Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. Sie wird auch Encephalomyelitis disseminata (ED) genannt. Bei MS greift das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinschicht an, die die Nervenfasern umgibt, was zu Entzündungen und Schädigungen führt. Dieser Prozess kann verschiedene neurologische Symptome verursachen, die in ihrer Art und Schwere stark variieren können. Die Erkrankung verläuft meist in Schüben, aber es gibt auch fortschreitende Verlaufsformen.
Was ist ein MS-Schub?
Ein MS-Schub ist definiert als das Auftreten neuer oder die Verschlechterung bereits bekannter Symptome, die länger als 24 Stunden anhalten und nicht durch andere Faktoren wie Infektionen oder Fieber erklärt werden können. Die Symptome können plötzlich innerhalb von Stunden oder Tagen auftreten und zwischen einigen Tagen bis zu wenigen Wochen andauern. Ein Schub ist in der Regel ein Zeichen von Krankheitsaktivität, bei der Entzündungsherde (Läsionen) die Weiterleitung von Nervenimpulsen in den betroffenen Nervenfasern behindern oder ein Verlust von Gehirnvolumen vorliegt.
Es ist wichtig, einen "echten" MS-Schub von einem Pseudoschub zu unterscheiden. Bei einem Pseudoschub verschlechtern sich bestehende neurologische Symptome oder die allgemeine Leistungsfähigkeit vorübergehend aufgrund von kurzzeitigen körperlichen oder psychischen Extrembelastungen. Ein bekanntes Beispiel ist das Uhthoff-Phänomen, bei dem eine Erhöhung der Körpertemperatur, beispielsweise durch sportliche Anstrengungen, einen Saunabesuch, Hitze oder Fieber, zu einer Verschlechterung der Symptome führt.
Ursachen und Auslöser von MS-Schüben
Die genauen Vorgänge, die einen MS-Schub auslösen, sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren eine Rolle spielt. Dazu gehören:
- Genetische Veranlagung: Eine erbliche Veranlagung kann das Risiko, an MS zu erkranken, erhöhen.
- Umweltfaktoren: Bestimmte Umweltfaktoren wie Virusinfektionen (z. B. mit Masern-, Herpes- oder Epstein-Barr-Viren), Vitamin-D-Mangel, Rauchen und Übergewicht können zum Ausbruch der Erkrankung beitragen.
- Extreme Belastungen: Akute fieberhafte Infekte, Operationen, manche Impfungen (besonders solche mit Lebendimpfstoffen) und hormonelle Umstellungen können Schübe begünstigen.
- Psychische Belastungen: Familiäre oder berufliche Belastungen können ebenfalls zur Entstehung eines erneuten Schubes beitragen.
Symptome eines MS-Schubs
Die Symptome eines MS-Schubs können sehr unterschiedlich sein, je nachdem, welche Bereiche des Gehirns oder Rückenmarks von der Entzündung betroffen sind. Typische Symptome sind:
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- Sehstörungen: Verschwommen- oder Nebelsehen, Sehausfall, Doppelbilder, Augenbewegungsschmerzen.
- Sensibilitätsstörungen: Kribbeln, Taubheitsgefühl, Missempfindungen in Armen und Beinen.
- Motorische Störungen: Muskelschwäche, Krämpfe, Muskelzuckungen, Schwerfälligkeit, spastische Lähmungserscheinungen, Gangunsicherheit, Koordinationsstörungen.
- Weitere Symptome: Müdigkeit (Fatigue), Konzentrationsstörungen, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Blasen- oder Mastdarmstörungen, Schmerzen.
Es ist wichtig zu beachten, dass nicht jedes Kribbeln oder jede Art von Schmerzen auf einen MS-Schub hindeutet. Es gibt viele andere, oft harmlose Ursachen für solche unspezifischen Symptome.
Dauer eines MS-Schubs
Die Dauer eines MS-Schubs variiert stark. Sie kann zwischen einigen Stunden, Tagen oder Wochen liegen. In den meisten Fällen bilden sich die Symptome nach einem Schub teilweise oder vollständig zurück. Zu Beginn der MS ist die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Rückbildung der Symptome höher, da der Körper versucht, die beschädigten Nervenbahnen durch Remyelinisierung zu reparieren. Im Verlauf der MS nimmt dieses Reparaturpotenzial jedoch ab.
