Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die in Deutschland schätzungsweise 280.000 Menschen betrifft. Weltweit sind es etwa 2,8 Millionen. Die Krankheit führt zu Störungen der Bewegungen, der Sinnesempfindungen und kann auch Sinnesorgane beeinträchtigen. Obwohl MS nicht heilbar ist, gibt es stetige Fortschritte in der Forschung und Therapie. Eine Behandlungsoption, die zunehmend in den Fokus rückt, ist die Stammzelltherapie.
Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinscheiden angreift, die die Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark umhüllen. Diese Schädigung beeinträchtigt die Reizweiterleitung der Nerven, was zu vielfältigen Symptomen wie Sensibilitätsstörungen, Sehstörungen, Gangunsicherheit und Lähmungen führen kann. Die Ursachen von MS sind noch nicht vollständig geklärt, obwohl eine genetische Veranlagung und Umweltfaktoren wie Infektionen in der Kindheit eine Rolle spielen könnten.
Die Rolle der Stammzelltherapie
Die Stammzelltherapie zielt darauf ab, das Immunsystem neu zu starten oder zu "resetten", um die fehlgeleitete Immunantwort bei MS zu stoppen. Es gibt verschiedene Arten von Stammzelltransplantationen, die bei MS untersucht werden:
- Hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSZT): Hierbei werden Stammzellen aus dem Knochenmark verwendet, um das Immunsystem zu beeinflussen.
- Mesenchymale Stammzelltransplantation: Auch hier werden Stammzellen aus dem Knochenmark verwendet, um das Immunsystem zu beeinflussen.
- Neuronale Stammzelltransplantation: Diese zielt darauf ab, beschädigte Nervenzellen im Nervensystem zu reparieren.
Die am häufigsten untersuchte und angewandte Form der Stammzelltherapie bei MS ist die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation (aHSZT).
Autologe Hämatopoetische Stammzelltransplantation (aHSZT)
Die aHSZT ist ein Verfahren, bei dem das Immunsystem des Patienten "neu gestartet" wird. Dabei werden zunächst die eigenen Stammzellen des Patienten gesammelt und eingefroren. Anschließend wird das Immunsystem durch eine Chemotherapie weitgehend zerstört. Nach der Chemotherapie werden die zuvor entnommenen Stammzellen zurückgegeben, um den Wiederaufbau des Immunsystems zu ermöglichen. Die Stammzellen selbst sind nicht die eigentliche Therapie, sondern helfen dem Körper, die aggressive Chemotherapie zu überleben.
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Ablauf der aHSZT
- Mobilisation: Stammzellen werden durch eine niedrig dosierte Chemotherapie und einen Wachstumsfaktor aus dem Knochenmark ins Blut mobilisiert.
- Leukapherese: Die Stammzellen werden aus dem Blut gesammelt und eingefroren.
- Konditionierung: Der Patient erhält eine hochdosierte Chemotherapie, um das Immunsystem zu zerstören.
- Transplantation: Die aufgetauten Stammzellen werden dem Patienten über eine Vene zurückgegeben.
- Nachsorge: In den ersten 100 Tagen nach der Transplantation ist das Infektionsrisiko erhöht. Das Immunsystem wird überwacht und es werden vorbeugende Medikamente gegen Infektionen verabreicht.
Unterschiede in den aHSZT-Verfahren
Es gibt verschiedene Varianten der aHSZT, die sich in der Art und Intensität der verwendeten Chemotherapie unterscheiden.
- BEAM-Schema: Ein älteres Verfahren, bei dem mehrere Chemotherapeutika eingesetzt werden.
- Endoxan-Schema: Ein weniger aggressives Verfahren, bei dem nur Cyclophosphamid (Endoxan) verwendet wird.
- "Light"-Version: Eine noch mildere Form der Stammzelltransplantation, bei der eine geringere Dosis Endoxan verwendet wird und auf einen Antikörper verzichtet wird.
