Multiple Sklerose und Krebsrisiko: Eine differenzierte Betrachtung

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Multipler Sklerose (MS) und dem Krebsrisiko ist komplex und Gegenstand aktueller Forschung. Während einige Studien ein leicht erhöhtes Risiko für bestimmte Krebsarten im Zusammenhang mit MS-Therapien nahelegen, zeigen andere Untersuchungen sogar ein geringeres allgemeines Krebsrisiko bei MS-Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Es ist wichtig, diese Ergebnisse differenziert zu betrachten und sowohl die potenziellen Risiken als auch die Vorteile verschiedener Therapieansätze abzuwägen.

Mitoxantron und erhöhtes Darmkrebsrisiko

Eine Studie von Forschern des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) untersuchte retrospektiv 676 MS-Patienten, die zwischen 1994 und 2007 mit Mitoxantron behandelt wurden. Mitoxantron wird bei aggressiven Formen der schubförmigen oder chronisch-voranschreitenden MS eingesetzt, wenn andere Medikamente nicht wirken. Frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass Mitoxantron das Risiko für Leukämie und Herzschäden erhöhen kann.

Die UKW-Studie ergab, dass das Gesamtkrebsrisiko nach Mitoxantron-Gabe geringfügig erhöht war (Faktor 1,5). Von den 676 Patienten entwickelten 37 ein Krebsleiden, darunter Brustkrebs, Darmkrebs und Leukämie. Die Neuerkrankungsrate an Leukämie war um das Zehnfache, an Darmkrebs um das Dreifache erhöht, während das Brustkrebsrisiko nicht erhöht war.

Studienleiter Dr. Mathias Buttmann betonte, dass das Gesamtrisiko, an Krebs zu erkranken, trotz des erhöhten Risikos für akute myeloische Leukämie und Darmkrebs gering genug sei, um das Medikament weiterhin bei schwer betroffenen MS-Patienten einzusetzen, wenn keine andere Behandlung verfügbar ist. Er wies darauf hin, dass die Risiken des Medikaments in jedem Einzelfall sorgfältig gegen den erwarteten Nutzen abgewogen werden müssen.

Die UKW-Forscher untersuchten auch Faktoren wie die erhaltene Gesamtdosis und die Einnahme weiterer immunsupprimierender Medikamente, die das Krebsrisiko hätten erhöhen können. Buttmann betonte, dass das Gesamtkrebsrisiko nach Mitoxantrongabe über den untersuchten Zeitraum nur gering erhöht sei und dass unabhängige Bestätigungen dieser Ergebnisse erforderlich seien, bevor praktische Rückschlüsse gezogen werden können. Sollten sich die Ergebnisse in Folgestudien bestätigen, könnten Vorsorgeuntersuchungen wie Koloskopien nach der Medikamentengabe sinnvoll sein, um Darmkrebs frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.

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Geringeres Krebsrisiko bei MS-Patienten?

Im Gegensatz zu den Ergebnissen der Mitoxantron-Studie kamen Forscher der Universität von British Columbia zu dem Ergebnis, dass MS-Patienten seltener an Krebs erkranken als Nicht-Betroffene. Diese Beobachtung galt für das allgemeine Krebsrisiko, insbesondere aber für Darmkrebs. In einer groß angelegten Kohortenstudie verglichen die kanadischen Forscher Daten von MS-Patienten mit Daten aus der nicht erkrankten Bevölkerung.

Allerdings zeigten die Ergebnisse auch, dass das Risiko für Gehirn- und Blasenkrebs bei MS-Betroffenen leicht erhöht war. Patienten mit schubförmiger MS hatten zudem ein signifikant erhöhtes Risiko für weißen Hautkrebs. Auffällig war auch, dass die Tumore bei der Diagnosestellung unter MS-Betroffenen größer waren als in der Vergleichsgruppe, was möglicherweise auf eine Maskierung durch MS-Symptome wie Fatigue zurückzuführen ist.

Die Forscher betonten, dass der Zusammenhang zwischen MS und dem geringeren Krebsrisiko noch erforscht werden muss. Es ist unklar, ob die MS selbst ursächlich für das geringere Risiko ist oder ob es auf eine gesündere und bewusstere Lebensgestaltung von MS-Patienten zurückzuführen ist. Unabhängig davon sollten MS-Patienten weiterhin Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen, da die MS nicht vor anderen Erkrankungen schützt.

Aktuelle Forschung und moderne MS-Therapien

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) betont, dass die Auswirkungen der MS-Behandlung auf das Risiko für weitere Erkrankungen wie Krebs immer wieder genau untersucht werden. Frühere Studien gaben hierzu bereits Entwarnung. Es stellt sich die Frage, wie sich die aktuelle Situation von Patienten mit den neueren, krankheitsmodifizierenden Medikamenten darstellt.

