Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die Myelinscheide der Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark angreift. Dies führt zu einer Vielzahl von Symptomen, darunter Lähmungen, Schmerzen und Erschöpfung. Glücklicherweise hat es in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte bei der Behandlung von MS gegeben. Eine vielversprechende Therapieoption ist die autologe hämatopoietische Stammzelltransplantation (AHSZT).
Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. In Deutschland sind schätzungsweise 280.000 Menschen an MS erkrankt. Bei MS greift das Immunsystem fälschlicherweise die eigenen Nervenzellen an, was zu Entzündungsreaktionen und Schädigungen der Nervenfasern führt. Die Reizweiterleitung der Nerven ist beeinträchtigt. Die Ursache dieser Autoimmunreaktion ist bis heute nicht vollständig geklärt.
Die Symptome der MS sind vielfältig und können von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Häufige Symptome sind:
- Störungen der Bewegungen
- Sensibilitätsstörungen
- Beeinträchtigung von Sinnesorganen
- Erschöpfung (Fatigue)
- Schmerzen
- Kognitive Beeinträchtigungen
Die häufigste Form der MS ist die schubförmig remittierende MS (RRMS). Bei dieser Form treten die Symptome in Schüben auf, gefolgt von Phasen der teilweisen oder vollständigen Erholung. Im Laufe der Zeit kann die RRMS in eine sekundär progrediente MS (SPMS) übergehen, bei der die Symptome kontinuierlich fortschreiten.
Stammzelltransplantation als Therapieoption
Die Stammzelltransplantation (SZT) ist ein Verfahren, das in der Behandlung von MS zunehmend an Bedeutung gewinnt. Es gibt verschiedene Arten von SZT, die bei MS in Betracht gezogen werden können:
Lesen Sie auch: MS-Medikamente im Detail erklärt
- Autologe hämatopoietische Stammzelltransplantation (AHSZT): Hierbei werden die eigenen Blutstammzellen des Patienten verwendet.
- Allogene Stammzelltransplantation: Hierbei werden Stammzellen von einem Knochenmarkspender eingesetzt. Diese Therapie wird vor allem bei Blutkrebserkrankungen eingesetzt und ist sehr nebenwirkungsreich. Deshalb wird sie bei MS nicht angewandt.
- Neuronale Stammzelltransplantation: Hierbei werden Nervenstammzellen eingesetzt, um eine Reparatur im Nervensystem zu ermöglichen.
Die AHSZT ist die am besten untersuchte und am häufigsten angewandte Form der SZT bei MS.
Autologe hämatopoietische Stammzelltransplantation (AHSZT)
Die AHSZT zielt darauf ab, das Immunsystem des Patienten neu zu starten ("Reset"). Dabei werden weitgehend alle Immunzellen zerstört und das Immunsystem anschließend neu aufgebaut. Die AHSZT kann keine Zellen im Nervensystem ersetzen oder reparieren. Es handelt sich um eine der stärksten Immuntherapien, die bei der Behandlung der MS durchgeführt werden kann.
Die Stammzellen sind nicht die eigentliche Therapie, sondern verhindern durch den Neuaufbau des Immunsystems, dass man an der Therapie stirbt. Um diesen "Reset" oder Neustart des Immunsystems zu erreichen, werden verschiedene Substanzen eingesetzt, vor allem das Zytostatikum Cyclophosphamid (Chemotherapie) sowie ein Antikörper, der gezielt Immunzellen zerstört. Vor der Chemotherapie und AHSZT müssen zunächst die eigenen Stammzellen des Patienten gesammelt werden, um sie nach der Chemotherapie zurückzugeben, damit neue Blutzellen und Immunzellen gebildet werden können.
Ablauf der AHSZT
Die AHSZT umfasst in der Regel drei Phasen:
- Mobilisation: Zunächst werden die Stammzellen stimuliert, um aus dem Knochenmark ins Blut zu wandern. Dies geschieht durch den Einsatz einer gering dosierten Chemotherapie plus eines Wachstumsfaktors. Danach wird regelmäßig im Blut nachgesehen, ob Stammzellen vorhanden sind. Sollten genug nachweisbar sein, erfolgt nach 7 - 10 Tagen eine sogenannte Leukapherese. Dieses Verfahren ist ähnlich wie eine Blutwäsche bei Nierenkranken: Über eine Maschine werden die Stammzellen aus dem Blut gesammelt, alle anderen Blutbestandteile fließen in den Körper zurück. Im Anschluss werden die Stammzellen eingefroren.
