweis als Hypointensität in T1-Wichtung
- KM-Aufnahme: nodulär, ringförmig, randständig
- Double Inversion Recovery-Sequenz (DIR): Gut zur Darstellung kortikaler Läsionen
- Zentrales Venenzeichen (CVS): Typisch für Multiple Sklerose
- Paramagnetische RIM-Läsionen: Neben dem CVS neues Diagnosekriterium für die McDonald Kriterien 2024
- Liquoruntersuchung: Nachweis von oligoklonalen Banden und intrathekaler IgG-Synthese.
- 5-50 Zellen/µl
- Lympho- monozytäres Zellbild
- Nachweis von Plasmazellen
- Oligoklonale Banden
- Intrathekale IgG-Synthese bei MS 70-95%
- Bei CIS 40-60%
- Sensitivität 95%
- Evtl. wiederholte LP, Nachweis der OKB abhängig vom klinischen Verlauf (z.B. während Schub Wahrscheinlichkeit des Nachweises höher)
- Reiber-Schema
- Positive MRZ-Reaktion: Antiköper-Nachweis gegen Masern-, Röteln-, Varizella zoster in ca. 90% positiv, DD NMO: Hier nur in ca.
Therapie der MS
Die Therapie der MS zielt darauf ab, Schübe zu behandeln, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen und Symptome zu lindern. Es gibt verschiedene Medikamente, die als Basistherapie eingesetzt werden, sowie Medikamente zur Behandlung von akuten Schüben.
Therapie der milden/moderaten Verlaufsform:
- Dimethylfumarat
- Glatirameracetat
- Interferon beta-1a
- PEG-Interferon beta-1a
- Interferon beta-1b
- Ozanimod
- Ponesimod
- Teriflunomid
- Nur in seltenen Indikationen: Azathioprin, Immunglobuline
Therapie der (hoch-) aktiven Verlaufsform:
- Alemtuzumab
- Cladribine
- Natalizumab
- Fingolimod
- Ocrelizumab
- Ofatumumab
- Ublituximab
Hashimoto-Thyreoiditis: Eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse
Hashimoto-Thyreoiditis ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die Schilddrüse angreift und zerstört. Dies führt zu einer chronischen Entzündung der Schilddrüse und schließlich zu einer Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose).
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Symptome der Hashimoto-Thyreoiditis
Die Symptome einer Hashimoto-Thyreoiditis können vielfältig sein und entwickeln sich oft schleichend. Häufige Symptome sind:
- Müdigkeit und Erschöpfung
- Gewichtszunahme
- Kälteempfindlichkeit
- Verstopfung
- Depressive Verstimmung
- Konzentrationsstörungen
- Trockene Haut
- Haarausfall
Diagnose der Hashimoto-Thyreoiditis
Die Diagnose der Hashimoto-Thyreoiditis wird in der Regel anhand von Blutuntersuchungen gestellt, bei denen die Schilddrüsenhormone (TSH, fT3, fT4) und Schilddrüsenantikörper (TPO-AK, TG-AK) bestimmt werden. Zusätzlich kann eine Ultraschalluntersuchung der Schilddrüse durchgeführt werden, um die Struktur und Größe der Schilddrüse zu beurteilen.
Behandlung der Hashimoto-Thyreoiditis
Die Behandlung der Hashimoto-Thyreoiditis besteht in der Regel in der Einnahme von Schilddrüsenhormonen (L-Thyroxin), um den Hormonmangel auszugleichen. Die Dosis des Medikaments wird individuell angepasst, um eine optimale Schilddrüsenfunktion zu erreichen.
Zusammenhang zwischen MS und Hashimoto-Thyreoiditis
Obwohl die genauen Mechanismen noch nicht vollständig verstanden sind, gibt es Hinweise darauf, dass MS und Hashimoto-Thyreoiditis aufgrund gemeinsamer genetischer und immunologischer Faktoren gehäuft zusammen auftreten. Beide Erkrankungen sind Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem körpereigenes Gewebe angreift. Es wird vermutet, dass eine genetische Prädisposition und Umweltfaktoren eine Rolle bei der Entwicklung beider Erkrankungen spielen können.