Viele frühere Studien zeigten insgesamt ein niedrigeres Krebsrisiko bei MS-Patienten und keinen Einfluss der langfristigen Behandlung mit immunmodulierenden Medikamenten. In manchen Studien deutete sich jedoch ein erhöhtes Krebsrisiko von MS-Patienten unter immunsuppressiver Therapie an.

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Eine finnische Studie untersuchte das Krebsrisiko bei MS-Patienten in den Jahren 1964 bis 1993 bzw. bis 1999. Dazu wurden Patienten mit MS, mit und ohne zusätzlicher Krebserkrankung, aus Krankenhaus-Verwaltungsdaten zwischen Anfang 2004 und Ende 2012 identifiziert. Die Forscher verglichen die Häufigkeit der Krebserkrankungen mit den Erwartungen in einer Kontrollgruppe ohne MS.

Die Ergebnisse zeigten, dass das Gesamtrisiko für Krebserkrankungen bei MS-Patienten nicht das der Kontrollgruppe überstieg. Mit Blick auf einzelne Krebsdiagnosen wurde Brustkrebs gezielt betrachtet. Das Alter der MS-Patienten war zum Zeitpunkt der Brustkrebsdiagnose statistisch signifikant höher als in der Kontrollgruppe. Das Risiko, diese Erkrankung zu entwickeln, unterschied sich dagegen nicht zwischen MS-Patienten und Kontrollen.

Allgemein unterschied sich demnach das Krebsrisiko bei MS-Therapie nicht von dem bei Kontrollpersonen. Allerdings waren MS-Patienten deutlich älter zum Zeitpunkt einer Brustkrebsdiagnose als Menschen ohne MS.

Immunologische Zusammenhänge und neue Therapieansätze

Autoimmunerkrankungen wie MS können das Krebsrisiko erhöhen. Französische Forscher bemängelten an bisherigen Studien, dass keine Daten zu Alkohol- und Tabakkonsum gesammelt wurden, die das Krebsrisiko beeinflussen können. Sie führten eine neue Studie mit 1107 MS-Patienten und 1568 Kontrollpersonen durch, bei der diese Faktoren berücksichtigt wurden.

Die Ergebnisse zeigten, dass 7,32 % der MS-Patienten und 12,36 % der Kontrollgruppe eine Krebserkrankung durchgemacht hatten. Die Auswertung ergab ein vermindertes allgemeines Krebsrisiko für MS-Patienten im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Forscher vermuten, dass dies mit einem gesünderen Lebensstil zusammenhängen könnte.

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Die Immuntherapie mit Checkpointblockern bei Krebserkrankungen kann Autoimmunerkrankungen wie MS verstärken. Eine Studie untersuchte die Daten von MS-Patienten, die wegen einer Krebserkrankung mit Immuncheckpointblockern behandelt wurden. Ein neuerlicher MS-Schub infolge der Immuntherapie war ein seltenes Ereignis.

Obwohl MS und maligne Erkrankungen sich grundlegend in ihrer Pathophysiologie unterscheiden, eröffnen immuntherapeutische Strategien in beiden Indikationsbereichen neue Behandlungsoptionen. Während Immun-Checkpoint-Inhibitoren in der Onkologie das Immunsystem gezielt aktivieren, können sie autoimmunologische Prozesse auslösen oder bestehende Autoimmunerkrankungen verschärfen. Umgekehrt stehen einige MS-Therapien im Verdacht, das Krebsrisiko ungünstig zu beeinflussen.

Moderne Therapiekonzepte und Tumorrisiko

Die MS ist eine chronisch-entzündliche, immunvermittelte Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Immunsuppressive Ansätze spielen eine zentrale Rolle in der MS-Therapie. Das therapeutische Spektrum reicht von immunregulatorisch wirkenden Substanzen und Antimetaboliten bis hin zu modernen Biologika wie monoklonalen Antikörpern. Trotz nachgewiesener Effektivität hinsichtlich Schubreduktion und Verlangsamung der Krankheitsprogression sind mit der oft anhaltenden Immunsuppression auch Sicherheitsbedenken wie Infektionen und mögliche maligne Erkrankungen verbunden.

Mehrere Studien haben das Malignomrisiko bei MS-Patienten in der Ära der neuen Immuntherapien untersucht. Eine 10-jährige landesweite retrospektive Kohortenstudie analysierte das Krebsrisiko bei 140.649 MS-Patienten im Vergleich zu 562.596 gematchten Kontrollpersonen. Die Ergebnisse zeigten zwar ein leicht erhöhtes Gesamtkrebsrisiko bei MS-Patienten, insbesondere bei Frauen. Das Krebsrisiko variierte dabei mit dem Alter: Es war bei MS-Patienten unter 55 Jahren erhöht und bei Patienten über 65 Jahren reduziert. Allerdings nahmen MS-Patienten seltener an Krebsfrüherkennungsprogrammen teil, insbesondere in höheren Altersgruppen. Die Autoren vermuten, dass das leicht erhöhte Krebsrisiko bei MS-Patienten teilweise auf einen Überwachungsbias zurückzuführen sein könnte.