Therapie eines MS-Schubs
Ein akuter MS-Schub ist immer ein Notfall und sollte so schnell wie möglich behandelt werden. Die Schubsymptome sollten möglichst innerhalb der nächsten zwei bis fünf Tage behandelt werden. Die Standardtherapie beim akuten MS-Schub ist die hochdosierte Kortison-Stoß-Therapie mit Methylprednisolon, einem künstlichen Glukokortikoid.
Kortison-Stoß-Therapie
- Wirkweise: Glukokortikoide hemmen den Entzündungsprozess und das Immunsystem. Sie wirken direkt auf die Störung der Blut-Hirn-Schranke ein, die beim MS-Schub vorliegt.
- Verabreichungsform: Intravenöse Infusion, üblicherweise in einer Dosierung von 1000 mg an drei aufeinander folgenden Tagen, stationär oder ambulant.
- Dauer: Üblicherweise drei Tage, bei unzureichender Besserung kann die Therapie auf fünf Tage verlängert werden. Ein Ausschleichen mit Kortison-Tabletten ist in der Regel nicht notwendig.
- Wiederholung: Wenn sich die Symptome nach zweiwöchiger Pause immer noch nicht ausreichend zurückgebildet haben, kann die Therapie nach den aktuellen Empfehlungen der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe wiederholt werden, und zwar mit einer Dosierung von bis zu 2000 mg über fünf Tage.
- Nebenwirkungen: Magenbeschwerden, Übelkeit und Erbrechen, Unruhe und Schlafstörungen, psychische Störungen, Unverträglichkeitsreaktionen. Bei Diabetikern Gefahr von erhöhten/entgleisenden Blutzuckerwerten. Erhöhtes Risiko für epileptische Anfälle bei Patienten, die dazu neigen, und für Thrombose, insbesondere bei Patienten mit Paresen (Lähmungen).
- Gegenanzeigen: Starke Erkältung, Allergie gegen Methylprednisolon, ausgeprägte Magen-Darm-Geschwüre, ausgeprägte psychische Störungen, reaktivierbare Tuberkulose.
Plasmapherese (Blutwäsche) und Immunadsorption
In besonders schweren Fällen, beispielsweise bei Lähmung mit Rollstuhlpflichtigkeit oder Sehnerv-Entzündung mit Blindheit, oder wenn die Kortison-Therapie nicht ausreichend wirksam ist, kann eine Plasmapherese (Blutwäsche) oder Immunadsorption versucht werden.
- Plasmapherese: Hierbei wird Blut entnommen, gereinigt und wieder in den Körper zurückgeleitet.
- Immunadsorption: Eine spezielle Form der Blutwäsche, bei der das Blut in Plasma (Blutflüssigkeit) und Blutzellen getrennt wird. Das Plasma wird dann durch eine Säule geleitet, die bestimmte Immunzellen oder Antikörper entfernt.
- Dauer: Die Therapie erfolgt stationär und dauert etwa ein bis zwei Wochen. Dabei wird etwa jeden zweiten Tag eine Behandlung von etwa drei Stunden Dauer durchgeführt.
Die Kosten für eine Plasmapherese oder die Immunadsorption werden in der Regel von der Krankenkasse übernommen.
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Weitere Maßnahmen
Neben der medikamentösen Therapie gibt es weitere Maßnahmen, die bei einem MS-Schub hilfreich sein können:
- Ruhe und Entspannung: Gönnen Sie sich während einer Schub-Phase viel Ruhe und vermeiden Sie Stress.
- Körperliche Aktivität: Leichte körperliche Aktivität kann helfen, die Symptome zu lindern und die Genesung zu fördern.
- Ernährung: Achten Sie auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Eine spezielle MS-Diät gibt es zwar nicht, aber eine antientzündliche Ernährung oder eine Ernährung mit viel Vitamin D kann sinnvoll sein.
- Psychologische Unterstützung: Bei Bedarf kann eine psychologische Beratung oder Therapie helfen, mit den Belastungen der MS umzugehen.