Auswirkungen auf den MS-Verlauf
In der Studie konnte kein genereller Einfluss einer autoimmunen Begleiterkrankung auf den MS-Verlauf gesehen werden. Eine Ausnahme könnte die rheumatoide Arthritis darstellen, bei der die Gelenke durch das körpereigene Immunsystem angegriffen werden. Eine Studie zeigte, dass eine gleichzeitig auftretende rheumatoide Arthritis die Schubrate der MS erhöhen könnte.
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Schilddrüsenunterfunktion und ihre Auswirkungen
In der Regel bekommen Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis als Folge der anhaltenden Zerstörung der Schilddrüse durch Antikörper eine Schilddrüsenunterfunktion. Eine im Januar 2017 veröffentliche Metaanalyse der chinesischen Kardiologen um Dr. Yu Ning der Universität Peking, bei der die Ergebnisse von 55 Studien mit insgesamt 1,9 Millionen Patienten in Europa und Nordamerika ausgewertet wurden, konnte zeigen, dass eine Schilddrüsenunterfunktion das Risiko für Erkrankungen des Herzens und der Gefäße in nicht unerheblichen Maße erhöht. Die Ursache des gesteigerten Risikos für Erkrankungen des Herzens ist eine vorzeitige Arteriosklerose.
Diagnose und Behandlung bei gleichzeitigem Auftreten von MS und Hashimoto
Bei Patienten mit MS ist es wichtig, regelmäßig die Schilddrüsenfunktion zu überprüfen, um eine Hashimoto-Thyreoiditis frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Umgekehrt sollten Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis auf neurologische Symptome geachtet werden, die auf MS hindeuten könnten.
Berücksichtigung von Begleiterkrankungen bei der MS-Therapie
Deshalb ist es wichtig, Begleiterkrankungen in die Wahl der MS-Therapie einzubeziehen. Manche Medikamente wirken sowohl bei MS als auch bei anderen Autoimmunerkrankungen. Beispielsweise wird Dimethylfumarat sowohl zur Behandlung von MS als auch von Schuppenflechte eingesetzt. Vorsicht ist allerdings bei TNF-Hemmern geboten: Diese Medikamente, die oft bei rheumatoider Arthritis und Schuppenflechte eingesetzt werden, sollten bei MS nicht verwendet werden, da sie die Krankheit verschlimmern könnten. Es lohnt sich, aktuelle Studien im Blick zu behalten, um neue Erkenntnisse zu Medikamenten zu gewinnen, die bei mehreren Autoimmunerkrankungen gleichzeitig helfen könnten.
Weitere Begleiterkrankungen bei MS
Auffällig ist, dass fast die Hälfte der MS-Patient*innen mit Migräne auch an einer Aura leiden. Bei ihnen kommt es vor und während des eigentlichen Kopfschmerz-Attacke zu Seh-, Gefühls- oder Sprachstörungen. Zum Vergleich: Bei Menschen ohne MS und mit Migräne tritt eine Aura nur in etwa 20 % der Fälle auf.
Fallbeispiele und Expertenmeinungen
Prof. Erich Mauch : Hallo Filomena, nach meinen Erfahrungen kommt eine reine Schilddrüsenunterfunktion bei MS nicht gehäuft vor und die MS hat auch sicher keinen Einfluss auf die Schilddrüse. Allerdings sind Schilddrüsenunterfunktionen in Süddeutschland ohnehin sehr häufig. Gehäuft vorkommen dürfte die Hashimoto-Thyreoiditis bei MS - dies ist die Autoimmunerkrankung der Schilddrüse.
Prof. Erich Mauch : Hallo Andrea, mit Ihren drei Erkrankungen sind Sie leider ein typisches Beispiel für die häufigsten Kombinationen von Autoimmunerkrankungen. Das Risiko für Ihren Sohn, auch noch an MS zu erkranken, kann ich nur schwer einschätzen. Nach meinem Bauchgefühl dürfte es aber nicht wesentlich höher sein als bei Menschen ohne diese Vorbelastungen.
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