Mit Blick auf die eher hochpotenten Wirkansätze sind die bisherigen Daten eher beruhigend. S1P-Rezeptor-Modulatoren wie Fingolimod und neuere Vertreter zeigen Hinweise auf ein leicht erhöhtes Risiko für Hauttumoren, insbesondere Basalzellkarzinome. Für Cladribin wurde ein initial diskutiertes erhöhtes Malignitätsrisiko durch Langzeitdaten relativiert. Die unter B-Zell depletierenden Antikörper diskutierte erhöhte Gefahr für Mammakarzinome konnte in gepoolten Analysen nicht bestätigt werden. Auch für Natalizumab konnte bislang kein erhöhtes Tumorrisiko nachgewiesen werden.

Zusammenfassend liegen derzeit weder Hinweise vor, dass die Diagnose MS als solche mit einem erhöhten Tumorrisiko assoziiert ist, noch gibt es einheitliche Analysen, die auf ein substanziell erhöhtes onkologisches Risiko unter Immuntherapien hindeuten, wobei spezifische Substanzen gezieltes Monitoring erfordern.

Checkpoint-Inhibitoren und Schubrisiko

Die Einführung von Immun-Checkpoint-Inhibitoren (ICI) hat die onkologische Therapie revolutioniert. Diese Medikamente blockieren Signalwege, die den Tumor vor der Erkennung und Zerstörung durch das patienteneigene Immunsystem schützen. Mit dem weit verbreiteten Einsatz rücken die immunvermittelten Nebenwirkungen (irAEs) stärker in den Fokus. Die Sorge vor irAEs hat im klinischen Alltag dazu geführt, dass insbesondere bei bekannter Autoimmunerkrankung wie der MS solche Therapien eher zurückhaltend angewendet wurden.

Interessanterweise zeigen neueste Studien, dass diese Sorge vor einer Verstärkung der zugrunde liegenden Aktivität der MS unter ICI nicht gerechtfertigt ist. Im Gegensatz dazu scheinen bei Autoimmunerkrankungen, die periphere neuromuskuläre Strukturen betreffen, ICI eher zu einer deutlichen Krankheitsprogression zu führen.

Tumortherapie als Vorbild für die MS-Behandlung

Die langjährige erfolgreiche Nutzung von Immuntherapien in der Onkologie hat maßgeblich dazu beigetragen, ähnliche Wirkmechanismen auch für die Behandlung der MS zu adaptieren und weiterzuentwickeln. Während sich die MS-Therapie lange auf breitere Immunsuppression mit nur mäßigem Erfolg konzentrierte, zeigen gezieltere Strategien aus der Tumortherapie großes Potenzial, insbesondere in der B-Zell-Modulation.

CD20-B-Zell-Therapie

CD20-B-Zell-Depletion wurde ursprünglich in der Onkologie zur Behandlung von B-Zell-Lymphomen entwickelt und ist bereits ein etablierter Behandlungsansatz in der MS-Therapie. In der Onkologie werden Anti-CD20-Therapien eingesetzt, um maligne B-Zellen zu depletieren, während bei MS autoreaktive B-Zellen supprimiert werden. Rituximab, Ocrelizumab, Ofatumumab und Ublituximab gehören zur Klasse der Anti-CD20-Antikörper, unterscheiden sich jedoch in Struktur, Epitopbindung und Effektormechanismen, was klinisch relevante Implikationen für ihre Anwendung in der Neurologie und Onkologie hat.

Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren

Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren (BTKi) wurden ursprünglich in der Onkologie zur Behandlung von B-Zell-Malignomen entwickelt und hemmen die Signaltransduktion von B-Zell-Rezeptoren. BTK-Inhibitoren stellen jedoch auch eine neue Klasse oraler Therapeutika in der MS-Forschung dar, die sowohl auf die periphere B-Zell-vermittelte Immunantwort als auch auf zentrale Entzündungsvorgänge im ZNS wirken könnten. Trotz des vielversprechenden Wirkprinzips wurden bei mehreren in der Onkologie angewendeten Wirkstoffen unter anderem Herzrhythmusstörungen berichtet, wogegen bei den in der MS getesteten BTKis eher eine Hepatotoxizität beobachtet wurde, die zu temporären Studienunterbrechungen führte.

CAR-T-Zell-Therapie

Chimäre Antigenrezeptor-T-Zell-Therapien (CAR-T) stellen einen innovativen immuntherapeutischen Ansatz dar, der ursprünglich in der Hämatologie zur gezielten Elimination maligner Zellen entwickelt wurde. Bei dieser Therapie werden patienteneigene T-Zellen gentechnisch so verändert, dass sie auf der Oberfläche einen chimären Antigenrezeptor (CAR) tragen, der spezifisch an ein Zielantigen auf den Krebszellen bindet. Nach der Infusion der CAR-T-Zellen in den Patienten können diese die Krebszellen erkennen und zerstören.

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