- Konditionierung und Transplantation: Zur eigentlichen Transplantation kommt der Patient auf eine Transplantationsstation. Zu Beginn erfolgt eine Hochdosis-Chemotherapie in Kombination mit einem Antikörper, die Konditionierung genannt wird und ca. vier Tage dauert. Zum Ende der Chemotherapie werden die aufgetauten Stammzellen über eine Vene wie eine Blutkonserve zurückgegeben (das ist die eigentliche Transplantation). Die Zellen wandern wieder ins Knochenmark und siedeln sich dort an. Bis die Stammzellen neue reife Blutzellen in ausreichender Menge produzieren, vergehen in der Regel ca. 10 Tage, während derer der Patient sehr wenige weiße und rote Blutkörperchen bzw. Blutplättchen hat. In dieser Phase besteht eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen, weshalb Kontakte mit anderen Menschen eingeschränkt werden müssen. Diese Zeit müssen die Patienten im Einzelzimmer der Transplantationsstation verbringen. Es kann auch sein, dass Blutkonserven oder Blutplättchen gegeben werden müssen, weil auch die Bildung roter Blutkörperchen erst wieder in Gang kommen muss. Sobald sich die Zahl der weißen Blutzellen ausreichend erholt hat, ist eine Entlassung aus dem Krankenhaus möglich.
- Nachsorge: Die ersten 100 Tage, also gut drei Monate nach der Transplantation besteht weiterhin eine erhöhte Infektgefahr. Hier erfolgt die Nachsorge durch Überwachung des Immunsystems und vorübergehende weitere Gabe von vorbeugenden Medikamenten gegen Infektionen. Die Betreuung sollte von einem mit Transplantationen erfahrenen Arzt erfolgen. Man sollte größere Menschenansammlungen meiden. Es ist aber keine Isolation erforderlich und man kann auch mit seinen evtl. kleinen Kindern zusammen sein, auch wenn hier ein Risiko für Infekte besteht. Eine Gabe von Antibiotika und einem Medikament gegen Viruserkrankungen schützt in dieser Zeit. Man geht davon aus, dass das Immunsystem erst ein Jahr nach der Transplantation wieder im Wesentlichen normal funktioniert.
Unterschiede in den AHSZT-Verfahren
Früher wurde die AHSZT bei MS mit mehreren Chemotherapeutika durchgeführt, nach dem so genannten „BEAM“-Schema (bestehend aus BCNU (Carmustin), Etoposid, Ara-C (Cytarabin) und Melphalan). In den letzten fünf Jahren hat sich nach der „MIST“-Studie von Richard Burt aus Chicago zunehmend ein weniger aggressives Chemotherapiekonzept etabliert; die Konditionierung erfolgt hierbei nur mit Endoxan (Cyclophosphamid). Dieses Verfahren wird in den meisten aktuellen Untersuchungen und Therapien eingesetzt.
Lesen Sie auch: Wie man MS vorbeugen kann
Es gibt aber noch eine mildere Stammzelltransplantation, die man als die „Light“-Version bezeichnen kann. Dieses noch besser verträgliche Verfahren kommt vor allem in den Zentren in Moskau und Mexiko zum Einsatz. Die Endoxandosis ist hierbei geringer, ein Antikörper wird nicht gegeben. Allerdings gibt es nur wenig Daten zur Wirksamkeit. Möglicherweise ist die „Light“-Version nicht stark genug.
Wirksamkeit der AHSZT
Die AHSZT ist bis heute keine fest etablierte Therapie bei MS. Eine Behandlung in Deutschland ist bislang nur als Heilversuch im Einzelfall möglich. Allerdings wird die AHSZT seit den 1990er Jahren vor allem in sogenannten Kohorten untersucht. Da es zu diesen Kohorten keine Kontrollgruppen mit anderen Therapien gibt, kann man den Nutzen einer Behandlung nicht so sicher abschätzen, wie in einer sogenannten randomisierten (zufallsverteilt), kontrollierten (mit Kontrollgruppe) Studie.
Bis dato liegen erst zwei randomisierte kontrollierte Studien zur Stammzelltransplantation bei MS vor. Eine erste italienische Studie untersuchte 21 Patienten. Diese zeigte weniger Kernspinaktivität unter AHSZT gegenüber einer Mitoxantrontherapie nach vier Jahren. In einer zweiten amerikanischen Studie mit 110 Patienten, die zwei Jahre lang untersucht wurden, zeigten 60 % der Patienten (also fast 2/3) in der Kontrollgruppe mit einer zugelassenen MS-Therapie eine Zunahme der Beeinträchtigung, gegenüber 6 % in der Gruppe mit AHSZT. Zusätzlich zeigte sich im Durchschnitt sogar eine Abnahme der Beeinträchtigung in der AHSZT-Gruppe.