Wirksamkeit der aHSZT
Die aHSZT ist noch keine etablierte Standardtherapie bei MS, wird aber seit den 1990er Jahren intensiv erforscht. Studien haben gezeigt, dass die aHSZT bei hochaktiver schubförmiger MS besonders wirksam sein kann, insbesondere bei Patienten, die jung sind und noch keine fortgeschrittene Behinderung haben.
Eine Studie zeigte, dass 60 % der Patienten in der Kontrollgruppe mit einer zugelassenen MS-Therapie eine Zunahme der Beeinträchtigung zeigten, gegenüber 6 % in der Gruppe mit aHSZT.
Daten aus verschiedenen Studien mit über 1.500 Patienten zeigen, dass 74 % der Patienten nach aHSZT über zwei Jahre keine Zunahme der Beeinträchtigung aufwiesen. Die NEDA-Raten (No Evidence of Disease Activity) liegen bei aHSZT-Studien bei bis zu 90 %, während sie bei den stärksten zugelassenen MS-Therapien bei 50 % nach zwei Jahren liegen.
Risiken der aHSZT
Die aHSZT ist ein komplexes Verfahren, das mit Risiken verbunden ist. Es ist wichtig, zwischen kurzfristigen und langfristigen Risiken zu unterscheiden.
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Kurzfristige Risiken (innerhalb von 100 Tagen nach der aHSZT):
- Allergische Reaktionen auf die verwendeten Medikamente
- Fieber
- Schleimhautentzündungen
- Infektionen (können in seltenen Fällen lebensbedrohlich sein)
- Sterblichkeit (in den letzten 10 Jahren bei etwa 0,2 %)
Langfristige Risiken:
- Schädigung der Fruchtbarkeit bei Frauen und Männern
- Zweitautoimmunerkrankungen (z.B. Schilddrüsenentzündung, entzündliche Darmerkrankungen)
- Erhöhtes Krebserkrankungsrisiko
aHSZT bei progredienter MS
Die Wirksamkeit der aHSZT bei progredienter MS ist noch nicht ausreichend belegt. Einige Daten deuten darauf hin, dass Patienten mit sekundär progredienter MS (SPMS) unter bestimmten Bedingungen noch einen Nutzen haben können, insbesondere wenn sie noch Schübe oder entzündliche MRT-Aktivität aufweisen. Bei primär progredienter MS (PPMS) liegen noch keine ausreichenden Studiendaten vor.
Kostenübernahme und Beratung
Die Kosten für eine aHSZT belaufen sich je nach Klinik auf 50.000 bis 75.000 Euro. Die Kostenübernahme durch die Krankenkasse ist in Deutschland oft schwierig und muss im Einzelfall beantragt werden. Betroffene und Ärzte müssen oft für eine ausdrückliche Zustimmung zur aHSZT kämpfen.
Alle MS-Zentren in Deutschland können zu aHSZT beraten. Umfangreichere Erfahrungen gibt es vor allem in Hamburg und Heidelberg.
Aktuelle Entwicklungen und Empfehlungen
Die Task Force Autologe Stammzelltransplantation (AHSZT) hat die deutschen Empfehlungen zum Einsatz der AHSZT bei Multipler Sklerose (MS) aktualisiert. Die Empfehlung aus der Neufassung der MS-Therapieleitlinie (2025) wird aufgegriffen, die bei Krankheitsdurchbruch unter hoch wirksamen zugelassenen Medikamenten eine AHSZT als Option erstmals mit der Klassifikation als „kann erwogen werden“ nennt.
Fallbeispiel Stephan F.
Ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz der Stammzelltherapie ist der Fall von Stephan F., der seit fast 17 Jahren an MS leidet. Nachdem Standardbehandlungen keine Wirkung zeigten, erstritt der VdK Mecklenburg-Vorpommern für sein Mitglied eine Stammzelltherapie. Das Sozialgericht Schwerin entschied, dass die Krankenkasse die Kosten für die Therapie übernehmen muss. Stephan F. konnte sich im Herbst vergangenen Jahres der Stammzelltherapie unterziehen und erholt sich langsam von der Behandlung.
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