Verlauf der Multiplen Sklerose
Die Multiple Sklerose zeigt sehr unterschiedliche Krankheitsverläufe, die sich von Person zu Person stark unterscheiden können. Es gibt verschiedene Verlaufsformen:
- Schubförmig-remittierende MS (RRMS): Hier treten Symptome in Form von Schüben auf, die sich nach Tagen bis Wochen wieder bessern. Zwischen den Schüben können längere Zeiträume ohne oder mit nur leichten Beschwerden liegen.
- Primär progrediente MS (PPMS): Bei einem fortschreitenden Verlauf entwickeln Patienten langsam Symptome, die sich mit der Zeit nicht mehr verbessern, sondern bleiben oder sich gar verschlechtern. Es gibt keine spürbaren Schübe, sondern eine schleichende Verschlechterung.
- Sekundär progrediente MS (SPMS): Bei einem Teil der Betroffenen setzt nach circa 15 bis 20 Jahren ein Prozess ein, der mit einer schleichenden Zunahme der Einschränkungen einhergeht - ganz unabhängig von Schüben. Dieser Verlauf ähnelt dann sehr dem primär progredienten Verlauf.
- Schubförmig-progrediente MS (PRMS): Eine seltene Verlaufsform, bei der die Symptome sich langsam fortschreitend verschlechtern, zusammen mit zwischenzeitlich auftretenden Schüben, die sich vollständig zurückbilden.
Medikamentöse Therapie zur Verlaufsmodifizierung
Neben der Schubtherapie gibt es Medikamente, die den Verlauf der MS beeinflussen können. Diese Medikamente werden als verlaufsmodifizierende Therapien oder Basistherapien bezeichnet. Sie sollen die Häufigkeit und Schwere der Schübe reduzieren und das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen.
Für Patientinnen und Patienten mit schubförmig verlaufender Erkrankung stehen mehrere Medikamente zur Verfügung, die den Angriff des Immunsystems auf die Nervenzellen abschwächen. Zu den schon am längsten verfügbaren Basistherapeutika zählen die Betainterferon-Präparate und das synthetische Peptidgemisch Glatirameracetat; sie alle müssen regelmäßig gespritzt werden. Schon seit 2011 kamen aber auch Basistherapeutika in Tablettenform heraus, mit den Wirkstoffen Fingolimod, Siponimod, Ponesimod, Ozanimod, Teriflunomid, Dimethylfumarat und Cladribin.
Für Patienten mit primär-progredienter MS (PPMS) gab es lange Zeit trotz intensiver Forschung kein zugelassenes Basis-Medikament. Im Jahr 2018 kam erstmals ein solches Medikament heraus; das Präparat enthält den Antikörper Ocrelizumab und kann die Krankheitsaktivität dämpfen.
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Leben mit Multipler Sklerose
Die Diagnose Multiple Sklerose kann zunächst große Angst auslösen. Es ist wichtig, die Erkrankung anzunehmen und das Leben mit der MS zu gestalten - statt gegen sie. Es gibt viele Möglichkeiten, die Lebensqualität zu verbessern und so lange wie möglich selbstständig zu bleiben. Dazu gehören:
- Regelmäßige Bewegung und Sport: Körperliche Aktivität hat positive Auswirkungen auf das Nerven- und Immunsystem und kann helfen, die Symptome zu lindern.
- Gesunde Ernährung: Achten Sie auf eine ausgewogene und gesunde Ernährung mit viel Vitamin D.
- Soziale Kontakte: Pflegen Sie Ihre sozialen Kontakte und tauschen Sie sich mit anderen Betroffenen aus.
- Psychologische Unterstützung: Bei Bedarf kann eine psychologische Beratung oder Therapie helfen, mit den Belastungen der MS umzugehen.
- Anpassung des Wohnumfelds: Um so lange wie möglich selbstständig zu bleiben, können Sie Ihr Zuhause barrierearm umbauen und erhalten dafür, wenn Sie einen Pflegegrad haben, Zuschüsse von der Pflegekasse.
Es gibt viele Selbsthilfegruppen für Menschen, die an Multipler Sklerose erkrankt sind. Die Gruppen geben den Betroffenen Halt und ermöglichen den Austausch untereinander.