Im Jahr 2020 wurden die Daten aus allen verfügbaren Studien mit gut 1.500 Patienten nach AHSZT ausgewertet, wobei die meisten Studien Kohortenstudien waren. Ohne Zunahme der Beeinträchtigung blieben über zwei Jahre 74 % (also 3/4) der Patienten. Dabei ergaben sich bei schubförmiger MS 81 %, bei primär progredienter MS 78 % und bei sekundär progredienter MS 60 %. Zusätzlich wurden die sogenannten NEDA-Raten untersucht. NEDA (No Evidence of Disease Activity) bedeutet „kein Auftreten von Schüben, kein Fortschreiten der Behinderung und keine Krankheitsaktivität im Kernspintomogramm (MRT)“. Die NEDA-Raten liegen bei AHSZT-Studien bei bis zu 90 %, bei den stärksten zugelassenen MS-Therapien bei 50 % nach zwei Jahren. Ein deutlicher Unterschied besteht auch nach fünf Jahren. Aber die NEDA-Raten liegen dann bei nur noch 50 %. Allerdings ist der Vergleich problematisch, weil die großen Medikamentenzulassungsstudien (oft bis zu 1.000 Patienten) nicht gut mit den kleineren Kohortenstudien zur AHSZT (meist weniger als 100 Patienten) vergleichbar sind.
Eine Studie des Universitätsspitals Zürich zeigte, dass 80 % der mit einer hämatologischen Stammzelltransplantation Behandelten lange Zeit oder möglicherweise sogar für immer krankheitsfrei bleiben.
Lesen Sie auch: MS und Rückenschmerzen: Ein Überblick
Wer kann von einer AHSZT profitieren?
Der größte Effekt konnte bei hoch aktiver schubförmiger MS dokumentiert werden, bei der viele Schübe und Kernspinaktivität vorliegen, die Beeinträchtigung noch nicht zu weit fortgeschritten ist und/oder auch die Patienten noch nicht lange eine MS haben und jung sind.
AHSZT bei progredienter MS
Dies ist eine der wichtigsten ungeklärten Fragen. Nach den Daten von Richard Burt, Chicago haben auch Betroffene mit sekundär progredienter MS (SPMS) unter bestimmten Bedingungen noch einen Nutzen, vor allem wenn sie noch Schübe oder entzündliche MRT-Aktivität haben. Eine italienische Arbeitsgruppe hat die AHSZT mit einer wiederholten Endoxantherapie verglichen und keine überzeugenden Nutzen bei SPMS zeigen können. Zur primär progredienten MS liegen keine längeren Studiendaten vor. Aus Mexiko gibt es Daten, die über einen Zeitraum von einem Jahr gemacht wurden. Das reicht nicht für eine Beurteilung. Insgesamt sind mehr Therapieerfahrungen nötig, um eine klare Empfehlung geben zu können. Bei Krankheitsdauer > 15 Jahre, Alter > 50, unter 100 m Gehstrecke ist eine AHSZT hochwahrscheinlich nicht mehr hilfreich.
Risiken und Nebenwirkungen der AHSZT
Wie bei jeder intensiven medizinischen Behandlung birgt auch die AHSZT Risiken und Nebenwirkungen. Diese können in kurzfristige und langfristige Komplikationen unterteilt werden.
Kurzfristige Risiken
Kurzfristig bestehen häufige Risiken wie vor allem allergische Reaktionen auf die verwendeten Medikamente, Fieber, Schleimhautentzündungen und Infektionen. Diese können bei bis zu 70 % auftreten und sind fast immer gut behandelbar. Es kommen aber auch schwere Infektionen vor. Sehr selten können diese kurzfristigen Komplikationen unbeherrschbar werden und sogar zum Tod führen. In einer Auswertung von gut 1.500 Patienten aus verschiedenen Studien seit 1990 findet sich insgesamt eine Sterblichkeit direkt durch die AHSZT von 1 %. In den letzten 10 Jahren liegt das Risiko eher bei 0,2 %, also 2 auf 1000. Das Risiko ist höher bei älteren, schwer beeinträchtigten Patienten.
Langfristige Risiken
Langfristige Risiken können die Schädigung der Fruchtbarkeit bei Frauen und Männern sein. Je älter die Frauen sind, desto größer ist das Risiko, dass die Menstruation auch langfristig ausbleibt und es frühzeitig zur Menopause kommt. Deshalb sollten, wenn die Familienplanung noch nicht abgeschlossen ist, Eizellen bzw. Samenzellen vor der AHSZT gesammelt und eingefroren werden (eine Beratung bei einem Kinderwunschzentrum ist empfehlenswert).
Späte Risiken sind sogenannte Zweitautoimmunerkrankungen, wie eine Schilddrüsenentzündung, entzündliche Darmerkrankungen oder auch Schädigungen im Gerinnungssystem. Rechtzeitig erkannt, können diese Erkrankungen alle gut behandelt werden. Diese können bei bis zu 5 % auftreten. Auch von einem erhöhten Krebserkrankungsrisiko muss ausgegangen werden: Ca. 3 % der Transplantierten entwickeln bösartige Tumore.
AHSZT in Deutschland
Deutschland bildete in Europa lange Zeit das Schlusslicht im Bereich der AHSZT. Die meisten Erfahrungen gibt es in Hamburg und Heidelberg. Im krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose, kurz KKNMS, besteht seit 2022 eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema, die Empfehlungen für Deutschland herausgegeben hat. Darüber hinaus sammelt diese Arbeitsgruppe in einem speziellen Modul des deutschen MS-Registers alle Patienten, die sich haben transplantieren lassen. Aktuell geht man von ca. 120 Patienten aus Deutschland aus.
Kostenübernahme
Eine Kostenübernahme muss bei der Krankenkasse beantragt werden. Oft verweisen die Kostenträger auf die formal rechtlich nicht notwendige Genehmigung von Behandlungen im Krankenhaus. Betroffene und Ärzte müssen für eine ausdrückliche Zustimmung zur AHSZT oft kämpfen. Wenn die Krankenkasse dies nach Rücksprachen mit dem medizinischen Dienst mit bis zu drei Monaten Bearbeitungszeit ablehnt, kann ein Widerspruch erfolgen.
Bei weiterer Ablehnung muss entschieden werden, ob der Betroffene den Rechtsweg einschlägt. Wenn dokumentiert ein Versagen einer Therapie mit Kategorie-3-Medikamenten (z.B. Ocrelizumab) vorliegt und die Gehstrecke noch 100 m oder besser ist, sind die Chancen vor dem Sozialgericht nicht schlecht. Alternativ bleibt die Finanzierung mit eigenen Mitteln oder Spenden. Die Kosten belaufen sich je nach Klinik auf 50.000 bis 75.000 Euro.
Beratung zur AHSZT
Alle MS-Zentren in Deutschland haben sich mit der Datenlage zur AHSZT auseinandergesetzt und können dazu beraten. Umfangreichere Erfahrungen gibt es vor allem in Hamburg oder Heidelberg.
Praktische Vorstellung der AHSZT
Wenn die Kostenübernahme vorliegt, sollte zuerst die Samen- oder Eizellkonservierung geplant werden. Es folgt eine Ausgangsuntersuchung mit neurologischer Untersuchung, MRT, idealerweise neuropsychologischer Diagnostik und verschiedenen klinischen Tests. Der nächste Schritt ist die Mobilisation, bei der meist ein kurzer Klinikaufenthalt von 2 bis 3 Tagen notwendig wird. Nach Entlassung müssen sich Betroffene für einige Tage einen Wachstumsfaktor subkutan spritzen. Manchmal tritt in dieser Zeit bedingt durch die Chemotherapie eine vorübergehende Besserung von MS-Beschwerden auf. 10 Tage später erfolgt, meist wieder über 1 - 2 Tage Klinikaufenthalt, eine Absammlung der Stammzellen.
Innerhalb von 3 bis 6 Wochen, manchmal auch später, sollte die Transplantation erfolgen (mit stationärem Aufenthalt von ca. drei Wochen). Dabei ist der Betroffene ca. eine Woche isoliert in seinem Zimmer und darf nur mit Hygieneschutz besucht werden. Nach Entlassung ist das Immunsystem grundsätzlich wieder funktionsfähig. In den ersten drei Monaten sollte eine engmaschige Überwachung erfolgen, am besten bei einem Hämato-Onkologen. In dieser Zeit erhält man weitere Medikamente zur Verhinderung von Infektionen. Kontakt mit größeren Menschenmengen müssen vermieden werden. Aber ein normales Familienleben und auch Besuche von Freunden sind möglich.
tags: #multiple #sklerose #stammzelltransplantation #informationen